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Mensch gegen Raubtier: Entscheidet der Wolf die Niedersachsen-Wahl?

Der Wolf ist zurück, doch um seine Integration wird gestritten. Wieder einmal geht es um Quoten, Obergrenzen – und sogar den Abschuss. Nur, wie sinnvoll ist das?
Ein Wolf schleicht durch eine landwirtschaftlich genutzte Landschaft

Sie kamen unkontrolliert über unsere Grenzen und leben abgeschottet in einer Parallelwelt. Marodierend sollen sie durchs Land ziehen und Existenzen bedrohen. Ja, sie sprechen nicht einmal unsere Sprache. Wobei das kein Wunder ist, schließlich haben diese Einwanderer Fell, Pfoten und Reißzähne: Wölfe! Sie sind nicht nur zurück, nein, sie sind im Rampenlicht. Denn auf dem niedersächsischen Land sind sie derart präsent, dass sie für den Wahlerfolg in der kommenden Landtagswahl zum Zünglein an der Waage werden könnten.

Was Anfang des Jahrtausends bundesweit als Zeichen kraftstrotzender Renaturierung gefeiert wurde, gerät im ländlichen Nordwesten Deutschlands zum Kulturkampf. Weidetierverbände, Jagdgemeinden, ganze Bauernschaften gehen auf die Barrikaden, so dass selbst die Grünen ihre Pfründen schwinden sehen. Und so kündigte die jetzige Koalition aus SPD und ebenjenen Grünen an, komplette Problemrudel zum Abschuss frei zu geben – freilich nach "reiflicher, individueller Prüfung".

Der Abschuss? Es ist kaum 15 Jahre her, dass die ersten Rudel die Oder überquerten, und schon haben einige "die Schnauze voll" vom einst heiß geliebten Spitzenprädator. Was ist da nur los? Dieter Voigt, Vorstandsmitglied des Landes-Schafzuchtverbands Weser-Ems, weiß mehr darüber. Der Deichschäfer aus dem Landkreis Wesermarsch sitzt selbst seit drei Jahren im Arbeitskreis Wolf des Landes Niedersachsen.

Zäune, Hunde, Zonenwölfe

"Der Wolf ist ein Prestigeprojekt mit extremen Konsequenzen für Weidetierhalter. Das Management in Niedersachsen geht vollkommen an der Realität der Landwirtschaft vorbei. Seit ich im Arbeitskreis bin, wurden die wichtigen Probleme nicht gelöst. Stattdessen breitet sich der Wolf aus, und der Druck auf die Schäfer zum Aufgeben erhöht sich", sagt Voigt, dem dutzende Problemfelder einfallen. Eins davon: Zäune, die die Schäfer zum Herdenschutz aufstellen sollen. Dies ist oft nicht umsetzbar, da das Weideland häufig nicht den Schäfern selbst gehört.

Darüber hinaus müssten die Absperrungen in einigen Weideregionen wie dem länglichen Deichgebiet, wo Schafe durch Abgrasen die Wasserschutzwälle stabil halten, dutzende Kilometer lang sein. Zudem halten Zäune Wölfe nur bedingt auf. Die bis zu 1,60 Meter hohen, teils elektrifizierten Absperrungen werden vom schlauen Rudeltier unterbuddelt oder übersprungen. Sobald alle viere in der Luft sind, hat das Tier keinen Erdkontakt mehr, es gibt also auch keinen Spannungsabfall und keinen abschreckenden Stromschlag. Die lerneifrigen Wölfe gucken sich dann den Kniff von ihren Rudelpartnern ab.

Anderes Beispiel: Herdenschutzhunde wie der Pyrenäen-Berghund oder der Maremmano-Abruzzese können bei Wolfsattacken viel zum Schutz der Tiere beitragen, wie unter anderem Studien des Biologen Thomas Gehring an der Central Michigan University belegen. Tatsächlich übernimmt Niedersachsen 80 Prozent der Anschaffungskosten für die Tiere – jedoch erst ab 100 Schafen. "Allerdings können es sich nur wenige Schäfer leisten, Herdenschutzhunde anzuschaffen und zu verpflegen. Pro Hund fallen jährlich Kosten von etwa 1000 Euro an. Ungefähr 80 Prozent aller Herden in der Region gehören aber Teilzeitschäfern, die weniger als 100 Tiere haben", sagt Deichschäfer Voigt. Die Folge: Lediglich 16-mal wurde die Bezuschussung in Niedersachsen bewilligt – seit 2013.

Und dann ist da noch die Sache mit der Aufteilung in wolfsfreie und Wolfsgebiete, an die uneinheitliche Förder- und Kompensationsmaßnahmen bei Wolfsrissen geknüpft sind. Das Wolfsmanagement ist damit im wahrsten Sinn des Wortes Stückwerk. Doch gerade Wölfe sind es, die auf der Suche nach neuen Revieren tausende Kilometer zurücklegen können und denen es dabei ziemlich egal ist, ob ihr Gebiet nun offiziell "wolfsfrei" ist oder nicht.

Es bleibt die Frage: Wie gefährlich sind die Prädatoren für Weidetiere? 2008 kamen niedersächsische Schäfer und Wölfe das erste Mal in Kontakt. Seitdem wurden laut offizieller Statistik 670 Tiere gerissen. Selbst wenn Schäfer eine höhere Dunkelziffer angeben, stehen dagegen mehrere hunderttausend Schafe, Rinder oder Ziegen, die die etwa 100 Wölfe unbehelligt ließen.

Wolf oder Hund? | Meist gilt der Wolf als Täter – aber auch verwilderte Haushunde greifen Schafe an.

Gefährliche Kühe

Doch Meister Isegrims Rückkehr bereitet nicht nur Schäfern Sorgen, sondern löst auch bei anderen Einwohnern auf dem Land rotkäppchenhafte Bedenken aus. Befeuert werden diese durch Berichte über mögliche Wolfsattacken wie neulich in Griechenland. Luigi Boitani, Professor an der Universität La Sapienza in Rom, arbeitet seit Jahrzehnten im Wolfsmanagement und kennt diesen Fall. Sollte es sich da tatsächlich bewahrheiten, wäre das der erste europäische Wolfsangriff auf einen Menschen in diesem Jahrtausend. "In dieser Gegend gibt es aber auch enorm viele verwilderte Straßenhunde. Von daher sollten die finalen DNA-Analysen abgewartet werden", sagt Boitani, der in den 1970er Jahren auf der Halbinsel maßgeblich dafür verantwortlich war, dass sich die Wolfsbestände wieder erholten.

Wenn der Italiener zu der Gefahr, die von diesem Rudeltier ausgeht, befragt wird, zieht er den Vergleich zu anderen Tieren. "Im 20. und 21. Jahrhundert wurden in ganz Europa mehrere dutzend Menschen durch Straßen- oder Haushunde getötet. Die Zahl der Wolfsopfer reicht nicht einmal annähernd an diese Quote heran, und das, obwohl Wölfe in Italien, Spanien oder Polen nie ausgerottet waren. Ja, es gab sogar mehr Tote durch Kühe als durch Wölfe."

Ist er also gänzlich ungefährlich, der Wolf? Mitnichten. Denn er ist ein aufmerksamer Beobachter mit Verstand zwischen den Ohren. "Es gibt glaubwürdige und bestätigte Berichte aus dem 19. Jahrhundert, in denen schwächere Menschen, Kinder oder Alte, angegriffen wurden", sagt Boitani. "Die Attacken ebbten zeitgleich mit der Verbreitung von Schusswaffen ab. Es gab weniger Wölfe, und die, die übrig blieben, erkannten, dass Menschen selbst aus der Distanz gefährlich sind. Also hielten sie sich lieber fern."

Der Abschuss?

Die Ausbreitung von Fernwaffen hatte jedoch auch erhebliche Nachteile für die wölfisch-menschliche Beziehung. Wie Studien des Franzosen Jean-Marc Moriceau zeigen, griffen Wölfe immer dann vermehrt Menschen an, wenn durch Kriege eine große Zahl an menschlichen Überresten für die Aasfresser zur Verfügung stand. Schusswaffenkonflikte trieben die Opferzahlen nach oben – und damit auch die der Wölfe, die "auf den Geschmack gekommen" waren.

Der ungleiche Fernkampf brachte also Fluch und Segen für die Menschen, aber insgesamt verlor der Wolf. Heutzutage wollen einige Politiker die Frage des Zusammenlebens ebenfalls mit Waffengewalt beantworten – vordergründig zum Schutz der Weidetiere. Die Wirkungen solcher Maßnahmen werden in der Wissenschaft diskutiert. So deuten Studien von Robert Wielgus von der Washington State University darauf hin, dass es sogar vermehrt zu Angriffen komme, wenn Wölfe bejagt würden. Der Wissenschaftler vermutet, dass das an nachziehenden Wölfen liegen könnte, die die frei werdenden Nischen besetzen. Erst ab Abschussraten von mehr als 25 Prozent aller Wölfe sänken auch die Attacken – damit verbunden ist jedoch ein kurz- bis mittelfristiger Zusammenbruch der Wolfspopulation.

Biologe Luigi Boitani sieht die Bejagung der Wölfe kritisch, hält sie aber in einigen Fällen für gerechtfertigt. "Dank unserer Kampagnen in den 1970er Jahren wissen mittlerweile fast alle Italiener, dass Wölfe nah an Siedlungen herankommen, und haben verstanden, dass das keine Gefahr bedeutet. Aber wenn der Wolf seine Scheu verliert und am helllichten Tag durch Ortschaften spaziert, ist ein Abschuss sinnvoll, damit andere Tiere nicht seinem Beispiel folgen und den Respekt beibehalten." Dieser Vorgang ist sogar in der EU-Schutzdirektive enthalten, die auch die Bundesrepublik unterzeichnet hat.

Quotenwölfe?

Eine Quote oder eine Wolfsobergrenze, wie von einigen Politikern gefordert, ist für Boitani weder ökologisch noch ökonomisch sinnvoll. "Es muss immer individuell entschieden werden, abhängig von Wolf, Rudel und Region. Es gibt keine Patentlösung. Betroffene Schäfer sollten stattdessen in die Lage versetzt werden, ihre Tiere wolfsgerecht zu halten – aber sie müssen sich auch anpassen wollen." Die Schäfer in den italienischen Abruzzen haben beispielsweise festgestellt, dass ein bis drei "morra" die Herdengröße mit den wenigsten Rissen und dem vertretbarsten Aufwand ist. Eine "morra", das sind 300 Schafe, zwei Hütehunde und ein Schäfer.

"Viele Schafstypen sind künstliche, menschengemachte Tiere, denen wichtige Fluchtinstinkte abgezüchtet wurden", sagt Boitani. Deshalb beinhaltet artgerechte Tierhaltung für ihn den Einsatz von Schafsrassen, die besser auf Wölfe abgestimmt sind. Daneben wäre es sinnvoll, die Weidetiere nachts einzustallen. Kein Zaun, kein Abschuss und auch kein Hund würde die Risszahlen derart verlässlich reduzieren, wie der holländische Forscher Diederik van Liere in Slowenien herausfand.

Ob das eine Alternative für Voigt und seine Kollegen ist? Der Deichschäfer ist da eher skeptisch. "Niemand garantiert mir, dass der Wolf nicht tagsüber kommt." Darüber hinaus trieben sich die Schafe meist in Grüppchen verstreut auf Restflächen zwischen Schienen, Autostrecken oder eben auf langen Deichen herum. "Da muss man dann mit Anhänger, PKW und kilometerlang zu Fuß ran. Allabendlich ist das nicht zu leisten – vor allem nicht im Winter, wenn es früh dunkel wird. Die Leute vergessen, dass die Schafhaltung nicht zum Leben reicht und Schäfer eigentlich in anderen Berufen arbeiten", sagt Voigt. Die Situation ist vertrackt. Fest steht, dass der Status quo nicht ausreicht. Auf allen Seiten scheint mehr Innovation und Einsatz nötig, damit Schäfer und Wölfe im Prestigeprojekt Natur gleichermaßen gerecht behandelt werden.

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