Verpasste Chancen: Was wäre, wenn?
Ashleigh Barty ist eine der erfolgreichsten Tennisspielerinnen aller Zeiten. Die Australierin gewann drei Grand-Slam-Turniere und stand mehr als zwei Jahre auf Platz 1 der Damen-Weltrangliste. Möglicherweise wird sie manchen Menschen aber wegen einer ganz anderen Tat in Erinnerung bleiben: Im März 2022 gab sie bekannt, vom Profisport zurückzutreten – zwei Monate nach dem Gewinn der Australian Open, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, mit gerade einmal 25 Jahren. »Ich möchte einigen anderen Träumen hinterherjagen, die ich schon immer hatte«, begründete sie ihren Entschluss in einem Instagram-Video. »Ich weiß, dass für mich die richtige Zeit gekommen ist, den Schläger wegzulegen.«
Ihr Schritt nötigte nicht nur ihren Fans Respekt ab. Womöglich, weil sich dahinter etwas erahnen lässt, was viele Menschen kennen: die Befürchtung, etwas zu verpassen, wenn das Leben auf dem eingeschlagenen Weg weitergeht. Es könnte aber auch sein, dass Barty eines Tages bereut, ihre Karriere vorzeitig beendet zu haben. Das ist die Krux einer solchen Entscheidung: In dem Moment weiß man nicht, ob man mit der getroffenen Wahl zufrieden sein wird.
Viele Entscheidungen sind trivial. Trinke ich gleich noch einen Kaffee? Soll ich diesen Text über verpasste Chancen lesen? Andere haben weit reichende Folgen. Was soll ich studieren? Will ich jetzt ein Kind oder erst einmal beruflich Fuß fassen? Hin und wieder stellt sich später heraus, dass wir besser damit gefahren wären, hätten wir den anderen Weg eingeschlagen.
Reue pappt wie ein warnendes Etikett an unseren Fehlentscheidungen
Die Reue, die darauf folgt, ist Ausdruck einer Selbstanklage: Du hattest es in der Hand. Hättest du damals anders entschieden, ginge es dir heute besser. »Dieses Bedauern ist das einzige Gefühl, das ausschließlich nach Entscheidungen auftritt«, erklärt der Wirtschaftspsychologe Marcel Zeelenberg von der Universität im niederländischen Tilburg. »Es spornt uns dazu an, unsere Fehler zu korrigieren: Wir kaufen eine Hose, bemerken zu Hause, dass sie uns doch nicht so gefällt, bedauern unseren Kauf und werden dadurch motiviert, sie zurückzubringen.«
Aber Reue dient nicht nur der Reparatur. Sie pappt wie ein warnendes Etikett an den Fehlentscheidungen und sorgt so dafür, dass wir diese Irrtümer nicht vergessen. Das hält uns davon ab, sie zu wiederholen. Dazu trägt auch unsere Tendenz bei, unangenehmen Emotionen möglichst aus dem Weg zu gehen. Bei jeder Wahl bedenken wir deshalb, wie sehr wir sie irgendwann bereuen könnten. »Regret anticipation« nennt Zeelenberg dieses Vorgefühl.
Das Gefühl des Bedauerns trägt also auf unterschiedlichen Wegen dazu bei, dass wir unsere Entscheidungen verbessern. Der Tilburger Wissenschaftler hat hierzu bereits vor mehr als 20 Jahren eine Reihe von Experimenten durchgeführt. Als Werkzeug diente ihm ein Klassiker der Wirtschaftspsychologie, das Ultimatum-Spiel. Darin finden sich Versuchspersonen zu Paaren zusammen. Person 1 erhält eine bestimmte Summe Geld, beispielsweise 100 Euro. Sie kann nun ihrem Spielpartner einen beliebigen Betrag davon anbieten, zum Beispiel 25 Euro. Akzeptiert er das Angebot, wird das Geld entsprechend aufgeteilt. Doch wenn er ablehnt, gehen beide leer aus. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn sich Person 1 bei der Aufteilung geizig zeigt.
Die beiden Beteiligten lernen sich dabei nie persönlich kennen: Die Kommunikation läuft per Computer und beschränkt sich auf Angebot und Reaktion. Im Fall von Zeelenbergs Versuchen dachten die Teilnehmenden aber nur, sie würden mit einer anderen Person interagieren; in Wirklichkeit war der Computer so programmiert, dass jedes ihrer Angebote angenommen wurde. Danach erfuhren sie, wo die Schmerzgrenze ihres angeblichen Gegenübers gelegen hätte, wie viel niedriger sie also hätten gehen können. Je höher diese Diskrepanz ausfiel, desto stärker bereuten die Probandinnen und Probanden ihren unnötig großzügigen Vorschlag. Wenn sie dann eine zweite Runde spielten (angeblich mit einem neuen Teammitglied), reduzierten sie ihr Angebot – und zwar umso mehr, je stärker ihr Bedauern in der ersten Runde ausgefallen war.
Kontrafaktisches Denken: Was hätte sein können
Um zu bereuen, braucht es eine spezielle Fähigkeit: Wir müssen uns vorstellen können, wie unsere Welt aussehen würde, hätten wir damals anders entschieden. In der Psychologie spricht man auch von »kontrafaktischem Denken«. Kinder entwickeln diese Gabe vermutlich erst mit fünf oder sechs Jahren. Bis zu dem Alter lässt es sie ziemlich kalt, wenn sie zwischen zwei Alternativen die schlechtere wählen. Und erst, wenn sie dazu in der Lage sind, ihre Wahl zu bedauern, lernen sie aus jener Erfahrung für künftige Entscheidungen.
Eine besonders wichtige Rolle scheint in dem Zusammenhang der orbitofrontale Kortex (OFC) zu spielen – ein Teil der Großhirnrinde, der hinter der Stirn liegt. Es gibt Menschen, bei denen diese Region geschädigt ist. Ihnen fehlt die Fähigkeit, Fehlentscheidungen zu bereuen, wie die Pariser Neurowissenschaftlerin Angela Sirigu zusammen mit Kolleginnen und Kollegen zeigte. Zudem neigen die Betroffenen häufiger dazu, unter zwei Optionen die mit dem höheren möglichen Gewinn zu wählen, selbst wenn diese deutlich riskanter ist.
Dazu passen Befunde einer Gruppe chinesischer Forschender. Sie verabreichten Versuchspersonen über Elektroden auf der Stirn schwache Strompulse. Mit dieser völlig schmerzfreien Methode ist es möglich, die Hirnregionen unter den Elektroden weniger erregbar zu machen – hier Teile des OFC. Die Probandinnen und Probanden sollten eine Entscheidung treffen, bei der sie Geld gewinnen konnten. Dann teilte man ihnen mit, dass ihr Gewinn höher ausgefallen wäre, wenn sie die andere Alternative gewählt hätten. Sie bereuten daraufhin ihre Wahl. Wurde ihr OFC gehemmt, fiel ihr Bedauern jedoch deutlich schwächer aus.
Die Weichenstellungen in unserem Leben, die wir am stärksten in Frage stellen, betreffen aber erstaunlich selten das liebe Geld oder irgendwelche Anschaffungen. »Wir bedauern die Fehlentscheidungen am intensivsten, von denen wir das Gefühl haben, dass unser Leben heute anders aussähe, wenn wir damals anders gewählt hätten«, sagt Marcel Zeelenberg. Doch welche sind das?
Was die Menschen am meisten bereuen
Diese Fragen haben die Forscher Mike Morrison und Neal Roese einer repräsentativen Gruppe von 370 US-Bürgerinnen und -Bürgern gestellt. Am häufigsten trauerten die Befragten falschen Entscheidungen in der Liebe und im Umgang mit ihrer Familie hinterher. Viele bedauerten zudem ihre Berufswahl oder nicht genug Energie in ihre Ausbildung gesteckt zu haben. Frauen bedauerten eher Fehlentscheidungen im Liebesleben, Männer in Sachen Karriere.
Ob sich dieses Ergebnis auf Deutschland oder andere, weniger individualistische Länder übertragen lässt, ist unklar. Plausibel wäre es schon: Einen Beruf wählen, heiraten und Kinder bekommen sind Weichenstellungen, die das Leben langfristig beeinflussen. Eine Umfrage in Berlin kommt denn auch zu einem ähnlichen Resultat wie die von Morrison und Roese. »Je größer die Konsequenzen einer Wahl sind, desto größer ist in der Regel mein Bedauern, wenn sie sich danach als schlecht herausstellt«, bestätigt Kai Epstude, Sozialpsychologe der Universität Groningen. »Das gilt vor allem dann, wenn diese Entscheidung nicht irgendwelchen äußeren Zwängen geschuldet war, sondern tatsächlich in meiner Macht stand.«
Die US-Erhebung konnte zudem einen weiteren Effekt bestätigen, der bereits zuvor regelmäßig beobachtet worden war: Auf lange Sicht bereuen wir vor allem Dinge, die wir nicht getan haben – nicht ins Ausland gegangen zu sein, niemals ein Instrument erlernt zu haben, ein Jobangebot ausgeschlagen zu haben. Das Phänomen ist in der Forschung unter dem Namen »Inaction Effect« bekannt. Der US-Psychologe Thomas Gilovich hat diesen Trägheitseffekt in zahlreichen Studien unter anderem in China, Japan und Russland nachgewiesen. Versäumnisse lösen offenbar langlebigeres Bedauern aus als Taten.
Auf lange Sicht bereuen wir vor allem Dinge, die wir nicht getan haben
Kurzfristig scheint es dagegen genau andersherum zu sein – wir bereuen eher, was wir getan und nicht gelassen haben. »Menschen bedauern am meisten Fehlentscheidungen, für die sie sich besonders verantwortlich fühlen«, sagt Marcel Zeelenberg von der Universität Tilburg. »Und das sind in aller Regel Situationen, in denen sie tätig geworden sind.« Als Beispiel nennt er einen Fußball-Coach, der für seine Mannschaft eine andere Aufstellung wählt als in der Vorwoche. Wenn seine Spieler dann verlieren, bedauert er diese Entscheidung stärker, als wenn er die Aufstellung nicht geändert und ebenfalls verloren hätte. Dabei komme es auf den Kontext an, sagt Zeelenberg: Wenn nämlich das Team bereits in der Vorwoche als Verlierer vom Platz gegangen ist, bereut der Coach es eher, wenn er die Mannschaft nicht umstellt.
Allerdings unterscheiden sich die Geschlechter deutlich in ihrer Rückschau auf versäumte und vollbrachte Liebesabenteuer. Männer trauern vor allem verpassten sexuellen Abenteuern hinterher; Frauen grämen sich eher, wenn sie sich zu schnell oder unbedacht auf Sex eingelassen zu haben.
Bislang nicht eindeutig geklärt ist eine andere Frage: Belastet eine unwiderruflich verpasste Chance mehr als eine Entscheidung, die sich noch korrigieren lässt? »Die Hypothese lautet, dass Bedauern uns dazu motiviert, unsere Fehler wiedergutzumachen«, erklärt Kai Epstude. »Wenn das stimmt, sollte unser Bedauern bei revidierbaren Entscheidungen am stärksten sein.«
Tatsächlich gibt es Studien, die in diese Richtung deuten. Ein Team um die US-Psychologin Denise Beike kam allerdings zu einem anderen Schluss: Wir trauern vor allem um die Möglichkeiten, die uns nicht mehr offenstehen. Marcel Zeelenberg hält das ebenfalls für plausibel. »Gerade Entscheidungen, die sich nicht rückgängig machen lassen, können uns stark belasten. Denken Sie an Frauen, die sich irgendwann wünschen, doch Kinder bekommen zu haben, nun aber dafür zu alt sind. Oder Sie haben sich mit Ihren Eltern zerstritten und bedauern nach deren Tod, den Konflikt nicht beigelegt zu haben.«
Mit falschen Entscheidungen leben
In solchen Fällen ist es von Vorteil, Vergangenes zu den Akten legen zu können. Wer im »Hätte, hätte, Fahrradkette«-Modus verharrt, brütet über längst gelegten Eiern und macht sich womöglich immer weiter Vorwürfe. »Wenn sich Reue ständig wiederholt, ist das der psychischen Gesundheit nicht gerade zuträglich«, betont der Sozialpsychologe Kai Epstude. So stecken Menschen mit Depressionen häufiger in einer solchen Dauerschleife fest.
Wie lässt sich das verhindern? Zunächst einmal durch etwas mehr Realismus. Denn wir bedauern unsere Entscheidungen oft auch deshalb so stark, weil wir die Alternative überschätzen: Das Gras auf der anderen Seite scheint immer grüner. Vor allem, wenn über die nicht gewählte Option wenig Informationen vorliegen, wie 2022 eine Studie von Wirtschaftswissenschaftlern aus England und Spanien zeigt: Dann erscheint sie in der Fantasie womöglich viel toller, als sie wirklich ist.
Hinzu kommt: Wir neigen zur Rosinenpickerei. Wir nehmen die positiven Folgen unserer Entscheidung gerne als gegeben hin und sehen an der Alternative nur das, was bei ihr besser gelaufen wäre. Dass Entscheidungen oft Kompromisse zwischen verschiedenen Aspekten sind, lassen wir dabei außen vor. »Wir sollten uns daher ganz konkret und im Detail überlegen, wie es uns heute gehen würde, wenn wir damals anders gehandelt hätten«, rät Epstude. Zudem sei es hilfreich, eine Exit-Strategie zu haben, falls sich die getroffene Wahl als schlecht herausstelle. Etwa: Ich schaue nach sechs Monaten, ob mir der gewählte Job tatsächlich so gut gefällt wie erhofft – falls nicht, mache ich mich auf die Suche nach einem neuen. Das schafft Verbindlichkeit und hilft gerade bei emotional belastenden Fehlentscheidungen, die Kraft aufzubringen, sie zu korrigieren.
Wichtig ist es aber auch, schon im Vorfeld gründlich über die Entscheidung nachzudenken. Denn wer seine Wahl – zum Beispiel, sein Kind gegen Corona impfen zu lassen – gut begründen kann, der wird sich später weniger Vorwürfe machen, sollte sie sich dennoch als schlecht herausstellen, weil etwa Nebenwirkungen auftraten. Das bestätigt unter anderem eine Untersuchung der Université de Toulouse, an der fast 1000 Französinnen und Franzosen teilnahmen.
Die Tennisspielerin Ashleigh Barty scheint sich ihren Rücktritt gut überlegt zu haben. Den Entschluss zu fällen, sei hart gewesen, sagte sie in ihrer Videobotschaft. Eines jedoch habe sie dazu ermutigt: »zu wissen, dass dies der richtige Schritt für mich ist«.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.