Mikrobiom: Die ersten Bakterien der Babys
Bald nach der Empfängnis beginnt ein menschlicher Embryo ein bemerkenswertes Organ aufzubauen, das für sein Überleben entscheidend ist. Die Plazenta ist Lebensader und Wächter zugleich und damit essenziell für das Überleben des Embryos. Einerseits transportiert die Plazenta Sauerstoff, Nährstoffe und Immunfaktoren aus dem Blutkreislauf der Mutter zu dem sich entwickelnden Fötus, andererseits dient sie als Barriere gegen Infektionen. Seit mehr als einem Jahrhundert gehen die Ärzte davon aus, dass die vorübergehende Schnittstelle zwischen Mutter und Kind, wie auch Fötus und Gebärmutter selbst, steril sind – zumindest solange nichts schiefgeht.
Seit geraumer Zeit nun stellt Indira Mysorekar dies aber in Frage. Sie hatte mit ihrem Team im Jahr 2011 Proben von 200 Plazentas aus einem Krankenhaus in St. Louis in Missouri genommen, gefärbt und untersucht. Als die Forscher die Schnitte unter dem Mikroskop betrachteten, fanden sie in fast einem Drittel aller Proben Bakterien. »Die Bakterien lagen wirklich innerhalb der Zellen«, erklärt die Mikrobiologin, die an der Washington University in St. Louis arbeitet.
Bakterien weisen oft auf eine Infektion hin, und diese sind häufig die Ursache für eine Frühgeburt. Doch die von Mysorekar beobachteten Stämme schienen keine Krankheitserreger zu sein, weil sich nämlich weder irgendwelche Immunzellen in ihrer Nähe noch Anzeichen einer Entzündung fanden. Außerdem waren die Bakterien nicht nur in Proben von Frühgebärenden zu sehen, sondern auch in denen von Frauen mit ganz problemlos verlaufener Schwangerschaft. »Das war unser erster Hinweis auf etwas wie ein normales Mikrobiom«, schwärmt sie.
Wann entsteht das Mikrobiom?
Inzwischen gibt es einen wahren Hype um das Mikrobiom und unglaublich viele Studien zu der Frage, wie Mikroorganismen zu Gesundheit und Entwicklung des Menschen beitragen. So manchem Forscher fehlen dabei allerdings Projekte zur eigentlich entscheidenden Frage – nämlich, wann unser Körper erstmals in seiner Entwicklung von Bakterien besiedelt wird. Bisher gingen die Ärzte von einem ersten Kontakt mit Bakterien im Geburtskanal aus, weshalb auch untersucht wird, ob per Kaiserschnitt geborene Babys von einem Abstrich der vaginalen Bakterienflora ihrer Mutter profitieren könnten. Seit einiger Zeit sammeln Mysorekar und andere Forscher jedoch Hinweise auf das Vorkommen von Bakterien in der Plazenta, dem Fruchtwasser und dem Mekonium, dem teerartigen ersten Stuhl eines Säuglings, der sich bereits in utero im Fötus bildet. Auf Grund der neuen Daten wird nun diskutiert, ob die Basis des Mikrobioms nicht doch schon vor Geburt gelegt wird.
Sollte sich dies als richtig erweisen und die Bakterienbesiedelung ein ganz normaler – vielleicht sogar entscheidender – Faktor in der Schwangerschaft sein, läge es nahe, dass die Mikroorganismen auch bei der Entwicklung des Immunsystems eine wichtige Rolle spielen. Damit ließen sich eventuell Möglichkeiten finden, die Zusammensetzung der Bakterien in der Gebärmutter zu beeinflussen und Allergien, Asthma und andere Krankheiten bereits im Vorfeld zu vermeiden. Zusätzlich könnten Bakterienprofile bei Frauen mit Frühgeburten und anderen Komplikationen in der Schwangerschaft erstellt werden, um die Rolle der Bakterien besser zu verstehen.
»Sollte der Mensch als einzige der bisher untersuchten Spezies keine Mikroben in der Gebärmutter haben?«
Susan Lynch
Laut den beteiligten Wissenschaftlern wackelt das Dogma einer sterilen Gebärmutter. Vielleicht kann auch der Mensch, ebenso wie Muscheln, Tsetsefliegen und Schildkröten, die Mikroben seiner Mutter erben, bevor er überhaupt zur Welt kommt. »Sollte der Mensch als einzige der bisher untersuchten Spezies keine Mikroben in der Gebärmutter haben?«, fragt die Mikrobiologin Susan Lynch von der University of California in San Francisco.
Aber selbst wenn immer mehr Veröffentlichungen die These stützen, bleiben manche Wissenschaftler skeptisch. »Ich glaube einfach nicht, dass es dieses Mikrobiom gibt«, sagt Jens Walter, der als Mikrobiologe an der University of Alberta in Edmonton in Kanada forscht. Die einen sehen faszinierende neue Forschungswege, die anderen nur unbewiesene Vermutungen, schlampige Arbeit und ein Gespenst, das die Mikrobiomforschung schon seit Langem verfolgt – die Kontamination. Nun soll diese Frage ein für alle Mal beantwortet werden.
Ein Kinderarzt vergleicht die Kontroverse mit einer wissenschaftlichen Messerstecherei. Doch falls es tatsächlich ein fötales Mikrobiom gibt, könnte das weit reichende Folgen nicht nur für die Medizin, sondern auch für die Grundlagenforschung der Biologie haben. »Wenn wir die Plazenta als eine Art Leitung oder Vermittler zwischen Mutter und Fötus und nicht als Barriere sehen, dann könnten sich sehr interessante Ansätze und Erklärungen für die Entwicklungsbiologie ergeben«, sagt Kjersti Aagaard, Professorin für Geburtshilfe und Gynäkologie am Baylor College of Medicine in Houston in Texas.
Offenbar werden die ersten Bakterien nicht bei der Geburt übertragen
Das Dogma von der sterilen Gebärmutter geht zurück auf den französischen Kinderarzt Henry Tissier, der an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert untersuchte, wie ein Baby erstmals mit Bakterien in Kontakt kommt. Vor mehr als 30 Jahren fanden Wissenschaftler dann Hinweise, die gegen das Dogma des sterilen Mutterleibs sprachen. Die These aber, dass die Plazenta ein vollwertiges Mikrobiom beherbergen könnte, kam erst 2014 in Fahrt, als ein Forscherteam unter der Leitung von Aagaard bakterielle DNA in Plazentaproben beschrieb.
Aagaard arbeitet am so genannten Human Microbiome Project und stellte eines Tages etwas Merkwürdiges fest: Die in der mütterlichen Vagina vorhandenen Bakterien und die in den ersten Lebenswochen beim Säugling zu findenden Bakterien stimmten nicht überein. Sie war eigentlich davon ausgegangen, dass die im Geburtskanal dominierenden Bakterien beim Säugling zur Entwicklung von dessen eigenem Mikrobiom beitragen. Aagaards Beobachtung ergäbe allerdings dann Sinn, wenn sich das kindliche Mikrobiom schon vor der Geburt ausprägen würde.
Wenn nun also eine Mutter bereits im Mutterleib Bakterien an ihr Kind weitergibt, dann müsste man laut Aagaard in der Gebärmutter irgendeinen Hinweis darauf finden, weil dieses Organ beide verbindet. Um das zu untersuchen, sammelten die Forscher unter sterilen Bedingungen winzige Gewebestückchen aus den Plazentas von 320 Frauen, darunter einige Frühgebärende und einige mit Infektionen während der Schwangerschaft. Weil die Kultivierung von Bakterien manchmal schwierig ist, nutzten die Wissenschaftler gleich eine ganz andere Methode, nämlich die Gensequenzierung. Sie entnahmen in einem sterilen Raum und innerhalb einer Stunde nach der Entbindung Proben von der Plazenta, schnitten die oberflächliche Schicht ab, um eine Kontamination zu vermeiden, und legten diese Proben in kleine Fläschchen. Zusätzlich analysierten sie auch Fläschchen ohne Proben, um eine Kontamination durch die Umwelt oder die DNA-Extraktionsreagenzien auszuschließen.
Daten richtig interpretiert?
Nicht jede Plazenta enthielt nachweisbar bakterielle DNA, viele aber schon. Um sich ein genaueres Bild von der Besiedelung zu machen, sequenzierten die Forscher bei einem Teil der Proben das Gesamtgenom und fanden in den meisten Proben eine von Escherichia coli und wenigen anderen Stämmen dominierte Population. Anschließend verglichen sie die bakterielle DNA der Plazentaproben mit der in anderen Körperregionen zu findenden DNA: Die beste Übereinstimmung ergab sich dabei mit Bakterien aus dem Mund. Wie diese oralen Bakterien ihren Weg zur Plazenta finden, ist noch unklar; möglich wäre dies beispielsweise über die Blutbahn, denn allein schon das ganz normale Zähneputzen verschafft den Mikroorganismen Zugang zum Blutstrom. Wichtiger ist jedoch, dass sich die Bakteriensignatur bei Frauen mit Frühgeburt und Frauen mit vorausgegangener Infektion unterschieden. Bisher hatten die Ärzte angenommen, dass die bloße Existenz von Bakterien in der Plazenta schon eine Infektion signalisieren würde; laut Aagaard ist es aber wohl wichtiger, welche Bakterien vorhanden sind.
Das Paper sorgte in der Presse für Aufsehen, doch nach Meinung der Kritiker ist Aagaard in ihrer Interpretation der Daten zu weit gegangen. »DNA allein ist kein Bakterium«, sagt Mathias Hornef, der Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie am Universitätsklinikum der RWTH Aachen. DNA kann zur Charakterisierung eines Mikrobioms genutzt werden, erklärt er, aber nicht zum Nachweis von Bakterien in einer Probe. Mit ihren Ergebnissen steht Aagaard allerdings nicht ganz allein da: Auch weitere Gruppen scheinen bakterielle und andere DNA in der Plazenta gefunden zu haben. Mysorekar beispielsweise hatte bakterielle Strukturen innerhalb von Plazentazellen beschrieben, und eine finnische Gruppe konnte sogar Bakterien aus Plazentagewebe von Frauen mit komplikationsloser Schwangerschaft kultivieren.
Andere Forscher entdeckten Bakterien auch im Fruchtwasser und fragten sich, ob der Fötus diese etwa aufnimmt, wenn er die Flüssigkeit schluckt. Eine Gruppe um den Neonatologen Josef Neu von der University of Florida in Gainesville identifizierte bakterielle DNA im Mekonium und sah dies als Indiz für das Vorkommen von Bakterien im Darm des Fötus vor der Geburt. Dabei war ein Teil der DNA auf dieselben Gattungen zurückzuführen, die auch im Fruchtwasser gefunden wurden. Zudem enthielt Stuhl von Frühgeborenen andere Mikroben als der von termingerecht geborenen Säuglingen.
»Das Mikrobiom von Mutter und Fötus könnte zumindest in einigen Fällen die Erklärung für das Auftreten einer Frühgeburt sein«
Josef Neu
Neu stellte die Hypothese auf, so manche Bakterienstämme könnten im fötalen Magen-Darm-Trakt zur Produktion von Entzündungsfaktoren führen, die als Auslöser der Frühgeburt fungierten. Und tatsächlich konnten Wissenschaftler im Fruchtwasser von Frühgeborenen mehrere dieser Faktoren nachweisen. Dies beweist natürlich noch nichts, aber es sind »interessante Teile des ganzen Puzzles«, sagt er. »Das Mikrobiom von Mutter und Fötus könnte zumindest in einigen Fällen die Erklärung für das Auftreten einer Frühgeburt sein.«
Auch Susan Lynchs Gruppe war in der Lage, Bakterien aus dem Mekonium zu züchten. Bisher ist allerdings unklar, ob diese den Fötus lediglich passieren oder ob sie sich tatsächlich vermehren und im Darm des Fötus niederlassen, sagt sie. Ihre Mitarbeiter möchten nun untersuchen, ob sich in humanem fötalem Gewebe in der Darmwand schon Bakterien finden lassen. Neben all den Schnittproben gibt es eine Hand voll Tierversuche, die darauf hinweisen, dass eine Übertragung von Bakterien von der Mutter auf den Fötus möglich ist. Anfang des Jahrtausends impfte ein Forscherteam unter der Leitung des Mikrobiologen Juan Miguel Rodríguez von der Universidad Complutense in Madrid schwangere Mäuse erst mit markierten Bakterien und beobachtete dann die mittels Schnitt zur Welt gebrachten Mäusebabys: Die markierten Bakterien befanden sich sowohl im Fruchtwasser wie im Mekonium. »Die Tiermodelle und unsere Hinweise aus dem Menschen sprechen wirklich für ein fötal-mütterliches Mikrobiom«, sagt Neu. »Ich bin noch nicht 100-prozentig davon überzeugt, aber die Daten sind meiner Meinung nach sehr klar.«
Nichts als Kontamination?
Einige Forscher sind jedoch nach wie vor zutiefst skeptisch. Ihrer Meinung nach handelt sich um ein so genanntes »kitome«, sprich nichts anderes als eine Kontamination aus dem DNA-Extraktionskit – und so manches spricht auch für diese These. Der Perinatologe Samuel Parry von der University of Pennsylvania's Perelman School of Medicine in Philadelphia war eine Zeit lang auch fasziniert von Aagaards Daten. Deshalb plante er Untersuchungen zum Unterschied zwischen dem Mikrobiom in der Plazenta von Müttern mit Frühgeburt und jenen mit Normalgeburt. Anfangs machten die Forscher erst einmal alle möglichen Kontrollanalysen und bestimmten hierzu die auf sterilen Tupfern und in Reagenzien, DNA-Aufreinigungskits und anderen Routinematerialien zu findende DNA-Spuren. Anschließend untersuchten sie die Bakterien-DNA, die sie aus sechs Plazentaproben gewonnen hatten, und fanden keinen Unterschied zu den Kontrollproben. Seitdem haben sie mehrere Dutzend Plazentaproben untersucht, sagt Parry. »Wir finden da einfach kein Mikrobiom.« Marcus de Goffau vom Wellcome Sanger Institute in Hinxton in Großbritannien arbeitet ebenfalls am Mikrobiom und erklärt, sein Team habe ganz ähnliche noch nicht publizierte Daten mit »Hunderten« von Plazentaproben.
»Das ganze Sequenzierfeld hat mit Nonsens-Signalen zu kämpfen«
Samuel Parry
Eines der Probleme ist seiner Meinung nach, dass Bakterien-DNA im Plazentagewebe nur ein sehr schwaches Signal gibt. In Kot oder Speichel dagegen sind sehr viele Bakterien vorhanden, so dass sich das Mikrobiom leicht vom Gewebe-Background unterscheiden lässt. Wenn aber nur wenige Mikroben vorkommen, ist ein echtes Signal viel schwerer aufzufangen. Dieses Problem betrifft nicht nur Untersuchungen an Föten, sondern auch andere Bereiche, gibt er zu: »Das ganze Sequenzierfeld hat mit Nonsens-Signalen zu kämpfen.« Doch Aagaard steht zu ihren Ergebnissen. »Wir sind sehr vorsichtig«, sagt sie. »Könnte es sein, dass wir die Dinge falsch interpretieren? Natürlich. Aber wir haben wo immer möglich Negativ- und Positivkontrollen durchgeführt.« Und sie weist darauf hin, dass auch andere Gruppen Beweise für bakterielle DNA in der Plazenta gefunden haben.
Parry und Roberto Romero, der klinische Leiter für Geburtshilfe und Mutter-Kind-Medizin am National Institute of Child Health and Human Development in Detroit in Michigan, würden gerne im Rahmen einer Multicenter-Studie noch mehr solcher Proben untersuchen. Hierzu möchten sie ein erstes Treffen für die nächsten Monate organisieren, um das Protokoll zu entwerfen. Wenn alles gut geht, könnten sie schon im nächsten Jahr eine Antwort haben, hofft Romero. Aagaard ist auch zum Treffen eingeladen und bereit zu kommen. »Kjersti Aagaard ist eine hervorragende Wissenschaftlerin, und sie hat eine wichtige und interessante Idee entwickelt, die es wert ist, weiter untersucht zu werden«, sagt Romero. »Diese Kontroverse lässt sich lösen.«
Dabei sind sie nicht die Einzigen, die nach Antworten suchen. De Goffau ist Teil eines Teams, das vom Medical Research Council in Großbritannien eine Förderung in Höhe von 1,6 Millionen Britischen Pfund (1,8 Millionen Euro) erhalten hat, um Plazentagewebe und Blutproben auf Infektionserreger hin zu untersuchen, die mit Komplikationen in der Schwangerschaft korrelieren könnten. Und im Jahr 2017 kündigten die NIH (National Institutes of Health) der USA an, Mittel für Studien zur frühen Entwicklung des Immunsystems bereitstellen zu wollen, darunter auch solche zu der Frage, wie sich das Mikrobiom des Fötus etabliert und entwickelt und welchen Einfluss dies auf das Gehirn hat.
Eine Hand voll Bakterien sind noch kein Mikrobiom
Und selbst wenn sich das Mikrobiom im Mutterleib nicht nachweisen lässt, schließt das nicht aus, dass der Fötus dort mit Keimen in Kontakt kommt. »Eigentlich gibt es nicht vieles im und auf dem menschlichen Körper, was man als steril betrachten kann«, sagt die Neonatologin Juliette Madan vom Dartmouth-Hitchcock Medical Center in Libanon in New Hampshire. Aber eine Hand voll Bakterien bedeute nicht zwangsläufig, dass es ein komplexes, blühendes Mikrobiom gibt. Madan erwartet eher keinen wesentlichen Austausch von Bakterien zwischen Mutter und Fötus. Doch sogar de Goffau, einer der vehementesten Kritiker der Plazenta-Papers, ist sich da nicht mehr so sicher. Er selbst hat nämlich ebenfalls schon Bakterien im Mekonium nachweisen können. »Es ist nicht völlig steril – das ist ziemlich klar«, schließt er. Und auch wenn die Beweise nicht 100-prozentig sind, ist es zumindest möglich, dass der Fötus sein eigenes Mikrobiom besitzt.
»Eine Geburt auf natürlichem Weg dauert Stunden, in denen das Baby an der Wand des Geburtskanals entlangreibt und viel Flüssigkeit schluckt«
Maria Dominguez-Bello
Maria Dominguez-Bello ist Spezialistin für Bakterienökologie an der New York University und leitete eine Studie zur Entwicklung des Mikrobioms von Säuglingen. Dabei untersuchte sie unter anderem den potenziellen Nutzen einer Behandlung mit Vaginalflora der Mutter für Säuglinge nach Kaiserschnittgeburt. Die Berichte über Bakterien im Mekonium findet sie nicht sehr überzeugend. Ihrer Meinung nach wird das sterile Umfeld eines Fötus erst dann durchbrochen, wenn die Fruchtblase platzt, was den Bakterien ausreichend Zeit lässt, in den Darm des Säuglings einzuwandern. »Eine Geburt auf natürlichem Weg dauert Stunden, in denen das Baby an der Wand des Geburtskanals entlangreibt und viel Flüssigkeit schluckt«, fügt sie hinzu. Auch bei Säuglingen, die per Kaiserschnitt zur Welt kommen, kann es Stunden oder sogar Tage dauern, bis der erste Stuhl passiert – eine ausreichende Zeitspanne, in der Bakterien auch außerhalb der Gebärmutter aufgenommen werden können.
Dominguez-Bello und andere Wissenschaftler sehen den überzeugendsten Gegenbeweis in keimfreien Labormäusen, die per Schnitt von Mäusen mit normalem Mikrobiom geboren und dann unter sterilen Bedingungen aufgezogen werden. »Wir machen seit mehr als 70 Jahren alle möglichen Experimente damit«, sagt Jens Walter. Wenn nur ein einziges Bakterium im Inneren des Fötus vorhanden wäre, würde dieses schnell Kolonien bilden und die Mäuse nicht keimfrei lassen. All diese Experimente wären dann schlicht unmöglich.
»Sprechen Sie einmal mit den Experten unter den Mikrobiologen; für die ist die Sache ganz klar«, meint Walter und fügt hinzu, seiner Meinung nach sei die Frage schon beantwortet. Das sieht die Mikrobiologin Mysorekar allerdings anderes. Sie weiß sehr wohl, dass so mancher felsenfest glaubt, das Plazenta-Mikrobiom sei nichts als Fake News. Das sei aber eine Schande. »Da gibt es ein paar ausgesprochen spannende Fragen zu beantworten. Wenn der Mensch doch schon im Mutterleib damit beginnt, ein Repertoire an Immunzellen zu entwickeln, dann deutet dies auf eine Bakterienexposition hin«, erklärt sie. Woher sollten diese Keime stammen, und wie könnte es überhaupt zur Exposition kommen? »Da ist noch sehr viel zu erforschen«, findet sie. Doch die Skepsis vieler Wissenschaftler überrascht sie keineswegs. In jedem neuen Bereich gibt es »notorische Schwarzmaler und immer ein paar unsaubere Daten. Aber es sind die besonders herausragenden neuen Beobachtungen, die ein Feld erst voranbringen«, schließt Mysorekar.
Der Originaltext ist am 17. Januar 2018 unter dem Titel »Could Baby’s First Bacteria Take Root before Birth?« in »Nature« erschienen.
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