Immunsystem: Feuerlöscher als Allroundmedikamente
Wenn sich Zellen und Gewebe in unserem Körper entzünden, dann muss man dieses Feuer nicht unbedingt sofort löschen: Entzündungen sind an sich notwendig und wichtig als Reaktion des angeborenen Immunsystems auf Schadstoffe und Angriffe von außen. Problematisch wird es aber, wenn der Prozess außer Kontrolle gerät und gar nicht mehr aufhören will: Er kann dann viele sehr unterschiedliche Erkrankungen auslösen, verschlimmern oder verlängern; von Krebs über Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin zur Alzheimerdemenz.
Diese Rolle von Entzündungen bei vielen Erkrankungen ist altbekannt. Wie ein Entzündungsprozess in Gang kommt, wissen Forscher aber noch nicht sehr lange und im Detail. Klar ist: Zunächst müssen die beteiligten Zellen komplexe Strukturen aus mehreren Proteinen zusammenfügen, die so genannten Inflammasome. Sie werden überall im Körper aktiv, sobald ein Alarmmechanismus Fremdkörper oder Gefahrensignale registriert. Inflammasome tragen unter anderem Sensoren: Moleküle, die zum Beispiel auf Bakterien und Viren reagieren.
Bei »sterilen« Entzündungen – solchen, die nicht durch Erreger, sondern durch Störungen des Zellstoffwechsels ausgelöst werden – kommt hingegen das Protein NLRP3 ins Spiel. NLRP3 ist ein Sensorprotein, das Störungen in der Zellmembran erkennt. Es »wirkt wie ein Stresssensor, der auf körpereigene Substanzen wie ATP reagiert, welche bei Zellschädigung freigesetzt werden«, sagt der Immunologe Thomas Kufer von der Universität Hohenheim. NLRP3 wird aber auch bei anderen Gefahrensignalen tätig. Aktiviert wird es vor allem durch Ablagerungen in den Zellen, unter anderem durch die Cholesterinkristalle, die zu Atherosklerose führen können.
Inflammasome sind offensichtlich eine vernünftige Einrichtung der Natur. Warum spielen sie aber eine Rolle bei zahlreichen Erkrankungen? Unsere moderne Lebensweise spielt dabei mit: »Heute leben wir viel länger und haben einen ganz anderen Lebensstil als zu der Zeit, als die Evolution unsere Eigenschaften angepasst hat«, sagt der Biologe Olaf Groß von der Universität Freiburg. »Das führt teilweise dazu, dass das Immunsystem beim Menschen aus dem Gleichgewicht gerät.«
Ungleichgewicht zwischen Nutzen und Schaden
Es gibt Erkrankungen, bei denen das Immunsystem mit seinen Entzündungsreaktionen einen Teufelskreis auslöst: Die zerstörerischen Folgen der Erkrankung kurbeln die Immunantwort an, und die Immunantwort zerstört das Gewebe dann ihrerseits weiter. Als Auslöser des Entzündungsgeschehens dienen dabei Immunbotenstoffe, so genannte Zytokine wie Interleukin-1-Beta. Und deren Ausschüttung wird wiederum durch Inflammasome kontrolliert.
In einem solchen Teufelskreis spielt auch das NLRP3-Inflammasom eine Rolle, das in erster Linie sterile Entzündungen auslöst – solche, die durch in unserem Körper selbst entstandene Gefahrensignale aktiviert werden. »Dazu gehören Harnsäurekristalle, die zu Gicht führen können«, sagt Olaf Groß. »Auch Asbestpartikel aktivieren dieses Inflammasom und lösen in der Lunge Entzündungen aus, die zu Krebs führen können.« Der Körper kann Asbest zudem nicht abbauen, und »dadurch ist das Gefahrensignal ständig vorhanden, es kommt über Jahre hinweg zu Entzündungen«.
Aber auch bei Alzheimer sind NLRP-3-Inflammasome offenbar beteiligt: Sie werden durch Ablagerungen des Proteins Beta-Amyloid aktiviert, den berühmt-berüchtigten »senilen Plaques«. Insgesamt ruft eine reiche Palette von Substanzen – Harnsäurekristalle, Cholesterinablagerungen, Beta-Amyloid-Klumpen oder Asbestfasern – zwar ganz unterschiedliche Erkrankungen hervor, alle jedoch werden über den gleichen Mechanismus vermittelt.
Hier wollen Forscher ansetzen und den Teufelskreis – eine Erkrankung sorgt für Entzündungsreaktionen, und die Entzündungsreaktionen sorgen für eine Verschärfung der Krankheit – durchbrechen: mit Hemmstoffen, die gezielt die NLRP-3-Inflammasomen an ihrer Arbeit hindern.
Dabei ist Vorsicht geboten. Denn es besteht die Gefahr, dass »man das Immunsystem so sehr schwächt, dass der Organismus für Infektionen anfälliger wird«, sagt Olaf Groß. »Man muss versuchen, die Immunantwort, die einen krank macht, zu hemmen« – und dabei die Immunantwort, die den Organismus schützt, gleichzeitig möglichst unangetastet zu lassen. Wenn man das NLRP3-Inflammasom aber sehr gezielt therapeutisch angeht, um die sterilen Entzündungen zu dämpfen, dann »bleiben andere Inflammasome, die für die Abwehr von Krankheitserregern wichtig sind, unangetastet«, so Groß.
Speziell entwickelte Inflammasom-Hemmer warten mit einem weiteren Vorteil auf: Sie bremsen den Prozess in einer frühen Phase, weil sie schon ansetzen, bevor das die Entzündung auslösende Zytokin Interleukin-1-Beta aktiv wird. Zwar könne man auch das Interleukin selbst neutralisieren, erklärt der Hohenheimer Immunologe Thomas Kufer, und dafür gebe es in der klinischen Anwendung auch schon erste Medikamente. Greift man vorher ein, dann würden aber gleichzeitig noch weitere durch das Inflammasom aktivierte Zytokine gehemmt.
»Ich kann mir gut vorstellen, dass Inflammasom-Hemmer als Allroundmedikamente bei vielen verschiedenen Krankheiten eingesetzt werden können«Thomas Kufer, Immunologe
Zumindest bei Tieren haben sich Inflammasom-Hemmer auch schon vielfach bewährt. Etwa bei Alzheimer. Für eine 2020 veröffentlichte Studie griffen Forscher um die Medizinerin Li-ying Zhang von der Sun Yatsen University in der chinesischen Provinz Guangdong auf ein Mausmodell der tückischen Erkrankung zurück. Sie injizierten den Nagern den Wirkstoff Streptozotocin, der viele pathologische Veränderungen herbeiführt, die mit Alzheimer einhergehen. Die Injektion aktivierte das NLRP3-Inflammasom der Tiere und kurbelte so Entzündungen im Gehirn an. In der Folge konnten Mikrogliazellen – die Immunzellen des Gehirns – die Beta-Amyloide schlechter beseitigen. Es bildeten sich verstärkt senile Plaques, Nervenzellen starben ab, die Nager zeigten kognitive Beeinträchtigungen. Blockierten nun die Forscher NLRP3 mit einem Hemmer, gingen die Entzündungen zurück, die Mikrogliazellen beseitigten Beta-Amyloid besser und auch die kognitiven Einschränkungen der Nagetiere nahmen ab.
NLPR3 ist auch im Herzen nicht untätig, wo es Zelltrümmer oder Cholesterin registriert. Sie werden frei, wenn Gewebe zerstört wird, etwa wegen einer gestörten Durchblutung während eines akuten Herzinfarkts. Die Aktivierung des NLRP3-Infammasoms sorgt dann zusätzlich für Gewebeschäden, indem es Interleukin-1-Beta freisetzt. Die frühe Entzündungsreaktion nach einem Herzinfarkt kann dann zum Beispiel eine Herzfibrose vergrößern, durch die der Herzmuskel steifer wird, was zu eingeschränkter Pumpleistung des Organs führt. Außerdem steigt dadurch die Gefahr von Herzrhythmusstörungen. Eine chinesische Studie von 2019 gibt allerdings Anlass zur Hoffnung: Bei Mäusen mit einem Herzinfarkt grenzte die Hemmung des NLRP-3-Inflammasoms Gewebeschäden ein, zudem kamen Herzfibrosen seltener vor.
Auch bei Krebserkrankungen könnten Imflammasom-Hemmer helfen, denn schließlich beeinflussen Entzündungsreaktionen alle Stadien der Tumorentwicklung. In einer Untersuchung von 2021 zeigten Forscher um Carlo Marchetti von der University of Colorado, dass die Aktivierung von NLRP3 in Melanomzellen das Fortschreiten von Tumoren in Mäusen antreibt. Eine oral verabreichte Dosis eines NLRP3-Hemmers reduzierte das Melanomwachstum dagegen.
»Bis man Inflammasom-Hemmer hat, die in der klinischen Praxis eingesetzt werden, dauert es natürlich noch«Thomas Kufer
Pharmafirmen sind wegen solcher Aussichten mittlerweile in ein regelrechtes Wettrennen eingestiegen. Mit Blick auf die viel versprechenden Tierstudien haben zunächst mehrere kleine Pharmaunternehmen zielgerichtet NLRP3-Hemmer entwickelt; dann haben große Pharmaunternehmen diese kleineren Firmen in großen Deals aufgekauft oder selbst begonnen, eigene Wirkstoffe zu entwickeln. Derzeit laufen die ersten klinischen Studien noch, Inflammasom-Hemmer gelten aber bereits als potenzielle Allroundmedikamente für diverse Lebensstil- und Alterserkrankungen.
Thomas Kufer bremst zu hohe Erwartungen ein wenig: »Bis man Inflammasom-Hemmer hat, die in der klinischen Praxis eingesetzt werden, dauert es natürlich noch.« Er sagt aber auch: »Ich kann mir gut vorstellen, dass Inflammasom-Hemmer als Allroundmedikamente bei vielen verschiedenen Krankheiten eingesetzt werden können.«
Der Markt für Inflammasom-Hemmer ist potenziell riesig, meint auch Olaf Groß, der Freiburger Biologe. Bei welchen Erkrankungen NLRP3-Hemmer wirklich helfen werden, sei derzeit allerdings schwer abzuschätzen. »Bei Parkinson und Alzheimer bin ich im Moment noch zögerlich. Denn es ist bei Patienten sehr schwer nachzuweisen, dass inflammasomgetriebene Entzündungen tatsächlich eine Rolle spielen.« Die bisherigen Tiermodelle seien dafür zu wenig aussagekräftig.
Optimistischer ist Groß bei anderen Erkrankungen. Bei Gicht etwa könnten solche Medikamente therapeutisch sinnvoll sein, ebenso bei multipler Sklerose, bei Krebs oder bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In letzterem Fall hat man schon beim Menschen gesehen, dass es sinnvoll ist, Entzündungen per Medikament im Zaum zu halten. Zwar hat man hier nicht an Inflammasomen angesetzt, aber bei den von ihnen kontrollierten Interleukinen. »Die groß angelegte CANTOS-Studie von Novartis hat gezeigt, dass Antikörper gegen Interleukin-1-Beta das Risiko für schwer wiegende kardiovaskuläre Ereignisse reduzierte«, sagt Olaf Groß. »Und auch das Lungenkrebsrisiko verringerte sich.«
Eine Gefahr sieht Groß allerdings noch: »Gerade falls die Inflammasom-Hemmer eines Tages prophylaktisch eingenommen werden sollten, glauben Menschen, dass sie nicht mehr ihren Lebensstil ändern müssen.« Dies werde heute ja schon am Beispiel der Statine deutlich, die gerade sehr häufig als Cholesterinsenker verschrieben werden, wenn Patienten ein mehr oder weniger erhöhtes Risiko für Atherosklerose haben. Inflammasom-Hemmer könnten eines Tages zu den Allroundmedikamenten im Kampf gegen Lebensstil- und Alterserkrankungen werden – zum Freibrief für einen ungesunden Lebensstil dürfen sie nicht werden.
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