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Leistungssport: Im Wettkampf mit der Epilepsie

Maximilian Gnigler war eines der größten Kajaktalente Europas. Dann kam die Diagnose Epilepsie. Nach Rückschlägen träumt der 19-Jährige weiterhin von einer Sportlerkarriere – und den Olympischen Spielen.
Maximilian Gnigler bei einem Wettkampf in seinem Kajak
2022 war Maximilian Gnigler Neunter bei den Europameisterschaften in Belgrad und Zehnter bei den Weltmeisterschaften in Ungarn in seiner Altersklasse.

Als Maximilian Gniglers Mutter einen lauten Knall hört und ihren Sohn auf dem Boden seines Zimmers findet, gerät sie in Panik. Der 17-Jährige hat eine dicke Beule am Kopf, ist kaum ansprechbar und wie in einer Art Tiefschlaf. »Sie ist sofort mit mir ins Krankenhaus gefahren«, erinnert sich Maximilian Gnigler an die Ereignisse in den frühen Morgenstunden des 30. April 2023. Dort ahnen die Ärztinnen und Ärzte, was hinter dieser Attacke stecken könnte, und machen ein EEG. Mit eindeutigem Ergebnis: fokale Epilepsie!

Die Diagnose traf Gnigler völlig unerwartet. Er kannte zwar jetzt die Ursache dafür, dass sein Kopf manchmal unkontrolliert nach links zuckte. Und er wusste auch endlich, woher die Handabdrücke rührten, die irgendwann an der Wand neben seinem Bett auftauchten und immer mehr wurden. Aber allein der Begriff Epilepsie sorgte bei dem jungen Österreicher für Kopfkino: Niemals mehr abtanzen in einem Klub? Lebenslanges Schwimmverbot? Kein Führerschein? Und vor allem: Musste er sich von seinem geliebten Sport, dem Kajakfahren, verabschieden? Dabei hatte er es bereits als Bester seiner Altersklasse in Österreich zu Welt- und Europameisterschaften geschafft. »Sie hätten mir in dem Moment auch sagen können, dass ich für den Rest meines Lebens im Rollstuhl sitze. Ich hatte all die Vorurteile im Kopf, die es zu dem Thema gibt.«

»Es gibt keine Belege dafür, dass Sport das Auftreten von epileptischen Anfällen begünstigt«Hajo Hamer, Neurologe

Wie viel Sport ist erlaubt?

Kein Wunder. Schließlich ist es noch gar nicht lange her, dass man Menschen mit Epilepsie pauschal davon abriet, Sport zu treiben. Zu groß sei das Verletzungsrisiko, wenn es dabei zu einem Anfall kommt. Zu unerforscht die Frage, ob körperliche Anstrengung gar Anfälle auslösen kann. »Von diesem Dogma ist man komplett abgerückt«, sagt Hajo Hamer, Leiter des Epilepsiezentrums am Universitätsklinikum Erlangen. »Es gibt keine Belege dafür, dass Sport das Auftreten von epileptischen Anfällen begünstigt.« Eine Auswertung von 42 Studien zu dem Thema kommt im Gegenteil zum Schluss, dass bei regelmäßiger körperlicher Aktivität weniger Anfälle auftreten. Sport wird sogar ausdrücklich empfohlen, um begleitende Erscheinungen wie Depressionen oder Ängste zu minimieren und dadurch die Lebensqualität merklich zu steigern. Zudem geben einige wenige Studien Hinweise darauf, dass Sport die kognitiven Fähigkeiten von Menschen mit Epilepsie steigern kann.

Doch gibt es auch Sportarten, die zu riskant sind? Dieser Frage ging eine Studie nach, die von der International League Against Epilepsy unterstützt wurde. Sie bewertete für gängige Sportdisziplinen, wie groß die Gefahr ist, dass eine Person mit Epilepsie sich oder andere verletzt oder stirbt, sollte während der körperlichen Betätigung ein Anfall auftreten (siehe »Risikobewertung von Sportarten bei Epilepsie«). Wenig riskant sind demnach Aktivitäten wie Tanzen, Fußball oder Tennis. Etwas anders sieht es jedoch mit Schwimmen, Ski- oder Radfahren aus: Hier sollte vorab mit einem Arzt die individuelle Eignung besprochen werden. Schwierig seien vor allem Sportarten, die im Wasser stattfinden, da man dort bei einem Anfall ertrinken kann. Manche Experten sind hingegen davon überzeugt, dass Menschen mit Epilepsie nahezu jeden Sport ausüben können, wenn sie seit rund einem Jahr keinen Vorfall mehr hatten.

Sorge vor Nebenwirkungen

Im Fall von Maximilian Gnigler kam neben dem eher als eher riskant eingestuften Wassersport noch ein weiterer Aspekt hinzu: Die Medikamente, die epileptische Anfälle unterdrücken sollen, hemmen die Erregung von Nervenzellen im Gehirn. So soll deren gleichzeitige Entladung vermieden werden, um die gefährlichen Attacken zu verhindern (siehe »Was ist Epilepsie?«). Wie aber würde sich das auf seine Leistungsfähigkeit auswirken? Würde er noch so gut sein, dass er bei internationalen Wettkämpfen an den Start gehen könnte?

»Wir haben von Akupunktur bis CBD-Tropfen vieles versucht, das zur Beruhigung beitragen soll. Geholfen hat nichts«Maximilian Gnigler, Sportler mit Epilepsie

Gnigler trifft eine weit reichende Entscheidung: Er lehnt die Einnahme der im Krankenhaus empfohlenen Medikamente ab. Gegen den ausdrücklichen Rat der Ärzte, für die an oberster Stelle steht, dass Patienten keine epileptischen Anfälle mehr bekommen. Der Sportler aber hat vermeintlich Wichtigeres im Kopf, denkt an sein Abschneiden bei Welt- und Europameisterschaften, bei denen er im Jahr zuvor jeweils einen Platz unter den ersten Zehn belegt hatte. Und da sind 2024 ja auch noch die Olympischen Spiele in Paris, mit denen er liebäugelt. »Meine Mutter und ich wollten es mit sanften Methoden probieren«, erklärt Gnigler. »Wir haben von Akupunktur bis CBD-Tropfen vieles versucht, das zur Beruhigung beitragen soll. Geholfen hat nichts.«

Im Gegenteil: Die Attacken kommen häufiger und werden heftiger. Mindestens einmal in der Woche hat er nachts einen großen Anfall, Grand Mal genannt, bei dem Betroffene meist für ein bis zwei, manchmal sogar für bis zu fünf Minuten das Bewusstsein verlieren, der Körper heftig zuckt und sich die Muskulatur stark verkrampft. Eine Tortur, bei der man sich nicht nur verletzen kann, sondern die auch viel Kraft kostet. »Das kann bei manchen Betroffenen sogar zu Knochenbrüchen führen«, erklärt Hamer. So weit ging es bei Gnigler nicht, aber: »Ich habe mich morgens so gefühlt, als ob ein Lkw über mich drübergerollt wäre. Muskelkater, Kopfschmerzen – meistens habe ich mich erst am Nachmittag davon erholt.«

Auslöser Wettkampfstress?

Dazu kommt die körperliche und mentale Belastung rund um einen Wettkampf. Gnigler ist davon überzeugt, dass diese besondere Beanspruchung mehrere schwere Anfälle auslöste: Bei der Europameisterschaft in Portugal kommt es in der Nacht vor dem Rennen zu einem Grand-Mal-Anfall, bei der WM in Italien passiert es in der Nacht, nachdem er den Einzug ins Finale verpasst hatte. Stress pur für einen Athleten, der mit großen Zielen in die Saison gestartet war. Ob wirklich Trubel und Anstrengung rund um wichtige Wettkämpfe einen epileptischen Anfall auslösen können oder dieser nicht auch ohne die Umstände aufgetreten wäre, ist schwer zu ermitteln. Manche Experten glauben jedoch, dass extreme physische und psychische Belastungen, wie sie zum Beispiel bei Leistungssport verlangt werden, das Auftreten von Anfällen begünstigen. Ende August 2023 verteidigt Gnigler zwar noch seine österreichischen Staatsmeistertitel über 200, 500 und 1000 Meter. Aber wegen seiner insgesamt für ihn enttäuschenden Performance und der sich immer dramatischer zuspitzenden Situation entscheidet er sich, ab sofort doch Medikamente einzunehmen.

Kajaktalent | Trotz seiner Epilepsiediagnose will Maximilian Gnigler seinen Traum von Olympia noch nicht aufgeben.

»Das Mittel der Wahl ist auf Grund der ausgezeichneten Effektivität und Verträglichkeit der Wirkstoff Lamotrigin. »Es hat aber den Nachteil, dass es vier bis sechs Wochen dauert, bis es seine volle Wirksamkeit entfaltet«, erklärt Paolo Gallmetzer, Gniglers behandelnder Arzt sowie Facharzt für Neurologie und Oberarzt im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien. Deshalb habe er – bis das Arzneimittel vollumfänglich wirkt – parallel ein zweites Medikament verabreicht, dessen Wirkung rascher eintritt. »Allerdings können alle Medikamente unerwünschte Nebenwirkungen verursachen«, sagt Gallmetzer. Das war leider auch bei Gnigler so. Solange er schneller wirkende Mittel nahm, wachte er morgens mit bleierner Müdigkeit auf und fühlte sich zugleich aufgestachelt aggressiv.

Die Anfälle waren zwar weg, die Leistung aber auch

Doch das für ihn Schlimmste war: Seine sportlichen Leistungen ließen dramatisch nach. Als er einen Monat nach Saisonende die obligatorischen Tests auf der Donau absolvierte, standen am Ende Zeiten, die er bereits als 15-Jähriger geschafft hatte. Viele Konkurrenten, die er vorher locker geschlagen hatte, sah er nur noch von hinten. Die Anfälle waren zwar weg, die Leistung aber auch. Gnigler haderte mit sich und der Welt. »Ich war am Boden zerstört und wurde dauernd gefragt, warum ich so langsam bin. Ich wollte es aber nicht jedem erzählen und musste erstmal für mich damit klarkommen, wie ich mit der Situation umgehe.« Denn Menschen mit Epilepsie fürchten sich vor der immer noch verbreiteten Stigmatisierung.

Für Gnigler stand jedenfalls fest: So kann es nicht weitergehen. Bei seinem Arzt stößt er dabei auf offene Ohren. »Ziel einer Therapie ist immer, anfallsfrei zu sein und keine Nebenwirkungen zu haben«, sagt Gallmetzer. »Ist eines von beidem nicht gegeben, ändert man die Therapie. Man muss so lange am Ball bleiben, bis für den Patienten der Optimalzustand erreicht ist.« Bedeutet: Es wird an der richtigen Dosierung geschraubt; Medikamente, von denen es derzeit mehr als 20 am Markt gibt, werden getauscht. »Trial and Error, wenn man es defätistisch ausdrücken will«, sagt Hamer vom Uniklinikum Erlangen. So lange, bis keine Einschränkungen mehr hinzunehmen sind. Also auch nicht in Sachen Spitzenleistung?

»Findet man die individuell optimale Therapie für den Patienten, ist alles möglich«Hajo Hamer, Neurologe

Erfolgreiche Sportler als Vorbilder

»Jeder Betroffene muss und darf selbst herausfinden, was ihm guttut und wie hoch er sein individuelles Risiko bewertet«, sagt Hamer. Der Neurologe ist davon überzeugt, dass eine Epilepsie heute kein Hinderungsgrund mehr dafür ist, als Hochleistungssportler Karriere zu machen, wenn sie denn gut eingestellt ist. »Findet man die individuell optimale Therapie für den Patienten, ist alles möglich. Ich behandle einige Topsportler mit Epilepsie, die durch die Medikamente überhaupt keine körperlichen Einschränkungen haben. Daher ist mein erster Rat immer: machen!«

Sein Kollege Gallmetzer verweist ebenfalls darauf, dass es einige Beispiele von Athleten mit Epilepsie gibt, die es in ihrem Sport bis ganz nach oben geschafft haben. Der Schweizer Turner Lucas Fischer etwa gewann 2013 nach seiner Diagnose die Silbermedaille bei den Europameisterschaften. Oder der US-Footballspieler Justin Fields, der 2021 von den Chicago Bears verpflichtet wurde und heute bei den Pittsburgh Steelers in der Profiliga NFL unter Vertrag steht. Der deutsche Fußballer Uwe Haas wiederum brachte es bereits in den 1980er Jahren auf 63 Spiele in der 1. und 2. Bundesliga für den 1. FC Köln, Arminia Bielefeld und Rot-Weiß Oberhausen. Sie alle haben den Beweis erbracht, dass Spitzensport und Epilepsie einander nicht ausschließen.

Und Maximilian Gnigler? Nach seinen enttäuschenden Leistungstests Ende 2023 nahm er sich eine sportliche Auszeit, um den Kopf frei zu bekommen und sich auf andere Dinge als Kajakfahren zu konzentrieren. Im Sommer will er die Matura abschließen, danach den Medizinertest absolvieren, um studieren zu können. Arzt zu werden war schon vor der Diagnose sein großes Ziel, da man von einer Karriere im Kajaksport allein nicht leben kann. Seit September vergangenen Jahres ist er komplett anfallsfrei und spürt die Nebenwirkungen der täglichen Dosis Lamotrigin wie Müdigkeit nur noch ganz vereinzelt.

Um sich wieder in ein Kajak zu setzen und wettkampfmäßig zu paddeln, fühlt er sich derzeit mental noch nicht bereit. Doch er hält sich mit Training im Gym fit. »Momentan fehlt mir nichts, aber wenn der Sommer kommt und ich bei keinem großen internationalen Event dabei bin, wird es sich wohl merkwürdig anfühlen«, glaubt er. Und er weiß dabei, dass jede Woche, die er verstreichen lässt, es schwieriger macht, einen Wiedereinstieg in den Spitzensport zu schaffen. Trotzdem möchte er seinen Traum von der großen Karriere noch nicht aufgeben. Dafür hat er in den letzten Jahren zu viel in seinen Sport investiert, sagt er, und auch gezeigt, wie groß sein Talent ist. Vielleicht, so seine Hoffnung, ist er dann statt in Paris bei den nächsten Olympischen Spielen dabei: 2028 in Los Angeles.

Was ist Epilepsie?

Bei einem epileptischen Anfall kommt es zu einer unkontrollierten und synchronen Entladung von Nervenzellverbänden im Gehirn. Geschieht das in einer örtlich begrenzten Region einer Gehirnhälfte, spricht man von fokaler Epilepsie. Sind Teile beider Gehirnhälften betroffen, liegt eine generalisierte Form vor.

Die Dauer eines Epilepsieanfalls ist sehr unterschiedlich und reicht von wenigen Sekunden bis zu einigen Minuten. Bei kleineren Anfällen verlieren Patienten für kurze Zeit ihre Aufmerksamkeit und können dabei ganz bei Bewusstsein bleiben. Bei einem großen tonisch-klonischen Anfall, Grand Mal genannt, kommt es zu Zuckungen und Verkrampfungen, woran sich viele Betroffene nachher nicht mehr erinnern können, da sie bewusstlos werden. Die Folge können Muskelkater, Kopfschmerzen und Erschöpfung sein.

Etwa fünf Prozent der Bevölkerung erleidet mindestens einmal im Leben einen Krampfanfall, ohne dass sich daraus eine aktive Epilepsie entwickelt. Von Epilepsie spricht man erst, wenn die Wahrscheinlichkeit für einen weiteren Anfall in den nächsten zehn Jahren mehr als 60 Prozent ist. Das Wiederholungsrisiko einer Epilepsie wird anhand der Anfallsgeschichte, EEG-Ergebnissen, Hirnbildgebung, genetischen Faktoren, auslösenden Faktoren und Begleiterkrankungen bestimmt. Zwischen 0,5 und 1 Prozent der Bevölkerung haben eine aktive Epilepsie.

Trotz großer Fortschritte in der medikamentösen Behandlung bleiben nur zwei Drittel der frisch diagnostizierten Epilepsiekranken anfallsfrei, das heißt, sie bleiben ein komplettes Jahr ohne Anfälle. Ob eine Epilepsie ausheilen kann, wird kontrovers diskutiert. Sie gilt als »überwunden« bei Patienten mit einem altersabhängigen Epilepsie-Syndrom, die jenseits des entsprechenden Alters sind, sowie bei Betroffenen, die zehn Jahre anfallsfrei sind und seit mindestens fünf Jahren keine Antiepileptika mehr einnehmen.

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