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Erdbebenvorhersage: Wie Tiere Katastrophen erspüren

Manche Tiere zeigen bei Erdbeben ungewöhnliche Verhaltensweisen. Woran das genau liegt und ob sich solche Phänomene vielleicht zur Vorhersage nutzen lassen, ist allerdings noch unklar.
Eine niedliche Ratte streckt igren Kopf aus dem Greifloch einer Holzschublade.
Immer wieder gibt es Berichte, dass Tiere vor Erdbeben zum Beispiel ihre geschützten Orte zurücklassen und sich zu ungewöhnlichen Zeiten zeigen. Ob und wie die Tiere tatsächlich die nahende Katastrophe bemerken - unklar.

Gestrandete Wale, jaulende Hunde, nervös flatternde Vögel: Nach den verheerenden Erdbeben, die am 6. Februar 2023 den Süden der Türkei und den Norden Syriens erschütterten, gingen nicht nur Bilder von massiven Zerstörungen und unfassbarem menschlichem Leid um die Welt. In den sozialen Medien tauchten auch immer wieder Berichte über seltsame Verhaltensweisen auf, die Tiere vor, während oder nach der Katastrophe an den Tag gelegt haben sollen.

Was genau dahintersteckt, ist in den meisten Fällen allerdings schwer zu sagen. Denn zahlreiche Fragen rund um die Reaktion von Tieren auf solche Ereignisse sind noch ungeklärt. Es gibt aber durchaus wissenschaftliche Hinweise darauf, dass manche Arten ein feines Gespür für Erdbeben haben. Einige Fachleute hoffen sogar, mit tierischer Unterstützung ein Warnsystem für solche Katastrophen entwickeln zu können.

Auch für wild lebende Tiere können Erdbeben lebensgefährlich sein – und zwar nicht nur in den Gebieten mit den größten Zerstörungen. Als an der Nordwestküste Zyperns etwa anderthalb Wochen nach den Erschütterungen acht tote Schnabelwale angespült wurden, stand daher rasch ein Verdacht im Raum: War ihnen das schwere Erdbeben zum Verhängnis geworden?

Fabian Ritter von der Berliner Walschutzorganisation M.E.E.R. e. V. hält das für durchaus plausibel. »Solange die Tiere nicht genau untersucht wurden, bleibt es natürlich Spekulation«, sagt der Biologe, der sich seit vielen Jahren mit dem Verhalten der Meeressäuger beschäftigt. So könnten hinter der Strandung von Walen auch verschiedene andere Ursachen stecken. Die Palette reicht dabei von Krankheiten über geografische Besonderheiten der Meeresküsten bis zum Einsatz des Sonars von Marineschiffen. Letzteres ist so laut, dass es das empfindliche Gehör von Walen massiv schädigen oder sogar ganz zerstören kann. Betroffene Tiere können ihre Echoortung dann nicht mehr einsetzen, verlieren die Orientierung und stranden.

Auch Wale bekommen Taucherkrankheit

»Es gibt aber Hinweise darauf, dass auch Erdbeben einen großen Einfluss auf Wale haben können«, sagt Fabian Ritter. »Und das gilt vor allem für die tief tauchenden Arten.« Zu denen gehören etwa die auf Zypern gestrandeten Tiere. Denn es handelt sich um Cuvier-Schnabelwale, die auf der Jagd nach Tintenfischen extrem weit in die Tiefsee hinabtauchen und sehr lange unter Wasser bleiben.

So haben Gregory Schorr vom privaten US-Forschungsinstitut Cascadia Research Collective und seine Kollegen vor Südkalifornien Tauchgänge mit einer Tiefe von fast 3000 Metern und einer Dauer von mehr als zwei Stunden dokumentiert. Ein Team um Nicola Quick vom Duke University Marine Laboratory berichtete 2020 sogar von einem Tier, das vor Cape Hatteras an der Ostküste der USA drei Stunden und 42 Minuten unter Wasser blieb. Bisher ist kein anderes Säugetier bekannt, das in solche Tiefen vorstößt und es so lange dort unten aushält.

»Allerdings kommen auch Schnabelwale bei solchen extremen Tauchgängen an die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit«, betont Fabian Ritter. Umso gefährlicher wird es, wenn sie dabei auch noch von einem Erdbeben überrascht werden. Eines der Probleme sind dabei die massiven Druckschwankungen, die durch die Bewegungen des Meeresgrundes entstehen. »Durch einen plötzlichen starken Druckabfall können die Tiere ein Trauma erleiden, das direkt zum Tod führt«, erklärt Fabian Ritter.

Ähnlich wie ein Militär-Sonar ist zudem auch ein Erdbeben eine Lärmquelle, deren tiefes, lautes Grollen die Wale erschrecken oder verängstigen könnte. »Sie bekommen ja mit, dass dort unten etwas Ungewöhnliches und möglicherweise Gefährliches vor sich geht«, sagt der Berliner Wissenschaftler. »Da kann es durchaus passieren, dass sie vor Schreck zu schnell auftauchen.« Die Folgen sind dann die gleichen wie bei menschlichen Tauchern, die zu schnell wieder an die Oberfläche kommen: Der Stickstoff, der sich beim Tauchgang in den Körpergeweben angesammelt hat, perlt aus.

Die dabei entstehenden Gasbläschen können die Arterien verstopfen und zu Gewebeschäden führen. Mit anderen Worten: Die Schnabelwale handeln sich die berüchtigte Taucherkrankheit ein, die zu Desorientierung bis hin zur Bewusstlosigkeit führen kann. Schon länger ist bekannt, dass dieser Effekt die Tiere mitunter stranden lässt. Ob der fatale Schreck dabei durch ein Militär-Sonar oder das Rumpeln eines Erdbebens ausgelöst wird, macht im Ergebnis keinen Unterschied.

Dramatische Folgen für Unterwasserlandschaften

Auch für die überlebenden Meeressäuger ist die Welt jedoch keineswegs wieder in Ordnung, wenn sich die Erde wieder beruhigt. Das hat eine Forschungsgruppe um Marta Guerra von der University of Otago im neuseeländischen Dunedin bei einer Studie an Pottwalen festgestellt.

Eine bei Touristen sehr bekannte Population dieser Meeresriesen geht in einem Tiefseegraben vor der Stadt Kaikoura auf Neuseelands Südinsel auf die Jagd nach Tintenfischen. Ihr Jagdrevier wurde im November 2016 von einem Erdbeben der Stärke 7,8 erschüttert. Unterwasser-Erdrutsche und reißende Ströme von sedimentreichen Wassermassen veränderten den Meeresgrund und rissen einen großen Teil der darauf lebenden Organismen mit sich. Das aber veränderte das Verhalten der Pottwale deutlich. So gingen die Meeresjäger nach dem Beben nicht nur an anderen Stellen auf Nahrungssuche als zuvor. Die Zeit, die sie zwischen ihren Tauchgängen an der Oberfläche verbrachten, verlängerte sich auch um 25 Prozent.

Keine Vorwarnung, keine Chance | Das schwere Erdbeben in der Türkei und Syrien traf die Menschen im Schlaf. Seit Jahrhunderten suchen Menschen nach Möglichkeiten, solche Katastrophen vorauszuahnen – denn manche Tiere scheinen das zu können.

Die Forscher schließen daraus, dass sich durch die Katastrophe nicht nur die Lage der Pottwal-Restaurants verändert hat. Offenbar mussten die Tiere anschließend auch mehr Energie darauf verwenden, überhaupt genug Beute zusammenzubekommen. Also brauchten sie nach jedem Jagdtrip erst einmal eine längere Erholungspause, bevor sie sich wieder auf den Weg in die Tiefsee machen konnten. Insgesamt dauerte es ungefähr ein Jahr, bis Kaikouras Pottwale wieder zu ihren alten Verhaltensweisen zurückkehrten.

Bei einem so gefährlichen Ereignis wie einem Erdbeben wäre es natürlich praktisch, wenn die betroffenen Tiere nicht erst im Nachhinein reagieren könnten, sondern schon währenddessen. Oder noch besser: bevor es richtig gefährlich wird. Ob Wale dazu in der Lage sind, weiß bisher allerdings niemand so genau. Eine US-amerikanische Forschungsgruppe um Dawn Barlow von der Oregon State University in Newport hat dazu ebenfalls vor Neuseeland nach Indizien gesucht – diesmal allerdings bei Blauwalen.

Blauwale sind sensibel – doch Erdbeben machen ihnen nichts aus

In der South-Taranaki-Bucht zwischen der Nord- und der Südinsel Neuseelands hatte das Team von Ende Januar bis Ende Juni 2016 fünf Lauschstationen installiert, um die Rufe und Gesänge der größten Säugetiere der Erde aufzuzeichnen. In dieser Zeit gab es in der Region mehr als 30 Erdbeben. Doch keines davon veranlasste die Blauwale, etwas in ihrer Kommunikation zu verändern. Sie bleiben offenbar völlig unbeeindruckt.

Das ist umso überraschender, als ihre Artgenossen in anderen Studien durchaus auf alle möglichen Störungen reagiert haben. Wenn sie ein Militär-Sonar hörten, schwammen sie manchmal schneller, hörten auf zu fressen und riefen seltener. Schiffslärm brachte sie dagegen dazu, ihre Stimme lauter zu erheben. Und wenn bei der Suche nach Öl Luftkanonen zum Einsatz kamen, waren die Blauwalstimmen häufiger zu hören. Warum sollten sie also ausgerechnet die Erschütterungen des Meeresgrundes ignorieren?

Da die analysierten Beben alle eine Stärke von weniger als 4,5 hatten, waren sie womöglich einfach nicht laut genug, um die Tiere zu einer Reaktion zu veranlassen. Dawn Barlow hält es aber auch für möglich, dass sich die Meeresriesen vor Neuseeland im Lauf der Zeit an solche Ereignisse gewöhnt haben. Schließlich leben sie in einer der tektonisch aktivsten Regionen der Erde. Da wäre es wohl kaum sinnvoll, bei jeder kleinen Bewegung des Meeresgrundes in helle Aufregung zu geraten.

Ob Wale in anderen Regionen bei Erdbeben ebenso cool bleiben, ist bisher unklar. Schließlich sind gerade die Reaktionen von Meeresbewohnern in solchen Situationen nur mit einigem Aufwand zu beobachten. An Land dagegen fällt ungewöhnliches Verhalten viel leichter auf. Und so gibt es seit der Antike immer wieder Berichte über die verschiedensten Tiere, die kurz vor einem Erdbeben, einem Vulkanausbruch oder einem Tsunami plötzlich verrücktspielten.

Der Exodus des Ungeziefers

Im Winter des Jahres 373 v. Chr. zum Beispiel sollen sich in der griechischen Metropole Helike am Golf von Korinth geradezu gespenstische Szenen abgespielt haben. »Alle Mäuse und Marder und Schlangen und Tausendfüßer und Käfer und alle anderen Tiere dieser Art verließen geschlossen die Stadt«, schildert der mehr als 500 Jahre später geborene römische Autor Aelian die Ereignisse. Das habe die Leute natürlich gewundert, aber niemand habe sich einen Reim darauf machen können. Bis fünf Tage später ein gewaltiges Erdbeben sämtliche Gebäude zerstörte und eine riesige Flutwelle ganz Helike unter Wasser setzte. Es gab kaum Überlebende, die Katastrophe hatte die mächtige Stadt und ihren berühmten Poseidon-Tempel geradezu von der Landkarte radiert.

Auch aus jüngerer Zeit gibt es Berichte über Tiere, die sich rechtzeitig vor einer Naturkatastrophe in Sicherheit gebracht haben. Vor dem verheerenden Tsunami, der Weihnachten 2004 über Südostasien hereinbrach, sollen zum Beispiel sowohl in Sri Lanka als auch in Thailand Elefanten landeinwärts in höheres Gelände geflohen sein.

Wissenschaftlich bestätigt ist ein anderer Fall in den italienischen Abruzzen. Im Frühjahr 2009 war Rachel Grant von der Open University im britischen Milton Keynes dort unterwegs, um das Fortpflanzungsverhalten von Erdkröten zu untersuchen. Wenn diese Amphibien einmal in Paarungsstimmung sind, versuchen sie normalerweise auch, zur Sache zu kommen. Egal, was ringsum vorgeht. Doch in jenem Jahr beobachtete die Forscherin etwas Verblüffendes: Ende März und Anfang April, also mitten in der Paarungssaison, verließen die Tiere plötzlich ihre Laichgewässer – wenige Tage bevor ein Erdbeben die 74 Kilometer entfernte Stadt L'Aquila zerstörte.

Die Frage, was hinter solchen Phänomenen steckt, löst in der Wissenschaft noch immer einiges Rätselraten aus. Relativ einfach ist die Sache bei tierischen Reaktionen, die nur ein paar Sekunden vor einem Beben zu beobachten sind. Solche Fälle erklärt der United States Geological Survey mit der unterschiedlich starken Sensibilität verschiedener Arten für Erdbebenwellen. Vom Epizentrum aus breiten sich die so genannten Primärwellen (P-Wellen) am schnellsten aus. Etwas langsamer sind die Sekundärwellen (S-Wellen), die dann die Zerstörungen anrichten. Während die meisten Menschen die P-Wellen kaum wahrnehmen können, haben andere Arten dafür ein feineres Gespür – und gewinnen so einen kleinen Zeitvorsprung.

Das Rätsel der Vorahnung

Das erklärt allerdings keine der vielen Geschichten, in denen Tiere schon Stunden oder sogar Tage vor einer Katastrophe nervös geworden sind. Was sie in solchen Fällen gewarnt haben könnte, bleibt bisher Spekulation. Viele Fachleute aber würden das zu gerne verstehen. Denn dann könnte sich die Menschheit womöglich irgendwann einen jahrtausendealten Traum erfüllen.

Ein funktionierendes Frühwarnsystem für Erdbeben könnte viele Leben retten. Darüber sind sich alle Fachleute einig. Allerdings sind sämtliche Versuche, eine technische Methode dafür zu entwickeln, bisher im Sande verlaufen. Und auch die Tierwelt hat sich in der Hinsicht nicht als sonderlich zuverlässiger Verbündeter erwiesen.

Was wusste die Kröte? | Die Kröte (Bufo bufo) ist eines der wenigen Tiere, bei denen es tatsächlich einen klaren Hinweis auf Verhaltensänderungen vor einem Erdbeben gibt.

Da gibt es zwar den berühmt gewordenen Fall des Bebens von Haicheng in China. Dort hatten Menschen im Februar 1975 beobachtet, wie Ratten und Schlangen ihre unterirdischen Winterquartiere verließen. Die Behörden ordneten daraufhin eine Evakuierung an – einen Tag bevor ein Beben der Magnitude 7,2 die Millionenstadt in Schutt und Asche legte. Nur hat es rund um die Welt eben auch viele schwere Katastrophen gegeben, vor denen die Fauna nicht gewarnt hat. Etliche Geoforscher bezweifeln daher, dass sich Tiere überhaupt für solche Aufgaben eignen.

Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell ist da optimistischer. »Das Problem ist, dass es bisher nur einzelne Geschichten über Tiere gibt, die sich vor Erdbeben komisch verhalten haben«, sagt der Wissenschaftler. »Niemand hat systematisch und über einen längeren Zeitraum beobachtet, was sich da überhaupt abspielt.«

Bebenforschung auf dem Bauernhof

Genau das wollen er und sein Team ändern. Seit 2016 reisen sie dazu regelmäßig in das Dorf Capriglia in den italienischen Abruzzen. Auf dem Ökobauernhof der Familie Angeli haben sie dort Kühe, Schafe und Hunde als potenzielle Erdbebenwarner rekrutiert. Vom 26. Oktober bis zum 18. November 2016 und vom 17. Januar bis zum 16. April 2017 trugen die Tiere Halsbänder mit einem daumengroßen Messgerät, das ihre Bewegungen in allen drei Dimensionen sehr genau aufzeichnete.

Als die Forscher diese Daten später analysierten und mit dem Auftreten der zahllosen kleineren und größeren Erdbeben in dieser Zeit verglichen, stießen sie auf interessante Zusammenhänge. »Im Vorfeld der Beben sehen wir tatsächlich bestimmte Verhaltensmuster«, berichtet Martin Wikelski. Besonders sensibel reagierten die Hunde, die immer wieder hektisch herumliefen. Die Kühe dagegen verhielten sich zunächst sogar ruhiger als sonst, wirkten geradezu eingefroren. Dann aber ließen sie sich von der Nervosität der Hunde anstecken und bewegten sich ebenfalls mehr. »Es ist also aufschlussreich, ein ganzes Kollektiv von Tieren zu beobachten, weil die Mitglieder sich gegenseitig beeinflussen«, schließt der Verhaltensforscher.

Er betont allerdings auch, dass sich diese Ergebnisse noch nicht für ein Frühwarnsystem nutzen lassen. Dazu brauche man bei Weitem mehr Daten. Im April 2023 werden er und sein Team daher in die Abruzzen zurückkehren. Dort werden sie nicht nur die bewährten Farmtiere mit besseren Messgeräten ausrüsten. Auch Schlangen, die als besonders erdbebensensibel gelten, sollen mit Hilfe implantierter Minisender mehr über ihr Verhalten verraten.

Neue Erkenntnisse versprechen sich die Forscherinnen und Forscher aus Radolfzell aber auch von einer intensiveren Beobachtung von Hunden und Katzen. Deshalb arbeiten sie mit der Firma Tractive zusammen, die GPS-Halsbänder für Haustiere herstellt. Eigentlich sind diese dazu gedacht, die Besitzer jederzeit über den Aufenthaltsort ihrer Vierbeiner zu informieren. Doch die Software, die das Max-Planck-Team für seine Verhaltensstudien einsetzt, läuft darauf auch. »Wir planen, alle 600 000 aktiven Tractive-Halsbänder damit auszurüsten«, sagt Martin Wikelski. »Dann hätten wir gleich ein ganzes Netzwerk von vierbeinigen Beobachtern zur Verfügung.« Vielleicht, so hofft er, lässt sich dem tierischen Gespür für Erdbeben ja doch noch auf die Spur kommen.

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