Erdrutsche: Nach dem Feuer kommt der Schlamm
Im Sommer 2021 herrschte im Süden des kanadischen Bundesstaats British Columbia ideales Waldbrandwetter. Wie eine Käseglocke legte sich heiße Hochdruckluft über das Gebiet, und die Temperaturen waren nach monatelanger Trockenheit auf Rekordniveau angestiegen. Durchschnittlich 40 Waldbrände pro Tag brachen Anfang Juli in der Provinz aus – es war eine der schlimmsten Waldbrandsaisons seit Beginn der Aufzeichnungen.
Die Brände vernichteten auch die Wälder auf steilen Hängen über wichtiger Infrastruktur. Durch die Täler verlaufen der Trans-Canada Highway, die nationalen Eisenbahnlinien sowie Öl- und Gaspipelines. Und nach dem Feuer kam nun eine weitere Gefahr auf sie zu: Erdrutsche.
Mitte November brachte ein gewaltiger Sturm in nur zwei Tagen die Regenmenge eines ganzen Monats über die Region. Dieser so genannte atmosphärische Fluss löste riesige Schlamm- und Geröllmassen aus den verbrannten, vernarbten Hängen, die dann über Straßen und Eisenbahnlinien hinwegfegten.
»Die Lawinen zerschnitten mehrere wichtige Transportkorridore im Westen Kanadas«, sagt Matthias Jakob, Geowissenschaftler bei BGC Engineering in Vancouver, Kanada, der damals an der Einschätzung des Potenzials für Erdrutsche in der Region beteiligt war. »Die Folge war eine kritische Unterbrechung der Versorgungsketten.«
Es wird mehr Erdrutsche geben
Zwar seien Erdrutsche nicht so tödlich wie Wirbelstürme oder Hitzewellen. Dennoch könnten auch sie wirtschaftliche Schäden in Höhe von hunderten Millionen Dollar verursachen, sagt Jakob. Nach einem Jahr intensiver und weit verbreiteter Brände werden auch in diesem Winter wieder Erdrutsche erwartet, sollten atmosphärische Flüsse den Nordwesten der Vereinigten Staaten und British Columbias erneut überschwemmen.
»Auch in Gebieten, in denen sie bisher nur eine theoretische Möglichkeit waren, wird die Wahrscheinlichkeit von Bränden und Murenabgängen steigen«Bruce Malamud, Geophysiker
Der Doppelschlag aus Feuer und Überschwemmung bietet nur einen Vorgeschmack dessen, was die Menschen im Nordwesten Kanadas und in anderen Regionen der Welt erwartet. Weltweit erhöht der Klimawandel die Häufigkeit und Intensität von Bränden und führt zu extremen Niederschlagsereignissen. Heftiger Regen aber, wenn er auf kurz zuvor abgebrannte Hänge trifft, kann eine besonders tödliche Art von Schlammlawine auslösen: den so genannten Murgang. Dabei stürzt eine wässrige Masse aus Erde, Steinen und anderem Material mit verheerender Kraft den Hang hinab.
Für Regionen, die für derartige Gefahren anfällig sind, haben Forscher bereits Modelle entwickelt, die Warnsysteme speisen und so Leben retten können. Doch heute verwüsten Waldbrände auch Berghänge, die bisher kaum von Feuern betroffen waren. Und das nicht nur in den borealen Wäldern Alaskas und Kanadas, sondern auch in den Bergen Österreichs, wo Brände häufiger und intensiver lodern als je zuvor.
»Auch in Gebieten, in denen sie bisher nur eine theoretische Möglichkeit waren, wird die Wahrscheinlichkeit von Bränden und Murenabgängen steigen«, sagt etwa Bruce Malamud, Geophysiker am King's College London.
Feuer macht den Boden Wasser abweisend
In der zentralen Region British Columbias gab es schon immer Waldbrände. Heute aber findet man sie sogar in den Küstengebieten der Provinz. Die Vorhersagemodelle für Murenabgänge im Landesinneren kann man auf diese Regionen leider nicht anwenden. Dafür seien Böden und die Vegetation hier schlicht zu verschieden, sagt Jakob.
Ähnlich verhält es sich in den Vereinigten Staaten, wo im Jahr 2021 Teile von Nordkalifornien, Oregon und Washington abbrannten, die sonst kaum betroffen sind. »Es gibt Hinweise darauf, dass das Auftreten von Murgängen in diesen feuchteren Regionen mit stärkerem Bewuchs anderen Regeln folgt als in den trockenen südwestlichen Bundesstaaten, wo Brände und Erdrutsche häufiger sind«, sagt Jason Kean, Hydrologe beim National Landslide Hazards Program des United States Geological Survey (USGS) in Golden, Colorado. Was in den trockeneren Gebieten passiert, sei halbwegs klar, doch je weiter man nach Norden schaue, desto unklarer werde das Bild. »Im Moment sammeln wir also fleißig Daten, um herauszufinden, wie gut unser aktuelles Modell funktioniert und wie wir es verbessern können«, sagt Kean.
Wenn Regen auf bewachsene Hänge fällt, bleibt das Wasser normalerweise an Pflanzen hängen. Dann fließt oder tropft es nach und nach zu Boden und versickert in der Erde. Nach Bränden trifft der Regen mit voller Wucht auf den Boden. Obendrein verdunsten bei einem Brand die wachsartigen Verbindungen, mit denen Blätter und Nadeln überzogen sind, und kondensieren zum Teil an den kühleren Bodenteilchen knapp unter der Oberfläche.
So kann sich eine Wasser abweisende Schicht bilden, die verhindert, dass der Boden Wasser aufnimmt. »Dadurch verhält sich der Boden nicht mehr wie ein Schwamm, der den Regen aufsaugt, sondern wie eine riesige Plastikfolie, auf der das Wasser abläuft«, sagt Gary Sheridan, Bodenwissenschaftler an der University of Melbourne, Australien.
Erdrutsche sind kompliziert
Der Regen perlt an dieser Wasser abweisenden Schicht ab, bis er einen Spalt im Boden findet, durch den er einsickern kann. Bei starkem Niederschlag versickert aber nur ein Teil, der Rest bildet Rinnsale. Diese Rinnsale fließen bergab, vereinen sich, reißen Erde und Steine mit sich und gewinnen enorm an Durchschlagskraft. So kann ein Murgang entstehen.
»Die Regenmengen müssen dabei nicht groß sein, wenn der Niederschlag heftig genug ist«, sagt Stefan Doerr, Waldbrandforscher an der University of Swansea in Großbritannien. »Vor allem kurz nach einem Brand liegt das nötige Material einfach herum und kann mitgerissen werden.«
»In den Vereinigten Staaten allein betragen die Kosten mehrere Milliarden US-Dollar pro Jahr«Jonathan Godt, USGS
Die Abhängigkeit von sehr intensiven Niederschlägen macht Schlammlawinen nur schwer vorhersehbar. Zum Beispiel brach im Oktober 2021 ein extremer Sturm über Kalifornien und dem pazifischen Nordwesten in mehreren Regionen die Rekorde für die 24-Stunden-Niederschlagsmenge. Dieser so genannte Bombenzyklon verursachte zwar etliche Sturzfluten, dennoch löste er in verbrannten Regionen keine nennenswerten Schlammlawinen aus.
»Es geht nicht um die Gesamtregenmenge, sondern um die Intensität des Regens«, sagt auch Nina Oakley, Meteorologin an der Scripps Institution of Oceanography in San Diego, Kalifornien, die den Zusammenhang zwischen extremen Regenereignissen und Erdrutschen erforscht. »Aus diesem Grund braucht man für die Vorhersage von Murenabgängen nach Bränden zwingend Niederschlagsdaten von mindestens 15 Minuten Dauer.«
Auf der Suche nach einem Frühwarnsystem
Schlammlawinen und vergleichbare Hangrutschungen verursachen enorme Schäden. »In den Vereinigten Staaten allein betragen die direkten wirtschaftlichen Kosten grob geschätzt mehrere Milliarden US-Dollar pro Jahr«, sagt Jonathan Godt, Koordinator des Programms für Erdrutschgefahren beim USGS. Die indirekten Kosten, zu denen auch Verluste im Handel und damit zusammenhängende Faktoren gehören, betrügen wahrscheinlich ein Vielfaches dieser Schätzung.
Im Januar 2021 verabschiedete der US-Kongress den National Landslide Preparedness Act. Laut diesem »Gesetz zur Bereitschaft bei Erdrutschen» sollen US-Bundesbehörden zwischen 2021 und 2024 jährlich 37 Millionen US-Dollar erhalten, um ihre Bemühungen zur Verringerung der Gefahr durch Erdrutsche auszuweiten. Eines der Ziele des Gesetzes ist es, bestehende Frühwarnsysteme für verbrannte Landschaften in den USA auszubauen.
Bei einem Waldbrand reisen Forscherteams in das Gebiet, meist schon bevor die letzte Flamme erloschen ist. Darunter sind Bodenkundler, Hydrologen, Biologen und Fachleute für Erdrutsche, um den Schaden zu beurteilen. Die Forscher des US Forest Service bewerten dann vom Boden und aus der Luft die Auswirkungen des Brandes auf die Vegetation. Dabei vergleichen sie auch Satellitenbilder von vor und nach dem Brand. Die Ergebnisse leiten sie an Erdrutschforscher des USGS weiter, die ihre Modelle mit den Daten füttern und Gefahrenkarten erstellen, die das Potenzial für Murenabgänge in der Region angeben.
Neben einer Vielzahl anderer Variablen berücksichtigen diese Modelle die Größe und das Gefälle des betroffenen Gebiets, die Intensität des Feuers und die Beschaffenheit des Bodens. Auf der Basis solcher Informationen errechnen die Modelle, wie wahrscheinlich Murenabgänge in Abhängigkeit von der Niederschlagsintensität sind. Allerdings beruhen diese Vorhersagen bisher allein auf den statistischen Regelmäßigkeiten früherer Schlammlawinen nach Bränden im Südwesten der Vereinigten Staaten.
Jeder Erdrutsch ist anders
In diesem Teil der USA weisen die Hänge alle eine ähnliche Vegetation und Bodenstruktur auf, so dass sich die Modelle hier gut bewährt haben, zum Beispiel nach einem Brand im Glenwood Canyon, Colorado, im August 2020. Schnell untersuchten Forscher die vom Feuer verursachten Schäden und speisten die Daten in ein Modell ein, das Notfallmanagern half, das Risiko von Murenabgängen bei herannahenden Regenfällen abzuschätzen.
Mitte 2021 veranlasste das Warnsystem die Behörden, die Interstate 70 – eine Autobahn, die durch den Canyon führt – mehrmals zu sperren. Und tatsächlich gingen während der Sperrungen mehrere Murgänge über die Hauptverkehrsstraße ab, die Schäden an der Autobahn in Höhe von mehreren hundert Millionen US-Dollar verursachten. Todesopfer gab es keine.
Für andere Regionen dagegen sind die Modelle der USGS nur begrenzt aussagekräftig, weil sich die Umweltbedingungen zu sehr von jenen im trockenen Südwesten unterscheiden. Das wurde deutlich, nachdem sich im September 2017 ein Feuer auf den Hängen der Columbia-River-Schlucht in Oregon ausbreitete. An den steilen, bewaldeten Hängen überragen Tannen normalerweise ein dichtes, üppiges Unterholz aus Farnen und Büschen.
Das Feuer verbrannte die Vegetation in einem Gebiet von 20 000 Hektar Größe. Doch trotz einiger heftiger Stürme blieb die Katastrophe in den folgenden drei Jahren aus. Erst im Januar 2021 lösten heftige Regenfälle eine tödliche Schlammlawine aus. Ein Auto, das durch die Schlucht fuhr, wurde mitgerissen. Der Fahrer starb.
Verzögerte Katastrophen
Diese verspätete Katastrophe war für den Geologen Joshua Roering von der University of Oregon in Eugene keine Überraschung. Seit fast zwei Jahrzehnten erforscht er Erdrutsche im pazifischen Nordwesten. Roerings Gruppe hat unter anderem untersucht, inwiefern sich die Böden hier nach einem Brand anders verhalten als die in trockeneren Gebieten. Wie ihre Arbeiten zeigen, ist die Wasser abweisende Schicht auf dem Boden nach einem Waldbrand im pazifischen Nordwesten nicht so durchgängig wie weiter südlich.
»Wie man einen Baum tötet, ist egal«Joshua Roering, University of Oregon
So kann bei extremen Regenfällen nach einem Brand das Wasser in den Boden eindringen. »Dass mehrere schwere Stürme in der Region keine Murgänge ausgelöst haben, legt den Schluss nahe, dass sich das hydrologische System hier anders verhält als in Südkalifornien«, sagt Roering. Das bedeute aber nicht, dass nach einem Waldbrand im Nordwesten keine Gefahr existiere.
Vielmehr verzögert sich das Risiko von Murenabgängen, die Forscher sonst auch nach der Holzernte beobachten. Wird ein Baum gefällt, zersetzen sich seine Wurzeln über mehrere Jahre hinweg. Je mehr die Bäume ihren Halt verlieren, desto höher ist die Gefahr, dass der Hang bei Regen abrutscht. »Wie man einen Baum tötet, ist egal«, sagt Roering. »In drei, vier oder fünf Jahren verlieren die Wurzelsysteme in den oberen Metern des Bodens etwa 90 Prozent ihrer Stärke.«
Sollte sich diese Beschreibung der Erdrutschgefahr im waldreichen pazifischen Nordwesten bestätigen, müssten Forscher und Notfallmanager auch jene Stürme in ihre Vorhersagen einbeziehen, die mehrere Jahre nach einem Waldbrand auftreten. »Dann sitzen wir sozusagen auf einer tickenden Zeitbombe in Bezug auf stark verbrannte Gebiete mit steilen Hängen über wichtigen Verkehrskorridoren und Autobahnen«, sagt Roering.
Häuser können nicht weglaufen
Für die trockenere zentrale Region von British Columbia, die eine andere Bodenstruktur aufweist als die Küstenregionen des pazifischen Nordwestens, erwarten Forscher dieselbe Verzögerung dagegen nicht. »Für British Columbia müssen wir ein eigenes Modell entwickeln«, sagt Jakob. »Aber dafür benötigen wir viel mehr Daten.«
Auch in Australien befassen sich Forscher mit den sich verändernden Mustern von Bränden und Murgängen. Im Südosten des Kontinents, wo Gary Sheridan arbeitet, sind Waldbrände an der Tagesordnung. Mittlerweile treten sie jedoch auch in den feuchten, alpinen Gebieten Tasmaniens auf. Statt ein völlig neues Erdrutschmodell zu entwickeln, versucht Sheridans Gruppe, ihre Modelle mit den Daten dieser Brände zu verfeinern und die Vorhersagekraft dann an den auftretenden Murgängen zu beurteilen. Laut Sheridan ein schwieriger und langwieriger Prozess.
»Waldbrände können die unterschiedlichsten Folgen haben, von fast keiner Veränderung der Landschaft bis hin zu katastrophalen Murenabgängen«, sagt Sheridan. Die internationale Gemeinde der Erdrutschforscher erörtert derzeit eine Reihe gemeinsamer Faktoren, die in ein universelles Vorhersagemodell einfließen könnten. Noch sei man von einem solchen Modell allerdings weit entfernt. Landschaft, Klima und das Verhalten des Bodens seien einfach von Ort zu Ort zu verschieden: »Das Risiko ist an jedem Ort ein anderes. Warum, wissen immer noch nicht.«
Modelle von solchen Erdrutschen helfen, Leben zu retten. Schwieriger wird es, wenn man auch Gebäude oder Verkehrsnetze schützen will. »British Columbia hat einfach nicht das nötige Geld, um Straßen, Bahnlinien oder Pipelines vor jedem einzelnen Hang zu schützen, der einen Murgang auslösen könnte«, sagt Jakob. »Frühwarnsysteme können zwar verhindern, dass Menschen zu Schaden kommen, Infrastrukturen werden trotzdem beschädigt oder zerstört.«
Es fehlen noch Daten
Mit verbesserten Modellen könnte man künftig gefährdete Straßen oder Pipelines identifizieren. So könnten Behörden ihre Schutzmaßnahmen gezielter einsetzen, vermutet Jakob. Auch Hauseigentümer könnten mit Hilfe von Erdrutschmodellen die Risiken für ihr Eigentum und ihr Leben eingrenzen. »Angesichts des dramatischen und raschen Klimawandels wissen viele Menschen vielleicht gar nicht, dass sie durch Erdrutsche nach Bränden gefährdet sind«, sagt Jakob. Allerdings sind derartige Bemühungen nicht unumstritten. Politiker und Bauunternehmer sind dafür bekannt, dass sie sich gegen die Erstellung von Erdrutschgefahrenkarten wehren, weil sie diese als Hindernis für Wachstum und Einkommen ansehen.
Erdrutschforscher brauchen also Zeit und weitere Stürme, um ihre Erdrutschvorhersagen nach Bränden zu optimieren. Für diese Wintersturmsaison haben viele bereits Instrumente an jenen Hängen installiert, die bei den Feuern in Kalifornien im Jahr 2021 verbrannt waren, darunter in der Region des Caldor- und des Dixie-Feuers — der größten Einzelbrände in der Geschichte des Bundesstaats. Kean hofft, dass das Messnetzwerk Aufschluss darüber geben wird, welche Niederschlagsintensitäten Murgänge auslösen und welche nicht, wie viel Wasser dabei in den Boden einsickert, wie viel abfließt sowie über vieles andere, was zur Verbesserung aktueller Modelle oder zur Entwicklung regionalspezifischer Modelle beitragen wird.
»Die größte Herausforderung ist der Mangel an Ressourcen im Verhältnis zum Ausmaß der Verwüstung durch die Waldbrände«, sagt Kean. Allein das Dixie-Feuer habe fast 400 000 Hektar verbrannt. Doch man verfüge nur über eine begrenzte Anzahl von Instrumenten. Das schränke die Fähigkeit ein, etwas über das Verhalten von Murgängen in neuen Regionen herauszufinden.
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