Ernährung: Was macht Junkfood so ungesund?
Essen Sie fettarme Lebensmittel. Ach was: Nehmen Sie stattdessen weniger Zucker zu sich! Besser noch: Ernähren Sie sich mediterran. Oder nach Paleo-Diät. Gern in kleinen Portionen über den Tag verteilt. Oder in Intervallen. Und immer daran denken: Wenn Sie Ihrem Körper etwas Gutes tun wollen, sollten Sie mehr Gemüse essen als Fleisch … Ernährungsratschläge gibt es viele, manche sind kaum miteinander zu vereinbaren, andere widersprechen sich. Ein Rat jedoch findet breite Zustimmung: Junkfood ist zu meiden.
Allerdings gab es dafür bis vor Kurzem keine wissenschaftliche Basis. Denn – von gastronomischem Snobismus abgesehen – es mangelte Forschenden an einer einheitlichen Definition dessen, was Junkfood überhaupt ist. Entsprechend schwierig war zu sagen, ob Menschen diese Art der Nahrung meiden sollten und, wenn ja, warum.
»Junkfood«, »Fast Food«, »Convenience Food«, »Ready to eat« – diese Begriffe meinen zumeist Gerichte, die nicht in ihrer Reinform, sondern stark verarbeitet als Tiefkühlware oder Fertigprodukt daherkommen. Lange galt die Annahme, solche Lebensmittel seien deshalb ungesund, weil sie vergleichsweise große Mengen Fett, Salz und Zucker und nur wenige Vitamine, Mineralstoffe oder Ballaststoffe enthalten. Neuere Studien deuten aber darauf hin, dass bestimmte Mechanismen diese Lebensmittel gesundheitsschädlich machen. Einmal erkannt, könnte das Wissen darüber gesündere Ernährungsentscheidungen ermöglichen. Und es könnte die Industrie davon überzeugen, uns gesunde Lebensmittel anzubieten, die wir obendrein gerne essen.
Eines ist jedenfalls sicher: Menschen lieben Nahrung, die nicht mehr ursprünglich, sondern schon so weit wie möglich verarbeitet ist. Ob als Snack zwischendurch oder als vermeintlich vollwertige Mahlzeit – Fertigprodukte sind für viele ein fester Bestandteil der Ernährung.
In Deutschland ist es zahlreichen Menschen wichtig, dass ihr Essen einfach und schnell zuzubereiten ist. Manche greifen deshalb auf verarbeitete Produkte zurück. Die Coronakrise hatte das Bedürfnis danach zuletzt gesteigert: Während der Lockdowns griffen hier zu Lande mehr Menschen zu Fertiggerichten als zuvor. Zwar kochte später mehr als die Hälfte der Befragten selten oder nie mit vorgefertigten Lebensmitteln – etwa Tiefkühl-Rahmgemüse oder panierten Schnitzeln –, wie im September 2021 aus einer Civey-Umfrage im Auftrag von »Spektrum« hervorging. Doch rund jeder fünfte Teilnehmende nutzt solche Produkte immerhin wöchentlich, auffallend oft Studierende oder Menschen, die sich noch in einer Ausbildung befinden.
Mit ihrem Interesse an Ready-to-eat-Lebensmitteln sind die Deutschen nicht allein. In Großbritannien macht industriell gefertigte Nahrung beispielsweise mittlerweile zwischen 50 bis 60 Prozent der Kalorienzufuhr einer Durchschnittsperson aus. In den USA sind es rund 60 Prozent.
Junkfood – industriell gefertigt mit viel Fett, Salz und Zucker
Unter Gourmets hat Junkfood zwar schon lange einen schlechten Ruf. Auch der Mehrheit der Deutschen schmeckt der Civey-Umfrage zufolge Fastfood weniger beziehungsweise gar nicht gut, und die meisten, die Fast Food essen, fühlen sich danach laut eigener Angabe ungesund und unzufrieden. Aber die Ernährungsforschung und die daraus resultierenden öffentlichen Gesundheitsempfehlungen haben sich bisher nicht auf das Gesamte, sondern eher auf einzelne Lebensmittelgruppen wie Fleisch und Milchprodukte konzentriert oder auf die relativen Anteile der drei Makronährstoffe: Proteine, Fette und Kohlenhydrate.
Die Ernährungsrichtlinien der meisten staatlichen Gesundheitsbehörden besagen, man solle sich vornehmlich von stärkehaltigen Kohlenhydraten wie Brot und Nudeln ernähren (Vollkorn!) und viel Obst und Gemüse essen (Nimm fünf am Tag!). Im Gegenzug ist ein hoher Fettanteil zu verhindern, indem man Fleisch und Milchprodukte in geringen Mengen zu sich nimmt, ebenso wie Salz und Zucker.
Industriell gefertigte Lebensmittel enthalten aber in der Regel genau diese fragwürdigen Inhaltsstoffe (Fett, Salz und Zucker). Trotzdem empfehlen nur wenige nationale Richtlinien ausdrücklich, verarbeitete Lebensmittel zu meiden und stattdessen selbst zu kochen.
Genau hier gelte es anzusetzen, sagt Tim Spector. Der Epidemiologe am King's College London untersucht unter anderem die Auswirkungen von Lebensmitteln auf die Gesundheit. Aus seiner Sicht sollten sich politische Entscheidungsträger darauf konzentrieren, »die Menschen dazu zu bringen, echte Lebensmittel zu essen«.
Lebensmittel neu sortiert mit dem NOVA-System
Doch was sind »echte Lebensmittel«? Mit einem neuen wissenschaftlichen Verfahren namens NOVA wollen Forschende Produkte nach dem Grad ihrer Verarbeitung klassifizieren. Ersonnen hat das System eine Gruppe um den Ernährungswissenschaftler Carlos Monteiro von der Universität Sāo Paulo in Brasilien. Demnach lassen sich Lebensmittel in vier Gruppen von »unverarbeitet« bis »ultraverarbeitet« einordnen (siehe Infokasten).
Junkfood neu gedacht
Laut dem NOVA-System ist jedes Lebensmittel einer von vier Gruppen zugeordnet, je nachdem, wie stark es industriell verarbeitet wurde.
Gruppe 1: Unverarbeitete und minimal verarbeitete Lebensmittel
Essbare Teile von Tieren oder Pflanzen, wie Fleisch, Früchte oder Pilze..
Gruppe 2: Verarbeitete Zutaten
Inhaltsstoffe wie Öle, Butter, Zucker und Salz, die durch Prozesse wie Raffinieren, Mahlen oder Trocknen aus Lebensmitteln der Gruppe 1 gewonnen werden. Diese Stoffe werden normalerweise nicht allein verzehrt, sondern in Kombination mit Lebensmitteln der Gruppe 1 verwendet.
Gruppe 3: Verarbeitete Lebensmittel
Lebensmittel, die durch Hinzufügen von Zutaten aus Gruppe 2 zu Produkten aus Gruppe 1 hergestellt werden. Diese Gruppe umfasst etwa Käse, Fischkonserven, Gemüse in Gläsern und frisch gebackenes Brot.
Gruppe 4: Ultraverarbeitete Lebensmittel
Lebensmittel, die aus Grundzutaten wie Laktose, Öl, Molke und Gluten hergestellt werden. Diese Stoffe werden zwar aus Lebensmitteln extrahiert, aber in der Regel einer modernen Verarbeitung unterzogen, bei der Produkte wie gehärtete Öle, hydrolysierte Proteine und Maissirup mit hohem Fruktosegehalt entstehen. Zu dieser Gruppe gehören auch Lebensmittel, die Zusatzstoffe wie Emulgatoren, Farbstoffe und Geschmacksverstärker enthalten. Zu den Endprodukten zählen viele Fertiggerichte, Zerealien, Fabrikbrote und Pommes.
Das entscheidende Kriterium bei der NOVA-Klassifizierung ist, ob ein Lebensmittel mit Verfahren hergestellt wurde, die man daheim normalerweise nicht nutzen kann. Dazu gehören etwa die Hochdruckfetthärtung oder die Herstellung von hydrolysierten pflanzlichen Proteinen mit Salzsäure. Ein weiteres Kriterium ist der Anteil künstlicher Zusatzstoffe, wie Farbstoffe, Süßstoffe und Geschmacksverstärker, die das Lebensmittel schmackhafter machen sollen.
So gehören zur Gruppe der ultraverarbeiteten Lebensmittel nicht nur solche, die üblicherweise als Junkfood angesehen werden – wie Pommes oder Tiefkühlpizzen –, sondern auch einige Frühstückszerealien, Suppen, vermeintlich gesunde fett- und salzarme Fertiggerichte und sogar die meisten Arten von Fabrikbrot.
»Das NOVA-Klassifizierungssystem bietet Forschenden ein einheitliches Vokabular, um Zusammenhänge zwischen Erkrankungen und industriell hergestellten Lebensmitteln zu finden«, sagt die Ernährungswissenschaftlerin Marion Nestle von der New York University, eine ehemalige Beraterin der US-Regierung, die heute über die Lebensmittelindustrie schreibt. Das Konzept der Ultraverarbeitung sei bedeutsam, »weil es uns dazu bringt, nicht mehr nur über einzelne Nährstoffe zu sprechen, sondern über Lebensmittel als Ganzes«, sagt Nestle.
Erste große Studien, die die Auswirkungen ultraverarbeiteter Lebensmittel auf die Gesundheit untersuchten, haben Forschende während der vergangenen zwei Jahrzehnte durchgeführt. Die resultierenden Daten deuteten auf einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Verzehr von Junkfood und einer schlechten Gesundheit hin: Wer mehr Junkfood aß, hat zum Beispiel ein höheres Risiko, an Fettleibigkeit oder Herzkrankheiten und Diabetes zu leiden.
Ein Team fand sogar heraus, dass das Risiko einer Person, früh zu sterben, mit dem verzehrten Anteil ultraverarbeiteter Lebensmittel zunimmt. Mehr als vier Portionen ultraverarbeiteter Lebensmittel pro Tag erhöhten demnach das Sterberisiko während der 15 Jahre der Studie um 62 Prozent, wobei jede weitere Portion das Risiko nochmals um 18 Prozent erhöhte. Im Jahr 2020 wurde eine Analyse aller 23 bisher durchgeführten Studien zum Zusammenhang zwischen ultraverarbeiteten Lebensmitteln und Gesundheit veröffentlicht. Die Autoren des Artikels kommen zu dem Ergebnis, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Verzehr von Junkfood und erhöhten Raten von Bluthochdruck und bedenklichen Cholesterinwerten gibt.
Eine Fertigravioli-Studie liefert brauchbare Hinweise auf die Wirkung von Junkfood
Doch die Ernährungsforschung ist berüchtigt für widersprüchliche Ergebnisse: Kommt eine Studie zu dem Ergebnis, dass zu viel Fett das Hauptproblem ist, heißt es laut einer anderen, Kohlenhydrate seien die Übeltäter. »Bei rotem Fleisch sagen einige Studien: ›Ja, es gibt da einen Zusammenhang mit der Gesundheit‹«, sagt Monteiro. »Andere Studien berichten das Gegenteil.« Bei ultraverarbeiteten Lebensmitteln scheinen die Meinung dagegen recht homogen zu sein. »Alle zeigen eine Assoziation«, sagt Monteiro.
So weit, so übel. Studien wie die eben zitierten können allerdings nur Korrelationen zwischen dem Verzehr von Junkfood und schlechter Gesundheit finden. Einen Ursache-Wirkungs-Nachweis erbringen sie nicht. Denn der Verzehr von Junkfood korreliert zum Beispiel auch mit einem niedrigen Einkommen, das etliche gesundheitliche Nachteile mit sich bringt.
Die einzige Möglichkeit, Ursache und Wirkung wirklich auseinanderzuhalten, bieten randomisierte Studien mit zwei Gruppen, die sich nur in einem Faktor unterscheiden: ihrer Ernährung. Bis vor Kurzem gab es in der Ernährungswissenschaft aber keine solchen Studien. Doch dann, im Jahr 2019, feierte das Feld eine Premiere.
Der Physiologe Kevin Hall und seine Kollegen von den US National Institutes of Health hatten während eines vier Wochen dauernden Experiments jeden Bissen von 20 Freiwilligen dokumentiert. Dafür mussten die Probanden in der Phase der gesamten Datenerhebung vor Ort bleiben. Zwei Wochen lang bekamen sie Snacks und Mahlzeiten, die hauptsächlich aus ultraverarbeiteten Lebensmitteln bestanden: eine Auswahl an Chicken Nuggets, Fertigravioli, Keksen, Müsli und Vergleichbarem. Während zweier weiterer Wochen aßen sie dagegen ausschließlich Vollwertkost, darunter Obst, Gemüse, Fleisch oder Jogurt.
»Bei einer Ernährung mit verarbeiteten Lebensmitteln nahmen die Probanden pro Tag 500 Kalorien mehr zu sich«
Kevin Hall, Physiologe
Dabei wurde den Teilnehmenden stets eine Menge an Nahrung angeboten, die dem Doppelten ihres Bedarfs entsprach. Sie konnten also so viel oder so wenig essen, wie sie wollten. Entscheidend für das Studiendesign war: Die beiden Ernährungspläne waren so konzipiert, dass die angebotenen Snacks und Mahlzeiten mehr oder weniger die gleichen Mengen an Fett, Protein, Gesamtkohlenhydraten, Zucker, Salz und Ballaststoffen enthielten.
Trotzdem fiel der Unterschied zwischen den zwei Testphasen dramatisch aus. Bei der ultraverarbeiteten Diät nahmen sie zu, im Durchschnitt 0,9 Kilogramm. Bei der Vollwertkost-Diät dagegen verloren sie dieselbe Menge Gewicht: knapp ein Kilo. Der Grund: Wie sich herausstellte, hatten die Teilnehmer in den zwei Wochen mit Junkfood-Büfett pro Tag etwa 500 Kalorien mehr zu sich genommen als in der Vollwertkost-Phase. »Das ist ein enormer Unterschied«, sagt Hall. »Da gibt es eindeutig einen kausalen Zusammenhang.«
»Nur einen Keks zu essen, ist keine Option«
Marion Nestle, Ernährungswissenschaftlerin
Ein Mechanismus, der den Effekt erklären könnte, ist, dass die Teilnehmer die verarbeitete Nahrung schmackhafter fanden und deshalb stärker reinhauten. Doch auf Fragebogen hatten die Probanden die Junkfood-Gerichte als nur geringfügig schmackhafter bewertet als die Vollwertgerichte. Der Unterschied war so gering, dass er auch dem Zufall geschuldet sein könnte. Außerdem hängt die Menge, die wir von einem bestimmten Lebensmittel essen, nicht einfach von der bewussten Geschmacksbewertung ab.
Was ultraverarbeitete Lebensmittel so unwiderstehlich macht, ist, dass sie in der Regel genau die richtigen Anteile an Fett, Salz und Zucker enthalten. »Denken Sie etwa daran, wie häufig man von einer Packung Kekse oder Chips mehr isst, als man eigentlich wollte«, sagt Nestle. »Nur einen zu essen, ist keine Option.«
Mehr Kalorien mit jedem Bissen Junkfood
Junkfood wird bei der Herstellung meist Wasser entzogen. Das führt dazu, dass Menschen schneller essen. Auf diese Weise könnten ultrahochverarbeitete Lebensmittel zu übermäßigem Konsum verleiten. Ein Beispiel sind Chips im Vergleich zu gekochten Kartoffeln. »Am Ende hat man eine konzentriertere Form der Nahrung«, sagt Hall. »Mit jedem Bissen nehmen Sie mehr Kalorien zu sich.«
Um diese Hypothese zu testen, plant Halls Team eine weitere Studie, in der es den Teilnehmenden zusätzlich ultraverarbeitete Mahlzeiten mit extra Gemüse anbieten möchte. Die Idee: Das Gemüse steuert zwar nur wenige Kalorien bei, zieht den Verzehr der Mahlzeiten aber in die Länge. So ließe sich zeigen, ob die Geschwindigkeit, mit der wir essen, tatsächlich der Schlüssel zur gesunden Kalorienaufnahme ist.
Eine weitere Erklärung bietet die Protein-Leverage-Hypothese. Sie besagt, dass ein entscheidender Regulator unseres Appetits das biologische Bedürfnis ist, jeden Tag eine bestimmte Menge an Protein zu essen. Fleisch ist eine wichtige Proteinquelle. Doch weil Fleisch teurer ist als andere Zutaten, enthalten verarbeitete Lebensmittel in der Regel wenig Protein, dafür aber viel Fett und Kohlenhydrate. Menschen, die sich hauptsächlich von verarbeiteten Lebensmitteln ernähren, sind demnach hungriger, weil sie ihren Proteinbedarf nicht decken. Also essen sie mehr.
Die Ergebnisse von Halls Studie scheinen diese Hypothese zu stützen: Aßen die Teilnehmer die ultraverarbeitete Nahrung, stammten ihre zusätzlichen 500 Kalorien pro Tag hauptsächlich von Fetten und Kohlenhydraten, und ihre Proteinzufuhr war etwas geringer, als wenn sie Vollwertkost zu sich nahmen.
David Raubenheimer von der University of Sydney, einer der Begründer der Protein-Leverage-Hypothese, ist davon überzeugt, dass der Mangel an Proteinen und Ballaststoffen in verarbeiteten Lebensmitteln die Menschen hungrig macht. »Ballaststoffe sind mit Proteinen die Nahrungsbestandteile, die am besten sättigen«, sagt Raubenheimer.
Obacht bei der Darmbakterien-Fütterung
Die Ernährungsformen in Halls Studie unterschieden sich jedoch auch im Hinblick auf die Ballaststoffe. Zwar enthielten beide Formen die gleiche Gesamtmenge, bei der Vollwertkost aber waren die Ballaststoffe vor allem von der unlöslichen Sorte, die in Obst, Gemüse und Vollkornprodukten vorkommt. Bei der Ernährung mit ultraverarbeiteten Lebensmitteln waren den Getränken dagegen lösliche Ballaststoffe beigemischt. Das war die einfachste und schmackhafteste Art, sie in die Mahlzeiten einzubauen.
Lösliche und unlösliche Ballaststoffe gelten beide als gesund, sie haben aber unterschiedliche Auswirkungen auf das Verdauungssystem und die Darmbakterien. »Menschen brauchen beide Arten, um ein gesundes Darmmikrobiom zu unterstützen«, sagt Robert Lustig, der als Arzt Menschen mit Fettleibigkeit behandelt und an der University of California in San Francisco forscht. In seinem aktuellen Buch »Metabolical: The lure and the lies of processed food, nutrition, and modern medicine« argumentiert Lustig, dass ein Mangel an Ballaststoffen bestimmten Darmbakterien die Möglichkeit raubt, sie in kurzkettige Fettsäuren zu verarbeiten, die eine positive, entzündungshemmende Wirkung auf den Körper haben.
»Je mehr künstliche Lebensmittel Sie zu sich nehmen, desto mehr Schwierigkeiten haben Ihre Darmbakterien, sie zu verdauen«
Tim Spector, Epidemiologe
Auch Epidemiologe Tim Spector ist überzeugt, dass eine der größten Gefahren von ultraverarbeiteter Nahrung darin liegt, dass sie Darmbakterien durcheinanderbringt. Die Ursache sieht er aber weniger in den Ballaststoffen als in künstlichen Zusatzstoffen wie Süßstoffen und Emulgatoren, die fettlöslichen Substanzen helfen, sich gleichmäßig mit Wasser zu vermischen. Studien an Nagetieren legen nahe, dass diese beiden Substanzen das Ökosystem des Mikrobioms verändern und dass Emulgatoren Bakterien in die Darmwand eindringen lassen, was Entzündungen fördert. »Je mehr künstliche Lebensmittel Sie zu sich nehmen, desto mehr Schwierigkeiten haben Ihre Darmbakterien, sie zu verdauen«, sagt Spector.
Jeder einzelne dieser Faktoren oder alle zusammen könnten Halls Resultate erklären. Es könnte aber auch etwas anderes dahinterstecken. Hall weist selbst darauf hin, dass mehr Forschung – und größer angelegte Studien – nötig sind, um die Mechanismen auseinanderzudividieren. »Die Wissenschaft ist hier noch nicht sehr weit«, sagt er.
Nichtsdestotrotz haben Halls Ergebnisse bereits Veränderungen angestoßen. Kurz nach dem Erscheinen seiner Studie veröffentlichte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen einen Bericht, in dem die Studie als »solides Bindeglied« zwischen ultraverarbeiteten Lebensmitteln und Krankheit bezeichnet wird. Als Konsequenz empfehlen die Autorinnen und Autoren eine Reihe von Maßnahmen, um Junkfood-Konsum zu reduzieren, darunter eine verbesserte Lebensmittelkennzeichnung, Werbeverbote und eine Steuer für alle, die Junkfood verkaufen.
Was es im Vereinigten Königreich und in anderen Ländern wie Norwegen oder Mexiko bereits gibt, ist eine Zuckersteuer. Diese soll dafür sorgen, dass zum Beispiel zuckerhaltige Softdrinks teurer werden, so dass weniger Menschen sie kaufen. Doch bislang haben nur Brasilien und Kanada eigene Empfehlungen zur Vermeidung von extrem verarbeiteten Lebensmitteln in ihre nationalen Richtlinien aufgenommen. Mehrere andere Staaten, darunter Großbritannien, planen ein hartes Vorgehen gegen den Verkauf und die Werbung für Lebensmittel mit hohem Fett-, Zucker- oder Salzgehalt.
In Deutschland können Hersteller seit Herbst 2020 eine erweiterte Kennzeichnung auf ihre Verpackungen drucken, die es ermöglichen soll, den Nährwert von Lebensmitteln innerhalb einer Produktgruppe auf einen Blick zu vergleichen. Der Nutri-Score nutzt eine fünfstufige Farbskala von A bis E, die von unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entwickelt wurde. Ein Beispiel: Der Jogurt mit gelbem C ist die ernährungsphysiologisch günstigere Wahl im Vergleich zum Jogurt mit einem orangefarbenen D. Wie aus dem Ernährungsreport 2021 hervorgeht, haben 44 Prozent der Befragten die Skala schon einmal auf einer Verpackung wahrgenommen. Von diesen Befragten sagen 45 Prozent, dass die Nutri-Score-Bewertung schon einmal Einfluss auf ihre Kaufentscheidung hatte.
Hungrig nach Veränderung
Aktivisten argumentieren, dass die Regierungen noch weiter gehen sollten, indem sie beispielsweise höhere Steuern auf derartige Lebensmittel einführen. Die Maßnahme ist umstritten, da verarbeitete Lebensmittel einen großen Teil der Ernährung der meisten Menschen in Industrienationen ausmachen. Auf Grund von Skaleneffekten sind verarbeitete Lebensmittel oft billiger als selbst gekochte Mahlzeiten und lassen sich schneller zubereiten. Für Menschen mit geringem Einkommen, die lange arbeiten, um eine Familie zu ernähren, ist das ein wichtiges Argument. »Man sollte es den Menschen wirklich nicht zu schwer machen, ihre Familien zu ernähren«, sagt Hall.
Kritiker geben zu bedenken, es sei aktuell schlicht unrealistisch, zu verlangen, dass die Menschen verarbeitete Lebensmittel aus ihrer Ernährung streichen. »Man kann den Leuten nicht einfach sagen, dass sie von heute auf morgen 60 Prozent ihrer derzeitigen Kalorienzufuhr unterbinden sollen, solange man ihnen keine echte Alternative bietet«, sagt Ciaran Forde von der Agentur für Wissenschaft, Technologie und Forschung in Singapur, der mit Hall an der Studie von 2019 gearbeitet hat. Der Kampf gegen Fast Food könne auch von anderen, wichtigeren Ernährungsempfehlungen ablenken, wie etwa der Reduktion von Fett oder Zucker, sagt Forde. Maßnahmen gegen Fast Food könnten die Menschen immerhin auch von gesünderen verarbeiteten Optionen abhalten, wie kalorienarmen Fertiggerichten.
Die industrielle Lebensmittelverarbeitung könnte sich sogar als Teil der Antwort erweisen. »Womöglich haben es uns Teile der modernen Lebensmittelumgebung zu einfach gemacht, zu viel zu konsumieren«, sagt Forde. »Aber die Neuformulierung von Lebensmitteln zur Verlangsamung des Konsums kann ein Teil der Lösung werden.«
Tatsächlich wurden bereits Lebensmittel entwickelt, die den Mangel an Ballaststoffen in der modernen Ernährung beheben sollen. Auch diese Lebensmittel sind als »ultraverarbeitet« einzustufen. So entwickeln manche Firmen Suppen, Jogurt und Brot mit zusätzlichen Ballaststoffen oder kurzkettigen Fettsäuren, die bei der Verdauung durch Darmbakterien entstehen. Die US-Firma BioLumen arbeitet etwa an einem Ballaststoffpulver, das man der Nahrung hinzufügen kann, damit mehr Nährstoffe den unteren Darm erreichen und die dort lebenden Darmbakterien ernähren.
»Es gibt 26 000 Chemikalien in unserer Nahrung«
Tim Spector
Jedoch sind diese neuartigen Lebensmittel wahrscheinlich teurer als ultraverarbeitete Produkte und damit nicht geeignet für ärmere Familien. Und da ein so großer Teil der modernen Ernährung aus industriell hergestellten Lebensmitteln besteht, ist ein vollständiger Ersatz durch derart hochtechnologisierte Alternativen kaum denkbar.
Abgesehen davon herrscht weiterhin keine Einigkeit darüber, was genau verarbeitete Lebensmittel ungesund macht. So ist es unklar, welche Bestandteile verarbeiteter Nahrung wir einschränken und welchen Anteilen der Vollwertkost wir frönen sollten. »Es gibt 26 000 Chemikalien in unserer Nahrung«, sagt Spector. »Wir wissen noch nicht wirklich, was in unseren Lebensmitteln steckt.«
Auch wenn die Mechanismen noch nicht vollständig verstanden sind, weist die Evidenz darauf hin, dass es gut ist, große Mengen ultraverarbeiteter Lebensmittel zu meiden. Während Forschende weiterarbeiten, lautet das Kredo daher: Essen Sie so viel Vollwertkost, wie es Ihr Budget und Ihre Umstände erlauben. Ihr Körper wird es Ihnen danken.
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