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Erschöpfung: Wenn uns das Immunsystem fertigmacht

Erschöpfung, das Joch der Kranken, ist nicht nur eines der Hauptsymptome von Infektionskrankheiten, sondern auch eine der belastenden Konsequenzen chronischer Erkrankungen. Die Frage, was Erschöpfung ist, scheint zwar einfach zu beantworten: Der Körper hat keine Energie mehr. Dieser Eindruck aber ist eine Illusion.
Frau liegt erschöpft auf dem Sofa

Eigentlich waren Russell Schaedler und Rene Dubos keine Verhaltensforscher. Doch mit einer Beobachtung in den 1950er Jahren stießen die Physiologen vom Rockefeller Institute in New York eine Revolution in der Verhaltensbiologie an. Ursprünglich wollten die beiden nur eine Merkwürdigkeit aufklären. Die Albino-Versuchsmäuse, die an ihrem Institut aufwuchsen, waren viel weniger anfällig für die tödliche Wirkung eines Bakteriengifts als Tiere, die an anderen Universitäten gezüchtet wurden. In einer Reihe von Experimenten stellte sich heraus, dass dies wohl an der vollkommen sterilen Umgebung lag, in der die Mäuse aufwuchsen.

Nebenbei aber fiel Schaedler und Dubos etwas auf: In niedrigen Dosen bewirkte das Bakteriengift auf wundersame Weise, dass die Mäuse bald nach der Injektion aufhörten zu fressen und zu trinken. Diesen Effekt schrieben sie lediglich als Randbemerkung in einen ihrer Artikel. Über jene Zeilen stolperten zwei Verhaltensforscher, John Holmes und Neal Miller, die damals an der Yale University arbeiteten. Ihr Forschungsinteresse galt nämlich der Frage, wie Verhaltensmuster auf körperlicher Ebene ausgelöst werden. Der Artikel von Schaedler und Dubos kam da wie ein Himmelsgeschenk; immerhin schien er zu belegen, dass sonst unschädliche Mengen Bakteriengift das Verhalten von Tieren manipulieren können.

Sofort wiederholten Holmes und Miller das Experiment ihrer New Yorker Kollegen, diesmal an Ratten. Und auch diese hörten 30 bis 45 Minuten nach der Injektion auf zu trinken. Doch die geschulten Augen der Verhaltensforscher sahen mehr: Die Tiere fraßen auch weniger und zogen sich sozial komplett zurück. Kurz, die Tiere wirkten erschöpft und zeigten alle Kennzeichen einer ausbrechenden Infektion – ohne akut mit einem Erreger infiziert zu sein. Holmes und Miller vermuteten, dass das Bakteriengift irgendwie auf das Gehirn der Ratten gewirkt hatte, genauer gesagt auf den Hypothalamus, einen Hirnteil, der großen Einfluss auf das Fressverhalten hat. Als die Forscher einer weiteren Gruppe Ratten das Bakteriengift aber direkt in den Hypothalamus injizierten, veränderte sich das Verhalten der Tiere nicht. Wie konnte das sein? Sie schlossen daraus, dass irgendein anderer »Faktor im Blut« die Erschöpfung bei den Ratten ausgelöst hatte. Welcher Stoff das sein könnte, blieb ein Rätsel.

Erschöpfung nicht als schädlicher, sondern sinnvoller Nebeneffekt

Im Jahr 1988 hatte der Physiologe Benjamin Hart von der University of California in Davis dann den entscheidenden Einfall. Zwischenzeitlich hatte die Immunologie bereits verstanden, dass Bakteriengifte ihre Wirkung nicht direkt entfalten, sondern eine starke Antwort des Immunsystems auslösen. Insbesondere wusste man nun, dass Immunzellen in Reaktion auf die Gifte eine Reihe von Botenstoffen ausstoßen. In diesen Zytokinen vermutete Hart den mysteriösen Faktor, der in Experimenten der 1950er und 1960er Jahre das Krankheitsverhalten hervorgerufen hatte. Dieses spezifische Verhaltensmuster hänge in erster Linie mit dem Auftreten des Zytokins Interleukin-1 zusammen, schrieb er im Journal Neuroscience & Behavioral Reviews. Das lag nahe. Aber anders als praktisch alle seine Vorgänger beschrieb Hart die Erschöpfung kranker Tiere nicht als schädlichen Nebeneffekt, sondern als »eine organisierte, evolutionär entwickelte Handlungsstrategie, die die Rolle des Fiebers beim Kampf gegen Infektionen unterstützt«.

»Heute wissen wir, dass Zytokine, die bei einer Entzündung ausgeschüttet werden, vom Gehirn registriert werden«, sagt Robert Dantzer vom MD Anderson Cancer Center der University of Texas in Houston (USA). Das geschehe auf mindestens zwei Wegen: Zum einen melden Nerven dem Gehirn direkt, wenn diese Signalmoleküle im Gewebe des Mund-Rachen-Raums oder des Magen-Darm-Trakts ausgeschüttet werden. Zum anderen gelangen Spuren der Moleküle mit dem Blutstrom bis in die Hirngefäße, egal wo im Körper die Entzündung stattfindet.

Noch vor 20 Jahren hätte jeder Mediziner gesagt, dass Zytokine niemals ins Gehirn gelangen könnten. Immerhin liegen die Epithelzellen der Blutgefäße dort so dicht aneinander, dass nur Gase durch sie hindurch diffundieren können. Größere Moleküle, wie etwa Glukose, nutzen dagegen spezielle Transporterproteine, um Einlass in das Gehirn zu erhalten. Heute wissen wir, dass diese Blut-Hirn-Schranke weit durchlässiger für Immunsignale ist als angenommen. Denn die Barriere in den Wänden der Flüssigkeitskammer des Gehirns (den Ventrikeln) ist etwas schwächer ausgebildet, und in den Wänden des Gefäßsystems sitzen hirneigene Immunzellen, die mit Rezeptoren für Zytokine bestückt sind. Docken die Botenstoffe an die Rezeptoren, beginnen diese Zellen selbst Zytokine auszuschütten, diesmal direkt ins Hirngewebe.

Gemeinsamkeit verschiedenster Erkrankungen: Erschöpfung

»So erzeugt das Immunsystem des Gehirns eine Art Abbild der Immunaktivität im Rest des Körpers und manipuliert dabei die Hirnaktivität«, sagt Dantzer. Es sei dieser Dialog des Immunsystems mit dem Nervensystem, der bei Entzündungen für das Erschöpfungsgefühl verantwortlich sei. Was genau in diesem zellulären Gespräch verhandelt wird und wo das genau geschieht, ist nicht geklärt. Die generelle Idee ist aber, dass Zytokine im Gehirn die Produktion, Ausschüttung und Wiederaufnahme von Neurotransmittern modulieren, darunter jene, die stark auf das Verhalten wirken, wie Dopamin und Serotonin. Nervenzellen in verschiedensten Hirnbereichen tragen Rezeptoren zumindest für das Zytokin Interleukin-1. Auffällig viele gibt es auf den Neuronen des Hypothalamus, dessen Rolle beim Fressverhalten schon Holmes und Miller vermuteten.

Neben Interleukin-1 gibt es viele weitere Zytokine, die als möglicher Auslöser von Erschöpfung immer wieder diskutiert werden. Eines davon ist TNF-α (Tumornekrosefaktor-alpha). TNF-α vermag die ganze Palette des Krankheitsverhaltens hervorzubringen. Hochgefahren wird seine Aktivität, wie die von Interleukin-1 auch, bei ganz verschiedenen Erkrankungen, darunter Krebs, Depression, multipler Sklerose, Rheuma oder das Reizdarmsyndrom. Gemeinsam haben diese Krankheiten praktisch nur eines: die nachhaltige Erschöpfung derer, die unter ihnen leiden. Es verwundert also nicht, dass Zytokine wie Interleukin-1 und TNF-α auch als potenzieller Auslöser des chronischen Erschöpfungssyndrom (CFS) verhandelt werden.

»Beim chronischen Erschöpfungssyndrom liegt die Erschöpfung im Gehirn. Wo genau, wissen wir nicht«Jos van de Meer

»Patienten mit CFS leiden unter einer dauerhaften zentralen Erschöpfung, für die es bisher keine körperliche Erklärung gibt«, sagt Jos van de Meer, Professor emeritus an der Radboud-Universität in Nimwegen und einer der weltweit führenden Experten für CFS. »Bei CFS liegt die Erschöpfung im Gehirn. Wo genau, wissen wir nicht.« Hinweise darauf, dass Zytokine auch bei CFS eine Rolle spielen könnten, haben sich während der vergangenen Jahre gemehrt. So verglich die Forschungsgruppe um Mark Davis von der Stanford University kürzlich die Mischung der Zytokine im Blut von 192 CFS-Patienten mit der in 392 gesunden Probanden. Zwar war das Niveau von nur zwei Zytokinen im Blut der Patienten signifikant verändert. Allerdings zeigte sich, dass 17 Zytokine umso stärker verändert waren, je stärker die Erschöpfungssymptome bei den Patienten ausfielen.

Chronisches Erschöpfungssyndrom | Noch ist vieles nicht geklärt beim chronischen Erschöpfungssyndrom. Das mag auch daran liegen, dass Erschöpfung nach verschiedenen Krankheiten unterschiedlich ist und wir stets nur das gleiche Wort verwenden.

Klar sei damit aber noch lange nicht, ob die Zytokine, die im peripheren Blut gemessen werden, die Erschöpfung auslösen, sagt van de Meer. Wolle man der Rolle der Zytokine auf die Schliche kommen, müsse man gleich mehrere Hindernisse überwinden. So gibt es, anders als bei anderen Erkrankungen, kein gutes Tiermodell für CFS. Und beim Menschen ist ihre Menge im Blut so klein, dass sie sehr anfällig für Umwelteinflüsse ist. Deshalb vertraut van de Meer Ergebnissen wie denen von Mark Davis nicht so schnell. »Es gibt jede Menge Studien über die Rolle von Zytokinen bei Erschöpfung, die nicht reproduziert werden können.« Das habe drei Hauptgründe: Erstens sei es sehr schwer, Zytokine im Blut exakt zu messen; als Laborforscher mache man dabei leicht Fehler. Zweitens dürfe man Patienten, die unter Erschöpfung leiden, nicht alle in einen Topf schmeißen. »Wenn ein Proband für eine Zytokinstudie zu uns ins Labor kommt, dann ist er vielleicht schon eine Stunde mit dem Zug oder im Auto gefahren.« Dieser Stress allein sei genug, um die Aktivität des Immunsystems so sehr zu verändern, dass Unterschiede zwischen Patienten und Gesunden verschwimmen. Und drittens sei nicht klar, ob die Zytokinniveaus im peripheren Blut die Zytokinniveaus im Gehirn reflektieren.

Viele Studien können nicht reproduziert werden

Um diese Probleme zu umschiffen, probierte van de Meers Gruppe im Jahr 2016 etwas Neues. Anstatt die Aktivität von Zytokinen nur zu messen, versuchten die Forscher, sie zu kontrollieren. Dazu injizierten sie 50 CFS-Patienten einen Blocker des Rezeptors für Interleukin-1 über einen Zeitraum von vier Wochen. Das Ergebnis: Nichts geschah. Die Patienten litten am Ende der Behandlung noch immer so sehr unter der Erschöpfung wie zuvor. Doch trotz all dieser Schwierigkeiten, die Zytokine dingfest zu machen, glaubt van de Meer an die »Zytokin-Hypothese« der Erschöpfung. »Ich vermute, dass wir mit unserer Behandlung die Aktivität der Zytokine im Gehirn nicht ausreichend beeinflussen konnten«, erklärt er. Außerdem gebe es durchaus saubere Studien, die ein kleines Zytokinsignal im Blut von CFS-Patienten zeigen. Eine dieser Studien erschien im Jahr 2015 im Journal Science Advances. Die Autoren um W. Ian Lipkin von der Columbia University in New York konnten darin zeigen, dass die Zytokinaktivität in 52 CFS-Patienten von jener in 348 gesunden Probanden deutlich verschieden ist – allerdings nur bei kürzlich Erkrankten. Bei jenen, die schon länger unter der Erschöpfung litten, verschwand das Zytokinsignal im peripheren Blut.

Ist die periphere Immunaktivität also der Auslöser der Erschöpfung, und die hirneigene Immunaktivität macht sich manchmal einfach selbstständig? Die Tatsache, dass viele CFS-Patienten nach einer schweren Infektion an einer dauernden Erschöpfung leiden, könnte ein Hinweis darauf sein. Auch bei Krebspatienten bleibt die Erschöpfung oft Monate nach einer erfolgreichen Therapie bestehen.

Um solche Vermutungen zu untermauern, brauche es eindeutig ein gutes Tiermodell der Erschöpfung, sagt Jos van de Meer, und die Möglichkeit, die Zytokinaktivität im Gehirn von Menschen zu messen. Robert Dantzer fügt hinzu, dass wir sogar unseren Begriff der Erschöpfung erweitern müssen. »Eskimos haben 100 Begriffe für verschiedene Arten von Eis«, sagt er. »Vermutlich sind die Mechanismen der Erschöpfung bei Menschen mit MS, Krebs, Entzündungen oder CFS verschieden. Wir haben aber nur ein Wort dafür.« Bisher würden Erschöpfung und ihre Schwere bei den meisten Krankheiten nur mit Fragebogen gemessen. »Die Antworten von Patienten beschreiben zwar das Problem, aber sie verweisen nicht auf die spezifischen Ursachen.« Deshalb nutzt Dantzer keine Fragebogen mehr, sondern testet seine Patienten darauf, wie viel Anstrengung sie bereit sind aufzuwenden, um eine Aufgabe zu erledigen. Mit solchen Messverfahren hofft Dantzer, einmal verschiedene Arten der Erschöpfung identifizieren zu können.

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