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Schädel-Hirn-Trauma: Erschütternde Folgen

Schon alltägliche Schädel-Hirn-Verletzungen können schwer wiegende Langzeitfolgen haben: Eine noch kaum bekannte Kettenreaktion setzt den Nervenzellen zu.
Schädel im Röntgenbild

Zu Beginn ist pure Mechanik am Werk: Ein Sturz, ein Autounfall oder eine unglückliche Aktion beim Sport versetzt dem Kopf einen kräftigen Stoß. Der Aufprall zieht den Schädelknochen in Mitleidenschaft, das Gehirn im Schädel wird durchgerüttelt. Dabei wird das Hirngewebe beschädigt, Blutgefäße platzen, und sogar Nervenzellfortsätze können zerreißen. Doch dieser so genannte primäre Schaden ist erst der Anfang.

Wie bei einem Dominoeffekt setzt auch bei einem Schädel-Hirn-Trauma nach dem Fallen des ersten Steins eine regelrechte Kettenreaktion ein; eine Kettenreaktion, von der lange Zeit niemand etwas wusste. Nun wächst in Forscherkreisen die Hoffnung: Lässt sie sich stoppen?

Forscher wie der Neurologe Alan Faden von der University of Maryland School of Medicine sorgen derzeit für ein Umdenken beim Thema Schädel-Hirn-Trauma. Faden geht davon aus, dass ein solches Trauma chronische Entzündungen im Gehirn in Gang setzen kann. "Entzündungen im Gehirn sind bei dieser Erkrankung ein zentraler Aspekt und wurden lange Zeit zu wenig beachtet", sagt der Neurologe. Mit moderner Bildgebung könne man anhaltende Entzündungen schon bei einem mittelschweren Trauma beobachten, etwa nach einem Autounfall. Auch leichte Traumata haben diese Folgen, wenn sie wiederholt auftreten – zum Beispiel durch Kopfstöße beim Kampfsport.

Welche Entzündungsreaktionen im Detail ablaufen, ist noch nicht ganz klar. In einer Übersichtsarbeit von 2016 hat Faden aber mit Kollegen die möglichen Vorgänge nachgezeichnet. Eine unrühmliche Rolle spielen ganz offensichtlich Mikroglia: Diese Zellen sind Teil des Immunsystems des Gehirns. Mit ihren haarfeinen, weit verzweigten Ärmchen scannen sie fortlaufend das Gewebe. Gibt es einen Notfall, dringen sie zügig zum Katastrophenherd vor und fressen dort etwa Krankheitserreger auf.

Aus dem Ruder gelaufene Entzündungen

Im Fall des Schädel-Hirn-Traumas werden die Mikroglia aktiviert, um den primären Schaden einzudämmen, indem sie angegriffenes Gewebe entsorgen und die Reparaturarbeiten unterstützen. Doch wird das Gehirn wiederholt erschüttert oder ist das Trauma ausreichend schwer, bleiben sie auf Dauer aktiv. Im chronischen Stadium laufen die ursprünglich sinnvollen Entzündungsreaktionen aus dem Ruder. Es überwiegen nun solche Varianten von Mikrogliazellen, die die Entzündungen immer weiter vorantreiben und dabei auch gesundes Nervengewebe angreifen.

Alan Faden und seinen Kollegen fiel in Studien an Tieren nicht nur auf, dass nach einem Trauma Nervenzellen in erheblichem Maß abstarben. Sie registrierten auch auffällig viele aktivierte Mikrogliazellen. Solche Veränderungen konnte das Team selbst Wochen nach dem eigentlichen Trauma beobachten. Und noch auf einen weiteren Zusammenhang stießen die Forscher: Wiederholte Traumata und die nachfolgenden Entzündungsreaktionen gingen einher mit einem in seiner Funktion geschwächten Hippocampus – einer Hirnregion, die für das Langzeitgedächtnis unerlässlich ist. Auch bei verstorbenen Patienten fanden andere Forscher übermäßig viele aktivierte Mikrogliazellen, sogar noch Monate oder Jahre nach dem Unfall.

Auch leichte Traumata können Entzündungsreaktionen auslösen | … sofern sie oft wiederholt werden. So etwa bei häufigen Kopfbällen, im Kampfsport oder bei körperbetonten Sportarten wie American Football.

Die Kettenreaktion der chronischen Entzündungen könnte erklären helfen, wie es zu dem komplexen Geflecht von Folgeschäden kommt. Epidemiologische Studien zeigen nämlich, dass ein Trauma nicht nur Entzündungen hervorruft, sondern auch den Abbau von Nervenzellen vorantreibt. "Das legt zumindest nahe, dass es einen Zusammenhang zwischen Entzündungsreaktionen und neurodegenerativen Erkrankungen gibt", sagt Thomas Wirth, Direktor des Instituts für Physiologische Chemie an der Universität Ulm. Gleich mehrere Untersuchungen [1, 2, 3] haben ergeben, dass Patienten mit einem Schädel-Hirn-Trauma ein erhöhtes Risiko haben, später im Leben an einer Demenz zu leiden; und Athleten und Boxer mit Gehirnerschütterungen entwickeln mit höherer Wahrscheinlichkeit Parkinson.

Parkinson im traumatisierten Gehirn

Auch Tierstudien sollen dazu beitragen, die Sachlage zu klären. 2014 schon konnte ein Team um den Neurologen Cesar Borlongan vom University of South Florida College of Medicine einen Zusammenhang zwischen Trauma und Parkinson herstellen. Die Wissenschaftler fanden bei Mäusen 60 Tage nach einem Schädel-Hirn-Trauma nicht nur viele aktivierte Mikrogliazellen, sondern auch Erscheinungen, wie sie für Parkinson typisch sind, insbesondere in Zellen des Mittelhirns. Als Auslöser für die Bewegungssteuerung haben viele Forscher ein kleines Protein in Verdacht, Alpha-Synuclein genannt. Es könnte toxisch auf die Nervenzellen wirken, wenn es in falsch gefalteter Form vorliegt. Vereinfacht ausgedrückt verklumpt es in Zellen des Mittelhirns auf abnorme Weise – und zwar speziell in jenen Neuronen, die den für die Bewegungssteuerung wichtigen Botenstoff Dopamin produzieren. Die Zellen sind mit der Entsorgung der Ablagerungen überfordert und sterben. Anzeichen für einen solchen Vorgang fanden Borlongan und Kollegen im Gehirn ihrer Versuchsmäuse.

So fatal die Kettenreaktion ist, sie könnte auch ihr Gutes haben. Zwar sind Mediziner beim primären Schaden des Schädel-Hirn-Traumas machtlos. Sie können aber möglicherweise auf die Folgeschäden therapeutisch einwirken. "Wenn wir eine Strategie fänden, die Entzündungen zu bremsen, können wir vielleicht die chronische Neurodegeneration stoppen", sagt Cesar Borlongan. "Und damit gleichzeitig die Parkinson und Alzheimer ähnelnden Symptome."

Thomas Wirth betont zwar, dass der letzte Beweis dafür noch aussteht, dass es tatsächlich einen ursächlichen Zusammenhang gibt zwischen einem Schädel-Hirn-Trauma und neurodegenerativen Erkrankungen. "Bislang ist deshalb nicht geklärt, ob die lang anhaltenden Entzündungsreaktionen positive oder negative Auswirkungen haben." Dennoch arbeiten Forscher bereits jetzt daran, die Entzündungsreaktionen im Gehirn zu beeinflussen.

Schon länger ist bekannt, dass körperliche Betätigung Entzündungen reduzieren und die Genesung nach einer Hirnverletzung beschleunigen kann. Das wollten sich auch Alan Faden und seine Kollegen zu Nutze machen und verordneten in ihrer Studie Mäusen fünf Wochen nach einem Schädel-Hirn-Trauma vier Wochen lang ein körperliches Ertüchtigungsprogramm in einem Laufrad. Und siehe da: Es ging nicht nur die Zahl der aktivierten Mikrogliazellen im Vergleich zu Kontrollmäusen zurück; auch die Schäden des Nervengewebes bildeten sich zurück; und die Nager hatten geringere Probleme mit ihrem Gedächtnis.

Chemie gegen Mikroglia?

Eine medikamentöse Behandlung könnte ebenfalls Abhilfe schaffen und wird derzeit intensiv erforscht, darunter die Therapie mit Minocyclin. Das Antibiotikum soll die Aktivierung der Mikroglia hemmen und letztlich Nervenzellen schützen. In mehreren Tierstudien hat sich der Wirkstoff als effektiv darin erwiesen, Neurone nach einem Schädel-Hirn-Trauma vor dem Tod zu bewahren. "Aber ob das auch bei Menschen funktioniert, ist fraglich", zeigt sich Thomas Wirth skeptisch. Vor einigen Jahren habe man bei der neurodegenerativen Erkrankung amyotrophe Lateralsklerose eine Studie abgebrochen, weil es den mit Minocyclin behandelten Patienten schlechter ging als den Kontrollpatienten.

"Ganz allgemein zeigen bislang antientzündliche Therapien mit Glucocorticoiden nach Schädel-Hirn-Trauma keine eindeutig positiven Wirkungen", so Wirth. Vermutlich mache es keinen Sinn, die Entzündungen pauschal zu hemmen. Denn letztlich fielen die Entzündungsreaktionen in den einzelnen Zelltypen im Gehirn unterschiedlich aus. "Hier brauchen wir einfach noch mehr Forschung, um herauszufinden, welche Zellen zu welchem Zeitpunkt welches Aktivierungsprofil zeigen." Und man müsse in Erfahrung bringen, welche der Zellen durch diese Aktivierung den Verlauf des Schädel-Hirn-Traumas positiv und welche ihn negativ beeinflussen. Thomas Wirth geht davon aus, dass es in Zukunft darauf ankommt, die Entzündungsreaktion nur in ganz bestimmten Zellen zu bremsen, und das zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt. "Wenn das gelingt, bin ich optimistisch, dass wir die Langzeitfolgen eines Schädel-Hirn-Traumas positiv beeinflussen können."

Auch wenn noch viel Arbeit auf die Forscher wartet, wird es sich lohnen, die einzelnen Schritte der Kettenreaktion weiter aufzudröseln. Wie bei den Dominosteinen könnte schon ein einziger Eingriff ausreichen, um das ganze Geschehen zum Erliegen zu bringen.

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