Krebsforschung: Ersehnte Serientäter
Im April 2012 haben Mediziner am Children's Hospital of Philadelphia einen letzten Versuch unternommen, die siebenjährige Emily Whitehead zu heilen: Sie setzten modifizierte Immunzellen des Mädchens ein, um ihre akute lymphatische Leukämie (ALL) einzudämmen. Der Blutkrebs war zuvor trotz intensiver Chemotherapie hoffnungslos fortgeschritten. Aber am Ende hatten die Mediziner den Krebs nicht nur gestoppt – tatsächlich rotteten die verabreichten Zellen sämtliche Tumorzellen aus.
Der Erfolg, den der amerikanische Immunologe Carl June von der University of Pennsylvania in Philadelphia im Dezember vergangenen Jahres publik gemacht hat, war kein plötzlicher Durchbruch. Seit 25 Jahren hatten Forscher daran gearbeitet, körpereigene Immunzellen von Patienten so zu verändern, dass sie Krebszellen aufspüren und zerstören.
Im Endeffekt wollten die Krebsforscher dabei Gleiches (den körpereigenen Tumor) mit Gleichem (körpereigenen Immunzellen) bekämpfen – womit sie sich gleichzeitig ein lange Zeit ungelöstes Problem schufen. Denn eigenes, wenn auch entartetes Gewebe weiß der Körper vor einem unpassenden Immunangriff effizient zu schützen. Dabei können die so genannten T-Zellen typische Merkmale an der Oberfläche von Krebszellen – die Tumorantigene – ja durchaus erkennen. Die Immunzellen vernichten Zellen denn auch, nachdem sie an deren Oberfläche mit ihrem T-Zell-Rezeptor an einem aus dem Erreger stammenden Bruchstück – dem Antigen – angedockt haben. "An die meisten Tumorantigene allerdings kann der T-Zell-Rezeptor nicht stark genug binden, um die Zerstörung der Tumorzelle in die Wege zu leiten", erklärt Jürgen Kuball, der das Labor für Experimentelle Hämatologie und Immuntherapie an der Universitätsklinik Utrecht in den Niederlanden leitet. Diese kommen ebenfalls auf gesunden Zellen vor, und der Körper habe gelernt, sie zu verschonen.
Potente Chimären-Rezeptoren …
Diesen Selbstschutzmechanismus wollte schon in den 1980er Jahren der israelische Immunologe Zelig Eshhar vom Weizmann Institute of Science in Rehovot umgehen. Er entwickelte damals viel potentere T-Zell-Rezeptoren, indem er die Bindungsstelle des Rezeptors durch einen Antikörper ersetzte – ein kleines Immunmolekül, das an fremde Antigene bindet und in Mäusen generiert worden war. Es entstanden Chimären-Rezeptoren aus einem Antikörper und dem inneren, natürlichen Teil des T-Zell-Rezeptors, die die Forscher später "chimeric antigen receptors" (CARs) nannten und die im Labor jedes beliebige Tumorantigen effizient erkennen konnten.
Einen solchen CAR setzten Carl June und sein Team bei der kleinen Emily Whitehead ein. Das Konstrukt war so konzipiert, das es CD19 erkannte – ein Antigen, das auf allen B-Zellen vorkommt und gleichzeitig auf ihren bösartigen Entartungen wie der ALL, an der Emily litt. Die Forscher entnahmen ihrer Patientin Millionen von T-Zellen und brachten den Bauplan für den neuen Rezeptor mittels eines inaktivierten HI-Virus ein. Diese neu ausgestatteten CTL019-("Cytotoxic T-Lymphocyte 019"-)Zellen spürten ihre Krebsbeute auf und rotteten sie innerhalb von drei Wochen komplett aus [1].
Emily ist nicht die Erste, die mit CARs behandelt wird: Seit mindestens 15 Jahren werden sie in Krebspatienten eingesetzt, allerdings lange ohne Erfolg. "Die ersten Prototypen konnten sich kaum vermehren und waren nach einer Woche aus dem Blut verschwunden", erklärt Kuball. Eine große Hürde, denn um große Mengen an Tumorzellen zu eliminieren, müssen die T-Zellen im Körper lange genug überleben und sich vermehren können. Die Wende kam 2002, als die Gruppe von Michel Sadelain vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York ein neues CAR-Element einbaute. Die Forscher fügten den CD28-Korezeptor dem Konstrukt hinzu – ein Molekül, das die T-Zellen zur Vermehrung anregt, sobald sie ihr Zielantigen erkennen [2]. Sadelain selbst konnte mit den so entstandenen "CARs der zweiten Generation" nur mäßige Effekte in seinen Patienten beobachten. June und sein Team aber verwendeten einen anderen Korezeptor: 4-1BB, und hatten damit Erfolg: 2011 konnten sie mit den verwendeten CTL019-Zellen in zwei unheilbar an Chronischer Lymphatischer Leukämie (CLL) erkrankten Erwachsenen den Blutkrebs vollständig zurückdrängen [3,4].
… und gefährliche Angreifer
Die Forscher errechneten, dass sich die CTL019-Zellen im Körper der Patienten derart vermehrt hatten, dass jede verabreichte Zelle samt Nachkommen mehr als 1000 Tumorzellen eliminierte. "Sie arbeiten wie Serientäter", erklärt June. "Nachdem sie eine anvisierte Zelle vernichtet haben, gehen sie zur nächsten." Die heftige Attacke verläuft aber nicht ohne Risiko für den Patienten. Denn wenn eine T-Zelle ihr Ziel effizient erkennt, schüttet sie sehr wirksame Botenmoleküle aus – so genannte Zytokine. Weil die CTL019-Zellen gleichzeitig auf Millionen von Tumorzellen treffen und sich daraufhin vermehren, werden in kurzer Zeit enorme Mengen an Zytokinen im Körper der Patienten freigesetzt – was rasch zum von Medizinern gefürchteten "Zytokin-Sturm" führt: einem kritischen Zustand, der durch drastisch ansteigende Körpertemperatur, fallenden Blutdruck und Organversagen gekennzeichnet ist. Auch Emily schwebte infolge des Zytokin-Sturms eine Woche lang zwischen Leben und Tod. Erst die Verabreichung eines Medikaments, das die Konzentration eines der Zytokine herunterregulierte, konnte ihren Zustand stabilisieren.
Der Zytokin-Sturm ist nicht die einzige gefährliche Nebenwirkung der CAR-Therapie. "Das Zielantigen sollte mit extremer Vorsicht ausgewählt werden", sagt Steven Rosenberg vom National Cancer Institute in Bethesda, einer der Ersten, die die Technologie bei Krebspatienten einsetzte. Dadurch, dass die CAR-Zellen sehr potente Angreifer sind, können starke Autoimmunreaktionen auftreten. 2010 berichteten er und seine Gruppe von einer Brustkrebspatientin, die kurze Zeit nach der Behandlung an Atemnot gestorben war. Es stellte sich heraus: Das von Rosenberg verwendete Zielantigen befand sich nicht nur auf dem Tumor, sondern in geringerer Menge auch im Lungengewebe, das daher ebenfalls ins Visier der CAR-Zellen geraten war.
Einer CTL019-Therapie fallen auch gesunde Zellen zum Opfer: Das Zielantigen CD19 wird nicht nur von leukämisch entarteten Zellen, sondern auch von allen normalen B-Zellen getragen. Diese werden deshalb ebenfalls eliminiert. B-Zellen sind allerdings wichtige Protagonisten der natürlichen Immunabwehr: Sie produzieren die Antikörper, die uns vor Erregern schützen. Ohne B-Zellen müssen die mit CTL019 behandelten Patienten regelmäßig Antikörper-Infusionen erhalten, um sie vor Infekten zu bewahren.
Wächter für einen langfristigen Schutz
Diese Gegenmaßnahme ist gut zu handhaben, muss aber für unbestimmte Zeit, womöglich also sehr lange durchgeführt werden. Denn in den ersten erfolgreich therapierten Patienten lassen sich bis heute – nach fast drei Jahren – immer noch CTL019-Zellen nachweisen. Ein wünschenswerter Effekt, denn "wir wissen nicht, ob die CTL019 die Leukämie endgültig ausrottet oder nur in Schach hält", gibt June zu. Das Fortbestehen von Wächterzellen, die neu entstandene Tumorzellen aufspüren und gleich abfangen, könnte also dem langfristigen Effekt zu Grunde liegen. "Ähnlich wie bei einer Impfung, wo Gedächtniszellen erzeugt werden, die uns ein Leben lang vor potenziellen Erregern schützen", erklärt June.
Bis jetzt wurden die gegen CD19 gerichteten CAR-Zellen nur bei Leukämiepatienten eingesetzt, bei denen keine Knochenmarktransplantation durchgeführt werden konnte – für viele die einzige Chance auf Heilung. Bei dem ultimativen Eingriff wird das komplette Blutsystem des Patienten durch das eines Spenders ersetzt, "was mit schwer wiegenden Nebenwirkungen verbunden ist und nicht allen Patienten zumutbar ist", so Kuball. Dazu kommt, dass die Spenderzellen genug Raum haben müssen, um sich anzusiedeln. Das setzt voraus, dass die Leukämiezellen vorher mit Chemotherapie dezimiert werden, was – wie in Emilys Fall – nicht immer gelingt. Bei fünf an ALL erkrankten Erwachsenen mit resistenter Leukämie hatte die Gruppe von Michel Sadelain allerdings Erfolg: Sie konnte die Tumorzellen mit CAR-Zellen vollständig zurückzudrängen – worauf sie transplantiert werden konnten [5]. Ob die potenten Eindringlinge allein für eine Heilung gereicht hätten, wissen die Forscher nicht. Doch zumindest bei der Behandlung von Leukämien, wo die B-Zellen außer Kontrolle geraten, ist es ein festes Ziel geworden: June vermutete, dass "diese Art von Therapie die Knochenmarktransplantation und vielleicht eines Tages sogar den standardisierten Einsatz der Chemotherapie ersetzen könnte".
Derzeit testen sieben große medizinische Zentren in den Vereinigten Staaten im Rahmen von klinischen Studien die CAR-Therapie gegen CD19 an, darunter das Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York und die University of Pennsylvania in Philadelphia – dort unter der Feder von Carl June. Hier wurden bis jetzt neben der kleinen Emily Whitehead zehn an CLL erkrankten Erwachsenen behandelt. Bei fünf konnte die Therapie den Krebs komplett verdrängen – was bei zwei Patienten nach fast drei Jahren noch anhält. Bis jetzt traut sich dennoch niemand, von Heilung zu sprechen. Es gilt, was die Ärztin zu einem der zuallererst behandelten Patienten sagte: "Wir wissen nicht, wie lange die Therapie wirkt. Genießen Sie jeden Tag." Seit August 2010 ist der Patient tumorfrei. Und auch bei Emily zeigte die letzte Untersuchung – ein Jahr nach der Behandlung – kein Anzeichen der Krankheit.
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