Naturschutz und Lebensraum: Erster Braunbär seit Bruno in Deutschland
Die Rückkehr des Bären nach Deutschland verlief heimlich, aber nicht, ohne Spuren zu hinterlassen. Offenbar schon im Frühsommer 2019 machte sich ein männlicher Jungbär vom italienischen Trentino aus auf den Weg. Anfang Juni riss er im österreichischen Pitztal drei Schafe, zwei Wochen später tappte er in die Fotofalle eines Tiroler Jägers. Und am 1. Oktober erbrachte eine aufmerksame Touristin im Allgäu schließlich den Fotobeweis für den ersten Besuch eines Bären in Bayern 13 Jahre nach »JJ1« alias Bruno. Ein auffallend großer Kothaufen hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Kein Wunder, ist die Losung des Braunbären doch nicht nur auf Grund ihrer Masse, sondern auch wegen ihres Geruchs außergewöhnlich: Im Frühling »raubtierscharf und im Sommer stechend süßlich«, erläutern österreichische Bärenspezialisten den Duft. Die Bärenlosung wird in »großen Haufen« abgesetzt und kann »eine Dicke wie ein Handgelenk erreichen«. Motiv genug also für ein ungewöhnliches Urlaubsfoto, über das sich Bären-Experten aus dem benachbarten italienischen Trentino und des bayerischen Landesamts für Umwelt eilig beugten. Die Experten waren sich sicher, dass die Touristin im Balderschwanger Tal die Hinterlassenschaften eines Bären aus der kleinen, aber wachsenden Trentino-Population – rund 120 Kilometer von Bayern entfernt – abgelichtet hatte.
In der Woche darauf lief der Bär dann erneut an einer Wildkamera nahe Garmisch-Partenkirchen vorbei. Das dabei entstandene Foto räumte den letzten Zweifel an seiner Anwesenheit in Bayern aus. »Der Bär verhält sich unauffällig und völlig arttypisch und meidet den Kontakt zu Menschen«, sagt eine Sprecherin des mit dem Bären-Management beauftragten Landesumweltamts. »Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung«, versichert sie. Überhaupt fehlen bislang die scharfen Töne seitens der Landesregierung komplett. Anders als 2006. Damals hatte Ministerpräsident Edmund Stoiber Bruno nach Angriffen auf Nutztiere auch in Menschennähe vom »Schadbären« zum »Problembären« befördert und so den Weg zum Abschuss nach vergeblichen Einfangversuchen frei gemacht. »Die Stimmung ist heute eine andere. Selbst die Scharfmacher, die sonst reflexhaft den Abschuss fordern, sind weitgehend verstummt«, beobachtet Andreas von Lindeiner, der als Vertreter des Landesbunds für Vogelschutz (LBV) im »Netzwerk große Beutegreifer« sitzt.
Dass es dieses Netzwerks zum Monitoring zugewanderter Bären gibt, war eine der Konsequenzen aus dem Tod von Bruno. Nun arbeiten Mitgliedern aus fast 30 Verbänden und Institutionen von Jägern, Naturschützern, Landwirten und Verwaltungsexperten mit. Sie beschäftigen sich unter anderem damit, eine Steuerungsgruppe für das Auftreten aller drei großen Beutegreifer, also Luchs, Wolf und Bär, einzurichten sowie Umgang und Management von Braunbären zu planen. Ziel ist dabei ein »möglichst konfliktarmes Miteinander von Mensch und zu- beziehungsweise durchwandernden Bären« und dass Bären, die nach Bayern kommen, »innerhalb des vorgegebenen rechtlichen Rahmens ihren Lebensraum selbst wählen dürfen« sollen.
»Raubtierscharf und im Sommer stechend süßlich«
Kotgeruchcharakterisierung durch Experten
Detailliert wird aufgelistet, welches Bärenverhalten wie bewertet werden muss und welche behördlichen Reaktionen darauf folgen. So sollen Alleingänge örtlicher Jäger und Fehlinterpretationen des Bärenverhaltens ausgeschlossen werden. Das für manche bedrohlich wirkende Aufrichten eines Bären auf die Hinterbeine wird etwa als ungefährlich eingestuft. Das Vordringen in Dörfer wird dagegen als »gefährlich« bewertet, erlaubt aber noch keine »Entnahme«, also Fang oder Tötung. Dies wird erst zwingend, wenn das Tier in bewohnte Gebäudeteile eindringt, einem Menschen in Sichtweite folgt, um ihn »als potenzielle Beute auszutesten« oder wenn er einen Menschen schwer verletzt oder gar tötet. Das stoibersche Vokabular vom »Schad«- oder »Problembären« findet sich im Managementplan übrigens nicht.
5 Tipps bei einer Bärenbegegnung
Einem Bären als Wanderer oder Pilzesammler zu begegnen, ist extrem unwahrscheinlich. »Die Tiere riechen und hören Menschen auf hunderte Meter und weichen ihnen aus«, sagt Bärenexperte Swenson. Selbst Förster in Bärengebieten sähen die Tiere während ihres Berufslebens nur selten, manchmal gar nicht. Dennoch gilt grundsätzlich: Bären können neugierig auf Menschen reagieren und ihnen auch sehr gefährlich werden. Respekt, Besonnenheit und Rückzug lautet die Devise bei einer Bärenbegegnung. Das Bayerische Landesamt für Umwelt gibt konkret folgende Ratschläge:
- Abstand halten.
- Ruhig und gelassen bleiben: nicht wegrennen, aber auch keine weitere Annäherung.
- Stehen bleiben und durch ruhiges Sprechen und langsame Armbewegungen auf sich aufmerksam machen.
- Keine Äste oder Steine nach dem Bären werfen oder sonst wie versuchen, das Tier zu verscheuchen.
- Den Bären im Auge behalten und sich langsam und kontrolliert zurückziehen. Dabei darauf achten, den Bären nicht in die Enge zu treiben, sondern ihm eine Möglichkeit zum Ausweichen zu geben.
»Ich glaube, dass wir mit dem Managementplan gut gewappnet sind«, sagt Lindeiner. Und die Sprecherin des Umweltamts verweist auf die Rückkehr anderer Großsäuger. »Wir hatten jahrelang Gelegenheit, mit dem Wolf zu üben, und hoffen, dass es auch gelingt, den Bärenaufenthalt für Bär und Mensch erfolgreich zu gestalten.« Die Toleranz gegenüber dem vom LBV schon zum »Vorbildbär« geadelten Großtier hat aber auch viel damit zu tun, dass er sich äußerst unauffällig und scheu verhält. Niemand hat ihn offenbar bisher zu Gesicht bekommen, und kein Nutztier kam zu Schaden. Die Jahreszeit spielt dem Bärenschutz ebenfalls in die Hände. Der Almabtrieb ist gelaufen, nur noch wenige Nutztiere stehen schutzlos in den Bergen. Aber auch ein geändertes Verhältnis zur Natur, wie es etwa im Sensationserfolg des bayerischen Volksbegehrens »Rettet die Bienen« zum Ausdruck kam, dürfte dem Bären beim Überleben helfen. »Die Leute würden hohldrehen, wenn in irgendeiner Form überlegt würde, den prophylaktisch zu entnehmen«, ist sich Lindeiner sicher.
Die Chancen auf ein Überleben des neu zugewanderten – noch namenlosen – Bären stehen also nicht schlecht. Aber bieten die touristisch hoch frequentierten deutschen Alpen überhaupt noch ausreichend Lebensraum für einen Großsäuger mit einem enormen Raumbedarf wie den Braunbären? Ist es denkbar, dass nach Wolf und Luchs nun auch der urtümlichste unter den europäischen großen Beutegreifern wieder einen Schritt unternehmen kann, sich in der alten Heimat zu etablieren?
Die Meinung von Experten dazu ist einhellig. »Platz wäre auf jeden Fall, das ist gar keine Frage«, glaubt der Wildbiologe Josef Reichholf, der den Umgang mit Bruno in einem kritischen Sachbuch aufgearbeitet hat. Große Bestände an Gämsen, Rotwild und Steinböcken sowie vegetarische Nahrung seien vorhanden, so dass einer Wiederbesiedlung aus ökologischer Perspektive wenig entgegenstehe, sagt der emeritierte Professor. Und das benachbarte Trentino sei nicht weniger touristisch als die bayerischen Hochalpen. Dort war der Braunbär bis auf Einzelindividuen fast ausgestorben. Durch ein europäisch finanziertes Stützungsprojekt mit Auswilderung einiger Bären zu Beginn der 2000er Jahre wurde eine zehn Bären umfassende Population neu etabliert. Mittlerweile leben dort 60 Bären, Tendenz steigend.
Auch eine Studie des Deutschen Zentrums für integrierte Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig sieht »großartige Chancen für europäische Braunbären«. Danach gibt es in Europa eine Fläche von mehr als einer Million Quadratkilometern geeigneten Bärenhabitats. Mehr als ein Drittel davon sei nach der Ausrottung der Bären in den vergangenen Jahrhunderten noch nicht wieder besiedelt worden. In Deutschland gebe es geeignete Lebensräume für Bären auf 16 000 Quadratkilometern, schätzen die Autoren der 2018 veröffentlichten Studie, Anne Scharf und Nestor Fernandez. Eine Wiederbesiedlung der Alpen – aber auch anderer Gebiete – sei früher oder später wahrscheinlich, erklärt Fernandez.
»Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung« Landesumweltamt Bayern
Auch internationale Experten bescheinigen den deutschen Alpen erhebliches Potenzial für Braunbären. »Die Alpen sind gemessen an den Habitatsansprüchen der Bären ein guter Lebensraum«, sagt Jon Swenson, einer der weltweit führenden Bärenforscher. Braunbären seien beispiellos anpassungsfähig, sagt der Ko-Vorsitzende des Braunbären-Expertenteams der Internationalen Naturschutzunion IUCN und Autor des vom Europarat beauftragten europäischen Bären-Aktionsplans. Nur so sei es ihnen möglich, ein so großes Verbreitungsgebiet zu haben wie kaum ein anderes Landsäugetier der Erde. Man findet oder fand Braunbären in asiatischen und afrikanischen Wüsten ebenso wie in den Hochlagen des Himalaja, in der russischen Arktis und in Alaska ebenso wie im Mittelmeerraum. In Europa leben derzeit rund 17 000 Braunbären in 22 Ländern. Die Bestände vieler Populationen wachsen. In Skandinavien beispielsweise hat sich der Bestand von rund 500 Tieren 1977 auf etwa 3300 im Jahr 2008 mehr als versechsfacht. »Sie brauchen Deckung und etwas zu fressen, und sie brauchen Gebiete, in denen sie nicht zu sehr gestört werden, viel mehr nicht«, erläutert Swenson. Einige Populationen ernährten sich sogar fast ausschließlich vegetarisch. Beeren, Trauben, Bucheckern oder Eicheln und ab und zu ein Stück Fleisch: Das reiche den Kolossen. »Natürlich gibt es davon jede Menge auch in den deutschen Alpen.«
Der Aufwärtstrend liegt nach Einschätzung Swensons und seiner Kollegen der »Bear Specialist Group« nicht an verbesserten Umweltbedingungen oder Verhaltensänderungen bei den Tieren: Allein eine gewandelte Einstellung des Menschen gegenüber großen Beutegreifern sei die Ursache. »Die Bären haben sich nicht geändert, die Menschen haben es«, sagt Swenson. »Immer mehr Menschen billigen der Natur zu, aus eigenem Recht zu überleben.« Studien hätten einen Wandel selbst in extrem konservativen und wildtierfeindlichen Regionen beispielsweise Norwegens belegt. Auch die in vielen Regionen Europas anhaltende Landflucht unterstütze die großen Beutegreifer.
Als Quellpopulation für eine natürliche Wiederbesiedlung Deutschlands ist das slowenische Vorkommen mit einigen hundert Tieren entscheidend. Dort leben vier bis sechs Braunbären auf 100 Quadratkilometern. In welcher Dichte Bären möglicherweise irgendwann wieder auch durch deutsche Gebirgswälder streifen, ist schwierig vorherzusagen. Swenson unterscheidet eine ökologisch mögliche und eine soziologische, also vom Menschen zugelassene Dichte. Ökologisch sei sehr viel mehr drin, als Menschen in Europa auf absehbare Zeit zulassen würden, ist sich der Forscher sicher.
Und der Jungbär in Bayern? Swenson und Reichholf halten es für gut möglich, dass er seine bevorstehende Winterruhe in Bayern verbringt. Möglicherweise wandere er danach zurück, vielleicht bleibe er auch, sagt Swenson. »Ich habe beides erlebt«, berichtet er aus seiner jahrzehntelangen Forschung in aller Welt. Das Wichtigste sei für den wahrscheinlich knapp zweijährigen Jungbären, einen Platz zu finden, an dem er seine Paarungsreife – die mit etwa vier Jahren eintritt – erreichen könne, ohne einem erwachsenen Bärenmännchen zu begegnen. Erst wenn er selbst erwachsen sei, werde er anfangen, sich für Weibchen zu interessieren. Dass er in Bayern eine Partnerin finden könnte, ist äußerst unwahrscheinlich. Denn Weibchen wandern in der Regel nur über geringe Distanzen. Das ist der Grund, warum sich Bärenvorkommen bloß langsam, quasi durch Anbau an die bestehenden Vorkommen, verbreiten. Und deshalb laufen erfolgreiche Einbürgerungsprojekte meist so ab, dass Weibchen dort ausgesetzt werden, wo sich einzelne Männchen abseits der Kernverbreitung angesiedelt haben. Das steht für Bayern allerdings nicht zu erwarten. »Eine Aussetzung von Bären in Bayern ist nicht vorgesehen«, heißt es klipp und klar im Managementplan.
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