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Gender Bias: »Es geht nicht um Frauen, es geht um korrekte Forschung«

Sex und Gender finden in der Wissenschaft noch zu wenig Beachtung, sagt die Wissenschaftstheoretikerin Londa Schiebinger im Interview. Das verzerre Ergebnisse. »Gut, dass ein Wandel stattfindet.«
Londa Schiebinger

Ob Medikamenten- oder Produktentwicklung, Klima- oder Umweltforschung – wenn Forscherteams in ihren Studien nicht ausreichend Rücksicht auf Geschlecht und Gender nehmen, kann das die Ergebnisse maßgeblich verzerren. Nun hat die Europäische Kommission erklärt, die Analyse von Geschlecht und Gender in der Forschung künftig verpflichtend machen zu wollen. Die Regelung soll mit Beginn des Horizon-Programms 2021 gelten, und zwar für nahezu alle Disziplinen. Die Kommission will Forscherinnen und Forscher auffordern, die Faktoren in jeder Phase ihrer Arbeit zu berücksichtigen – vom Studiendesign bis zur Datenerhebung und -analyse. Sie bekräftigt damit eine Politik, die sie seit 2013 verfolgt (siehe Kasten »Mehr Vielfalt in der EU-Forschung«).

Anstoß für den Beschluss hat der Bericht »Gendered Innovations 2« geliefert, der am 24. November 2020 veröffentlicht wurde. Erstellt hat ihn eine 25-köpfige Expertengruppe unter der Leitung der Wissenschaftstheoretikerin Londa Schiebinger, Direktorin des Institute for Research on Women and Gender an der Stanford University. Der Bericht enthält Leitlinien, um Geschlechter- und Gender-Analysen auf allen Gebieten einbeziehen zu können, von Finanzen bis zur Landwirtschaft. »Nature« hat mit Schiebinger über die Arbeit der Gruppe gesprochen.

Wie überzeugen Sie andere davon, dass es in der Forschung wichtig ist, auf Sex und Gender zu achten?

Unser eindrückliches Beispiel: Zwischen 1997 und 2001 wurden zehn verschreibungspflichtige Medikamente vom US-Markt genommen, acht davon waren für Frauen gefährlicher als für Männer. Wenn Medikamente versagen, gibt es nicht nur finanzielle Verluste, sondern Menschen leiden und sterben. Von präklinischen Versuchen an Zellen und Tieren bis hin zu klinischen Studien am Menschen sind Daten über Männer und Frauen getrennt zu sammeln und zu analysieren. Es ist auch wichtig, das Alter und die genetische Abstammung der Probanden sowie den Medikamentenkonsum von Schwangeren zu berücksichtigen.

Bei diesem Ansatz geht es also nicht um Frauen, es geht um korrekte Forschung. Und davon profitieren alle. Bei der Osteoporose zum Beispiel wurden Männer vernachlässigt, weil sie meist als eine Krankheit von Frauen in den Wechseljahren angesehen wird.

Warum setzen Forscher die Erkenntnisse nur langsam um?

Das Bewusstsein dafür wächst, aber im Großen und Ganzen wissen Forscherinnen und Forscher noch nicht sehr gut, wie man diese Art von Analysen durchführt. Ich bin gleichzeitig überrascht und froh, dass ich einen Wandel miterleben kann. Denn als ich in den 1980er Jahren begann, passierte nichts.

Mehr Vielfalt in der EU-Forschung

Die Europäische Kommission hat Bewerberinnen und Bewerber für Forschungsprojekte gebeten, bis zum Jahr 2020 in etwa einem Drittel der Bereiche in ihrer Forschung das Geschlecht (biologische Merkmale, die üblicherweise verwendet werden, um Menschen als männlich, weiblich oder intersexuell zu klassifizieren) und Gender (sozial konstruierte Rollen, Normen und Identitäten, die nicht notwendigerweise binär oder auf das Geschlecht einer Person abgestimmt sind) zu berücksichtigen. Sie gehörte zu den ersten Geldgebern außerhalb der Gesundheitsforschung, die dies taten. Aber weniger Teams als erwartet führten die Analysen durch.

Dies ist Ihr zweiter Bericht zu diesem Thema; der erste ist im Jahr 2013 erschienen. Was hat sich geändert?

Die größte Veränderung ist die Intersektionalität. Es werden nicht nur Abstammung und Ethnizität berücksichtigt und wie sich diese mit Geschlecht und Gender überschneiden, sondern auch, welche Auswirkungen das Alter, die geografische Lage und der sozioökonomische Status haben. Die andere ist, das sexuelle Geschlecht weniger binär zu betrachten. Wir geben zudem viel mehr fachspezifische Anleitungen.

Welche Fehler unterlaufen Forscherteams?

Der größte Fehler besteht darin, Geschlecht, Gender und Intersektionalität einfach zu ignorieren. Ein anderer ist, nicht zwischen dem biologischen und dem soziokulturellen Geschlecht zu unterscheiden. Viele europäische Sprachen, zum Beispiel Deutsch, haben nicht einmal ein Wort für Gender, sondern verwenden das englische. Gender ist auch mit der Ethnizität, Altersgruppe und Kultur verknüpft. Forscherteams müssen sich darüber im Klaren sein und die richtigen Variablen wählen, um ihre Daten korrekt zu erheben und die Analyse gut durchzuführen.

Was muss sich außerhalb von Fördereinrichtungen ändern?

Einige Peer-Review-Zeitschriften haben Richtlinien, die eine Auswertung nach Geschlecht und Gender verlangen, wenn sie in diesem Bereich relevant ist. Ich würde mich freuen, wenn sich Ingenieurzeitschriften beteiligen würden. Ein weiteres großes Problem besteht darin, dass Universitäten diese Art der Analyse in den Kernkursen der Natur- und Ingenieurwissenschaften oder sogar der Medizin nicht unterrichten. In den Ingenieurwissenschaften entwirft kaum jemand Crashtest-Dummys, um die zerbrechlichen Knochen älterer Menschen, insbesondere von Frauen, zu berücksichtigen.

Doch es entwickelt sich was. Zum Beispiel haben die Harvard und Stanford University jetzt einen Kurs mit dem Namen Embedded EthiCS in Informatik. Sie verstehen, dass künstliche Intelligenz so viele Probleme verursachen kann, wenn sie Gruppen von Menschen außen vor lässt. Sie fordern die Studenten auf, über soziale Fragen und Ergebnisse nachzudenken, wenn sie etwas über Algorithmen lernen.

»Es ist sehr wichtig, bei einigen Meeresorganismen eine Geschlechtsanalyse durchzuführen, weil bei manchen das Geschlecht durch die Temperatur bestimmt wird«

Wie wichtig ist es, die Auswirkungen von Gender und Geschlecht bei der Coronavirus-Pandemie zu analysieren?

Wesentlich. Eine Fallstudie über die Covid-19-Pandemie in unserem Bericht zeigt, dass es Geschlechtsunterschiede bei der Reaktion auf das Virus gibt, bei der Virusvermehrung, den viralen Rezeptoren und der Antikörperproduktion – aber auch das Geschlecht ist sehr wichtig. Viel mehr Männer sterben, was mit Geschlechtsnormen und -verhaltensweisen zu tun hat – zum Beispiel rauchen mehr Männer, und sie waschen sich im Schnitt seltener die Hände. Im Gesundheitswesen wiederum sind deutlich mehr Frauen beschäftigt, so dass sie exponierter sind.

In welchen Forschungsbereichen ist es womöglich überraschend, dass es bedeutend ist, Gender und Geschlecht zu berücksichtigen?

Es ist sehr wichtig, bei einigen Meeresorganismen eine Geschlechtsanalyse durchzuführen, weil bei manchen das Geschlecht durch die Temperatur bestimmt wird. Wenn das Verhältnis von Männchen zu Weibchen oder Zwittern aus dem Gleichgewicht gerät, kann das zum Aussterben führen. Unser Bericht enthält eine faszinierende Studie aus Australien, laut der die Schildkröten im Norden des Great Barrier Reef zu 99 Prozent und im kühleren südlichen Teil zu etwa 67 Prozent weiblich sind. Zu verstehen, wie die globale Erwärmung die Geschlechterverhältnisse verzerrt, ist relevant, um Ökosysteme effizient verwalten zu können.

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