Höflichkeit in der Sprache: »Es ist nicht belegt, dass das ›Sie‹ verschwindet«
Ob beim Einkaufen, in der Bahn oder im Job – immer mehr Menschen duzen einander, obwohl sie sich kaum kennen. Für manche ist das ein Zeichen der Demokratisierung und des Hierarchieabbaus, das sich auch in der Sprache niederschlägt. Für andere bedeutet es, dass Höflichkeit und Respekt verschwinden. »Wenn alle jungen Leute etwas Ähnliches machen, setzt es sich mit der Zeit durch. Das ist der klassische Sprachwandel«, sagt Horst Simon. Er ist Professor für Historische Sprachwissenschaft an der Freien Universität Berlin und erforscht die Entwicklung der deutschen Anredepronomina. Er beobachtet, dass in vielen Sprachen die Nähe-Marker zunehmen, nicht nur im Deutschen. Im Interview erzählt er, was das bedeutet und woher es überhaupt kommt, sich zu siezen.
»Spektrum.de«: Herr Simon, ich weiß, dass Sie mit Vornamen Horst heißen, aber ich spreche Sie mit Ihrem Nachnamen an und sage »Sie«. Ich habe als Kind gelernt, dass sich das so gehört. Warum eigentlich?
Horst Simon: Erwachsene, die einander nicht kennen, siezen sich. Das ist historisch so gewachsen und drückt aus, wie wir beide zueinander stehen – nämlich in höflicher Distanz. Aber das ist nicht nur im Deutschen so. Es gibt viele Sprachen, in denen soziale Beziehungen und Höflichkeitserwägungen grammatisch codiert werden. Diese Markierungen stecken in Wortendungen; sie werden zum Beispiel bei der Beugung von Verben eingebaut. Im Deutschen funktioniert das über die Du/Sie-Unterscheidung, und es wird statt der 2. Person Singular eine Form verwendet, die wie die 3. Person Plural aussieht.
Gibt es auch Sprachen, die keine Höflichkeitsform haben?
Jede Kultur glaubt von sich, dass sie normal sei. Entsprechend denkt auch jede Sprechergemeinschaft von sich, dass sie höflich ist. Also wäre meine erste Antwort Nein. Aber natürlich lassen sich Unterschiede feststellen. Die Menschen in Australien zum Beispiel verwenden auffällig viele Formen, die Nähe signalisieren. Sie nutzen etwa fast ausschließlich den Vornamen und viele Slangwörter – auch in eher formellen Situationen. Insgesamt wirkt das alles sehr kolloquial und freundlich, zugewandt und nah. Aber diese fehlende Distanz kann auf andere Menschen, die das nicht gewohnt sind, unhöflich wirken.
Wer hier zu Lande einen Polizisten duzt, muss mit einer Strafe von einigen hundert Euro rechnen. Warum wird das »Du« in einer solchen Situation sogar als Straftatbestand empfunden?
Es gibt verschiedene Gründe, warum man im Deutschen vom »Sie« abweicht und zum »Du« übergeht. In aller Regel tut man das, weil man etwas gemeinsam hat – wobei Gemeinsamkeit dabei wirklich sehr weit gefasst ist. Vielleicht sind beide jung, man ist im selben Sportverein oder sitzt zusammen in der Kneipe. Bei einem Polizisten, den man nicht kennt und mit dem man auch nichts gemeinsam hat, ist das »Du« entsprechend unangemessen. Ob sich der Angesprochene direkt beleidigt fühlen muss, sei jetzt mal dahingestellt. Aber als Staatsmacht kann man Respekt, Distanz und würdevolles Verhalten schon einfordern.
Ist das »Sie« also auch ein Ausdruck von Macht?
Noch vor einigen Jahrzehnten spielte Macht dabei definitiv eine Rolle – zumindest eine größere als heute. Da war es selbstverständlich, dass Angestellte ihre Vorgesetzten siezen. Daran hat meist nicht mal eine langjährige Zusammenarbeit etwas geändert. Und schaut man noch weiter zurück, mussten Frauen ihre Ehemänner siezen und Kinder ihre Eltern. Bei asymmetrischen Machtverhältnissen war also sogar eine asymmetrische Anrede üblich.
In der Schule gibt es diese Art des asymmetrischen Machtverhältnisses aber doch nach wie vor …
Jein, so eindeutig würde ich das nicht sagen. Im Kindesalter gibt es da zunächst sicherlich ein Gefälle, denn in der Grundschule lernen Kinder überhaupt erst mal, dass sie fremde Erwachsene siezen müssen. Aber: Minderjährige dürfen vieles nicht, was Erwachsene für sich beanspruchen. Sie gelten in mancher Hinsicht noch nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. In etlichen Schulordnungen ist jedoch geregelt, dass Schülerinnen und Schüler ab einem bestimmten Zeitpunkt – meist ab der 10. Klasse – gesiezt werden. Häufig kommt es dann zu individuellen Absprachen zwischen den Lehrkräften und den Jugendlichen.
»Das ›Du‹ ist im beruflichen Kontext meist ein Ausdruck des Wunsches nach hierarchiefreier Kommunikation«
Im beruflichen Kontext wird heute zunehmend geduzt. Was sagt das über unser modernes Führungsverständnis aus?
Manche Leute würden sagen, dass das ein Ausdruck der zunehmenden Demokratisierung in Unternehmen ist und von flachen Hierarchien. Da ist auch etwas dran. Aber andererseits ist das nicht alles. Ich kann als Chef meine Mitarbeitenden duzen und trotzdem ein Arschloch sein. Oder ich kann umgekehrt das »Sie« verwenden und dennoch nahbar und auf Augenhöhe mit ihnen umgehen. Das bedeutet: Es gibt auch Höflichkeitssignale, die über das Du/Sie hinausgehen. Dennoch ist das »Du« im beruflichen Kontext meist ein Ausdruck des Wunsches nach hierarchiefreier Kommunikation.
Es kommt einem manchmal so vor, als würde das »Sie« unter jüngeren Menschen an Bedeutung verlieren und auf lange Sicht möglicherweise sogar ganz aussterben. Können Sie das bestätigen?
Also zunächst einmal: Wenn alle jungen Leute etwas Ähnliches machen, setzt es sich mit der Zeit durch. Das ist der klassische Sprachwandel. Es ist aber überhaupt nicht bewiesen, dass in der jüngeren Generation das »Sie« wirklich verschwindet. Es gibt dazu leider keine aktuellen, methodisch sauberen Studien, die das untersuchen würden. Vor einigen Jahren gab es ein oder zwei Arbeiten, die behauptet haben, dass die jungen Leute es im Gegenteil gar nicht goutieren, immerzu geduzt zu werden. Wenn so ein Strickpullover tragender, grauhaariger, altlinker Hippie eine erfolgreiche, schick gekleidete, junge Person einfach duzt, dann kann das unter Umständen völlig unangemessen sein, auch wenn der oder die Angesprochene selbst in einem Start-up arbeitet, wo sich alle total locker geben und in der Mittagspause zusammen kickern. Das ist jetzt natürlich klischeehaft zugespitzt. Was man aber sagen kann: Wir befinden uns in einer Wandelphase. Viele Leute verwenden das »Du« deutlich ungezwungener, als das noch vor ein paar Jahrzehnten der Fall war.
In welchen Situationen sollte das »Sie« denn erhalten bleiben?
Ob es das soll, geht mich nichts an – ich bin Wissenschaftler, und als solcher beobachte ich nur die Welt, wie sie ist. Ich erkenne aber, dass für die meisten deutschsprechenden Menschen dieser Ausdruck von Nähe oder Distanz relevant ist. Und solange das so ist, wird es erhalten bleiben. Wir haben aber gerade Anfang Januar zusammen mit der Universität Salzburg und der Universität Zürich ein Forschungsprojekt gestartet, wo wir genau so etwas untersuchen wollen, also Fragen wie: Ist die Verteilung von Höflichkeitsmarkern im gesamten deutschsprachigen Raum gleich? Sagen alle an den gleichen Stellen »bitte« und »danke« oder »Du« und »Sie«? Später werden wir auch Fachleute aus der Psychologie und Soziologie hinzuziehen, um die Ergebnisse einzuordnen.
Und?
Das kann ich leider noch nicht sagen. Wir sind aktuell dabei, überhaupt mal erste Daten zu erheben. Pilotstudien zeigen aber, dass beispielsweise Leute in der Schweiz gewisse Markierungen deutlich häufiger verwenden als Leute in Berlin oder in Sachsen.
Manche Unternehmen verwenden das »Du« als Marketingstrategie nach außen. IKEA duzt seine Kunden, Starbucks ebenfalls. Was soll das bewirken?
Damit wollen sie wahrscheinlich so etwas ausdrücken wie: Alle, die hier einkaufen, gehören zur Familie. Obwohl das natürlich faktisch nicht stimmt, soll diese Ansprache ein Wohlgefühl erzeugen. Es ist der Versuch, Zugehörigkeit herbeizuführen, wo noch keine ist. Doch das funktioniert nicht immer. In manchen Ländern wird die Vornamen-Anrede unter Fremden als Affront gedeutet. Von Ausnahmen abgesehen beobachten wir aber, dass in vielen Ländern die Nähe-Marker in der Sprache zunehmen. Manche nennen es Amerikanisierung – wegen der Verbreitung von Unternehmen wie Starbucks, die die Vornamen-Anrede pflegen.
Im Englischen gibt es nur das ununterscheidbare »you«. Wie lässt sich in einer so neutral wirkenden Sprache überhaupt Höflichkeit ausdrücken?
In Großbritannien etwa gibt es sehr viele nominale Anredeformen, die deutlich differenzieren. Es ist ein Unterschied, ob ich in ein teures Restaurant oder ins Pub um die Ecke gehe. In Ersterem werde ich wahrscheinlich mit »Sir« oder »Ma'am« angeredet, in Letzterem mit »mate«, »love«, »darling« oder was auch immer. In den USA ist das ähnlich. Dort werden zum Beispiel Titel im akademischen Kontext viel öfter verwendet als in Deutschland, um Höflichkeit auszudrücken.
»In der Bank und im Autohaus wird das ›Sie‹ erwartet und die Verwendung lässt den Verkäufer kompetenter und vertrauenerweckender erscheinen. Das Ergebnis ist unabhängig von Alter, Geschlecht oder der Einstellung zum Duzen«
Sind Ihnen Experimente bekannt, in denen erforscht wurde, welche psychologische Wirkung »Du« und »Sie« auf Hilfsbereitschaft oder Kooperation haben?
Dazu konkret ist mir nichts bekannt, aber es gibt eine Studie, in der eine Forschungsgruppe untersucht hat, welche Wirkung die Du/Sie-Anrede auf Kompetenzzuschreibungen hat. Das Setting war folgendermaßen: Probanden bekamen aufgezeichnete Verkaufsgespräche aus einem Autohaus, einer Bank und einem Sportgeschäft gezeigt. Die Forschungsfrage war: Nehme ich den Verkäufer anders wahr, je nachdem ob er duzt oder siezt? Wann ist der Verkaufserfolg höher? Es ist wohl so, dass in der Bank und im Autohaus das »Sie« erwartet wird und die Verwendung den Verkäufer kompetenter und vertrauenerweckender erscheinen lässt. Das Ergebnis ist unabhängig von Alter, Geschlecht oder der Einstellung zum Duzen. Erstaunlicherweise gilt das jedoch auch für den Turnschuhverkäufer. Es wird zwar eher eine kumpelhafte, sportliche Ausstrahlung erwartet, doch auch hier bringt die Verwendung des »Du« keine Vorteile.
Wie hat sich denn die deutsche Höflichkeitsform historisch entwickelt?
Von den Anfängen des Deutschen etwa im 9. Jahrhundert gibt es leider nur sehr wenige überlieferte Texte – und wenn, dann sind es fast ausschließlich Gebete oder theologische Traktate. Aber selbst zu der Zeit kann man sehen, dass es eine Höflichkeitsform gab – nämlich »Ihr«, die 2. Person Plural. Übrigens markiert mindestens ein Drittel der Sprachen weltweit die höfliche Anrede heute auf diese Weise. Die damalige Verwendung im Deutschen folgte strengen hierarchischen Kriterien. Bessergestellte wurden geihrzt, Bauern mussten Adlige ihrzen, wurden aber umgekehrt geduzt. Ab dem 16. Jahrhundert gab es jedoch eine Art Höflichkeitsinflation. Immer mehr Leute wurden geihrzt oder wollten geihrzt werden. Sobald es allerdings zur Standardform geworden war, konnte man damit keine Höflichkeit mehr ausdrücken.
Also musste etwas Neues her.
Man kennt es vielleicht aus älteren Romanen: Es folgten nominale Konstruktionen in der 3. Person Singular. So etwas wie: »Möchte der Herr noch etwas trinken?« oder »Hat das Fräulein noch einen Wunsch?«. Eine Zeit lang existierten sogar mehrere Varianten nebeneinander, bis sich dann etwa Mitte des 19. Jahrhunderts das »Du« und das »Sie« durchsetzten.
Heute muss man sich in jeder Situation für eine der beiden Formen entscheiden.
Genau! Es gibt immer nur entweder oder. Wir beide sind jetzt per »Sie«. Das kann bis zu unserem Lebensende so bleiben. Wenn wir aber zum »Du« übergehen, dann gibt es kein Zurück mehr. Es ist praktisch ausgeschlossen, jemandem das »Du«‹ wieder zu entziehen. Bis ins späte 18. Jahrhundert galt das nicht in dieser Rigorosität. Man konnte die Pronomina strategisch einsetzen – um Distanz oder Nähe zu erzeugen. Bereits im mittelhochdeutschen Nibelungenlied wechseln zwei Figuren, die sich eigentlich – wie es ihrem sozialen Stand gemäß erwartbar ist – mit dem Höflichkeitspronomen anreden, nämlich mit »ir«, innerhalb eines Dialogs zum »du«. Die Funktion des vorübergehenden Duzens liegt darin, anlässlich einer peinlichen Mitteilung eine besonders vertrauliche Atmosphäre zu erzeugen.
Was sind denn die gängigen Strategien, wie man heutzutage jemandem das »Du« anbietet?
Man kann es explizit machen und einfach sagen: »Mensch, wir kennen uns schon so lange. Wollen wir nicht Du zueinander sagen? Ich heiße Horst.« Je nachdem kann das aber gänzlich unangemessen sein, weil der andere noch nicht so weit ist. Das Problem dabei: Wer das »Du« angeboten bekommt, kann es eigentlich nicht ablehnen. Man kann den Schritt deshalb subtiler vorbereiten, indem man verschliffene Formen verwendet wie »Kommste morgen auch?« und die Reaktion abwartet. In der schriftlichen Kommunikation gibt es auch die Strategie, mit dem Vornamen zu unterzeichnen und zu schauen, ob das Gegenüber darauf einsteigt. Das wird im Englischen häufig getan.
»Es gibt keine mir bekannte Sprache, die Haarfarbe oder Schuhgröße codieren würde. In der Sprache drückt sich aus, was einer Gesellschaft wichtig ist«
Lässt sich sagen, welche die höflichste Sprache ist?
Jede (lacht). Nur eben in unterschiedlicher Weise. Aber ich denke, Sie wollen darauf hinaus, welche Sprache die meisten grammatischen Höflichkeitselemente enthält. Es gibt Sprachen wie Japanisch und Koreanisch, aber auch die alte Aztekensprache, in denen an ganz vielen Stellen Höflichkeit grammatisch markiert wird. Im Deutschen zum Beispiel tue ich das nur, wenn ich direkt auf eine Person Bezug nehme. Wenn ich etwa sage »Heute scheint die Sonne«, dann lautet der Satz immer gleich. Im Japanischen hängt man an das »scheinen« noch ein Suffix an, um auszudrücken, dass man gerade höflich ist. Die Endung hat keine andere inhaltliche Funktion. Und was eine Sprache wie Japanisch für unsereinen besonders kompliziert macht, ist, dass es nicht nur diese Suffixe gibt, sondern etliche verschiedene grammatische Muster, die Höflichkeit ausdrücken. Es gibt eigene Satzstrukturen, Passivkonstruktionen, das Possessivum wird anders gebildet und vieles mehr. Ich weiß nicht, ob das jetzt gleichzusetzen ist mit der höflichsten Sprache, doch zumindest drückt eine japanische Person ständig aus, in welcher sozialen Beziehung sie zu ihrem Gegenüber steht.
Was sagt das über eine Gesellschaft aus, wenn Höflichkeit einen solchen Stellenwert hat?
Es fordert Japanisch sprechende Menschen fortwährend dazu auf, über ihren sozialen Status und ihre Beziehungen nachzudenken. Ich muss sofort überlegen, ob mein Gegenüber älter oder jünger ist, über oder unter mir steht, zu meiner oder einer anderen Gruppe gehört. Es ist ein wichtiger sozialer Marker. Genauso wie das angenommene Geschlecht des Gegenübers oder der Person, auf die Bezug genommen wird, eine Auswirkung auf viele Sprachen hat. Es gibt dagegen keine mir bekannte Sprache, die Haarfarbe oder Schuhgröße codieren würde. In der Sprache drückt sich aus, was einer Gesellschaft wichtig ist.
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