Archäologie: Es war einmal in Amerika
Seit 1970 wurden im Amazonasbecken mehr als 700 000 Quadratkilometer Regenwald gefällt – das entspricht etwa der doppelten Fläche Deutschlands. Begonnen hat der Kahlschlag mit dem Bau von Fernstraßen, die wie Schneisen durch den Urwald gezogen wurden. An diesen ließen sich in der Folge zunächst Kleinbauern, später Großgrundbesitzer, vor allem Rinderzüchter nieder und trieben die Rodungen weiter. Mit der Erschließung von Bodenschätzen wie Gold, Bauxit oder Erdöl sowie dem großflächigen Anbau von Zuckerrohr, Soja und neuerdings auch Ölpalmen nahm das Unheil seinen Lauf und dauert bis heute an. Denn entgegen allen Klagen und Warnungen, trotz aller inzwischen offensichtlichen ökologischen Schäden sowie ihren Auswirkungen sowohl auf die Tier- und Pflanzenwelt Amazoniens als auch das Weltklima wurde die Abholzung des tropischen Regenwalds noch immer nicht ausreichend eingedämmt.
Eine Tragödie ereignet sich in Echtzeit und vor Publikum! Und doch hat, was Einheimischen und Umwelt schadet, auch Nutznießer jenseits der Erzförderungsunternehmen und der Agrarindustrie: die Archäologen. Erst der Kahlschlag gab den Blick auf jahrhundertealte Anlagen frei, von deren Existenz die Wissenschaftler zwar seit geraumer Zeit wussten, die sie aber erst jetzt erforschen können. Was sie nun zu sehen bekamen, übertraf alle Erwartungen. Unversehens waren von Gräben und Wällen umgebene, bis zu 200 Hektar große Siedlungen zu erkennen.
So wandte sich vor einigen Jahren ein interessierter Laie an die Archäologin Denise Schaan von der Universidade Federal do Pará im ostbrasilianischen Belém und machte sie auf merkwürdige Strukturen aufmerksam, die ihm dank Google Earth am anderen Ende des Amazonasbeckens, im südwestlichen Bundesstaat Acre, aufgefallen waren. Inzwischen hat Schaan gemeinsam mit ihrem finnischen Kollegen Martti Prässinen weit mehr als 200 dieser Strukturen ausgemacht – ebenfalls mit Hilfe der Software des Internetunternehmens. Es handelt sich dabei um Grabenanlagen, welchen die Forscher den Namen Geoglyphen gaben, und deren Alter sie etwas abenteuerlich auf bis zu 2000 Jahre angeben. Abenteuerlich deshalb, weil das brasilianisch-finnische Team erst kürzlich mit Ausgrabungen an einer dieser Fundstellen begann und dementsprechend wenig datierbares Material zur Verfügung hat. Dennoch geht Schaan davon aus, dass in präkolumbischer Zeit in und um den von ihr per Satellit entdeckten Ringanlagen bis zu 60 000 Menschen lebten.
"Revolution am Amazonas"
Da waren also einst, so schien es, riesige Siedlungen im Regenwald entstanden, geschaffen von einer sesshaften Bevölkerung, die vielleicht hierarchisch, sicher aber arbeitsteilig organisiert war. Und das ausgerechnet im Regenwald, dessen nährstoffarmer Boden ziemlich ungeeignet für die landwirtschaftliche Nutzung ist und dessen Bewohner stets als Halbnomaden galten, die zwar mit Hilfe der Brandrodung in kleinem Maßstab Ackerbau betrieben, jedoch kaum in derartigen Dimensionen, wie sie nun zu erkennen waren. Plötzlich war von einer wissenschaftlichen "Revolution am Amazonas" die Rede, von "verlorenen Städten" und "vergessenen Zivilisationen", die an jenen Seuchen zu Grunde gegangen waren, die mit den spanischen und portugiesischen Eroberern im 15. und 16. Jahrhundert auf den Kontinent gekommen waren – allen voran die Pocken.
Besonders der Ethnoarchäologe Michael Heckenberger von der University of Florida ergab sich der Faszination einer "prähistorischen Stadtplanung" (prehistoric urbanism) der vorkolumbischen Bewohner des Amazonasbeckens. Er forscht seit Beginn der 1990er Jahre im Parque Indigena do Xingu, einem Reservat am Oberlauf des Xingu, einem Amazonaszufluss im Osten Brasiliens. Auch Heckenberger stieß auf Grabenanlagen, Wälle und breite Straßen. Seine Hypothese von befestigten "Gartenstädten" im Urwald, die durch diese Straßen mit Satellitenstädten und zahlreichen Dörfern verbunden waren und so einem Gemeinwesen von rund 50 000 Bewohnern eine quasi urbane Heimat boten, ging vor vier Jahren um die Welt – ungeachtet dessen, dass sie auf vielen Annahmen und wenigen Fakten beruhte.
Absurd ist der Gedanke von Städten oder doch zumindest ausgedehnten Siedlungen in Amazonien freilich nicht. Immerhin existieren sogar einige, wenn auch nur wenige, zeitgenössische Berichte, die darauf hinweisen. El Dorado nannten die Konquistadoren jenen legendären Ort, der ihre Gier nach Gold befriedigen sollte, und von dem ihnen erstmals 1537 ein Indio erzählt hatte. Der Dominikanermönch und Missionar Gaspar de Carvajal berichtete 1542 von einer großen Zahl von bevölkerungsreichen Siedlungen am Amazonas. Besessen von den alten Legenden gab 1925 der britische Forschungsreisende Percy Fawcett gemeinsam mit seinem Sohn sein altes Leben auf und machte sich auf die Suche nach einer versunkenen Zivilisation und ihrer Hauptstadt, die er "Z" nannte – bis heute fehlt jede Spur von der Expedition.
Der schwedische Ethnologe Erland von Nordenskiöld behielt offenbar einen kühleren Kopf. Er bereiste bereits 1914 den Guaporé, den Grenzfluss zwischen Bolivien und Brasilien, stellte mit wissenschaftlicher Sorgfalt fest, "dass jede Anhöhe mit einem Wallgraben umgeben war", und meinte, eines Tages würden Archäologen gewiss "zu dem Ergebnis kommen, dass dieses Land sehr dicht besiedelt war, und dass das ganze Land bebaute Felder aufwies."
Neuentdeckungen in den Llanos de Mojos
Heiko Prümers ist geneigt, ihm Recht zu geben. Der Altamerikanist von der Kommission für Archäologie Außereuropäischer Kulturen (KAAK) des Deutschen Archäologischen Instituts forscht in den Llanos de Mojos, einer rund 110 000 Quadratkilometer großen Überschwemmungssavanne im bolivianischen Teil Amazoniens. An vier Fundorten hat das von ihm geleitete Projekt bislang Grabungen durchgeführt. Dort sind bis heute ausgedehnte Erdwerke auszumachen, darunter kilometerlange Kanäle und Dämme sowie Wasserreservoirs und Hügelbeet-Komplexe. Von "Gartenstädten" weiß Prümers allerdings nichts zu berichten, doch: "Waren zu Beginn unserer Untersuchungen nur die relativ kleinen, von Ringrabenanlagen umgebenen Kreisgrabenanlagen bekannt, so können wir jetzt von der Existenz veritabler, dicht beieinander liegender Siedlungen in der Region ausgehen."
Die Ausgrabungsstätten des deutschen Archäologen liegen nordöstlich der Stadt Trinidad in einem Gebiet von der Größe der Schweiz. Allein schon deswegen hütet sich Prümers davor, voreilige Schlüsse zu ziehen. Schließlich käme auch niemand auf die Idee, die Geschichte der Eidgenossenschaft allein anhand von ein paar Fundstellen rekonstruieren zu wollen. Doch die Dimensionen der Siedlungen in der bolivianischen Savanne sprechen für sich. "Allein das Ausmaß dieser Anlagen lässt auf komplexe Kulturen mit sesshafter bäuerlicher Lebensweise schließen", sagt Heiko Prümers. Besiedelt waren die verschiedenen Fundstätten etwa vom 6. bis Anfang des 15. Jahrhunderts, ältere Funde fehlen überraschenderweise. "Denn zu jener Zeit siedelten Menschen bereits überall, wo man sich niederlassen konnte."
Günstiges Wirtschaftsklima
Der Archäologe vermutet, dass die Menschen ein lokales Klimaoptimum, eine Zeit außergewöhnlich günstiger Umweltbedingungen, dazu nutzten, die Savannen der Llanos de Mojos zu ziehen. Zwischen 600 und 900 herrschte auf dem Halbkontinent eigentlich eine extreme Dürre, die zumindest teilweise auch das Ende der Maya in Mittelamerika ausgelöst haben dürfte. Zeitgleich begann die Besiedlung der Llanos de Mojos, die zuvor kein sonderlich attraktives Gebiet für den Menschen waren. Doch in trockenen, regenarmen Zeiten ist die Region weit entgegenkommender. In ihrem Lehmboden versickerten die geringen Niederschläge kaum, der Boden blieb feucht – während einer Dürre sind das nahezu paradiesische Zustände. Zudem ist es in flachem Land leichter, das Grundwasser zu ergraben. Man richtete sich in Nischen ein. Entweder an Flussufern oder eben dort, wo der Boden auch bei geringen Regenfällen feucht blieb.
Warum die Siedlungen noch vor der Ankunft der Konquistadoren aus dem fernen Europa wieder verlassen wurden, liegt im Dunkeln. Allerdings weist der vorläufige archäologische Befund auf unruhige Zeiten hin. Bei den teilweise bis zu fünf Meter tiefen Gräben dürfte es sich um Verteidigungsanlagen gehandelt haben. Und diese sind ihrerseits ziemlich eindeutige Merkmale kriegerischer Auseinandersetzungen.
Freilich stehen die Archäologen vom Deutschen Archäologischen Institut noch ziemlich am Anfang ihrer Forschungen im Amazonasbecken. Ob Prümers und sein Team jemals "versunkene Städte" zu Tage fördern werden, steht in den Sternen. Diese sind in Hollywood sowieso besser aufgehoben: Brad Pitt hat sich bereits die Filmrechte an einer 2009 erschienenen Biografie des glücklosen Abenteurers Percy Fawcett gesichert – "The Lost City of Z: A Tale of Deadly Obsession in the Amazon."
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