Amazonien: Essen für den Regenwald
An einem späten Vormittag im Mai 2018 drängten sich Journalisten, Politiker und Küchenchefs im Zentrum der peruanischen Hauptstadt Lima um kunstvoll dekorierte, mit zahlreichen Speisen gefüllte Tische. In napfförmigen Schalen aus den Samenhüllen tropischer Früchte, auf Holzplatten und eingewickelt in riesige grüne Blätter waren dort eine Vielzahl exotischer Köstlichkeiten aus der Amazonasregion angerichtet: Geräuchertes Schweinefleisch hatte man mit einer Soße aus Camu Camu gewürzt, einer pflaumenartigen Frucht, die etwa 40-mal so viel Vitamin C wie eine Orange enthält – und bei deren Genuss es einem unwillkürlich die Lippen zusammenzieht. Eine als Appetithäppchen servierte Krokette aus Maniokpüree war mit einem spiralförmigen Band aus Aguaje verziert worden, der fleischigen Frucht der Buritipalme. Frische und eingelegte kleine gelbe Charapita-Chilischoten, die Gerichten der traditionellen peruanischen Küche die Schärfe von Habanero-Chili und ein tropisch fruchtiges Aroma verleihen, schmückten ebenfalls den Tisch.
Auf einer Werbeveranstaltung, die das Interesse von Investoren für die im August 2018 stattfindende regionale Produktmesse »Expo Amazónica« wecken sollte, legten Köche aus der ostperuanischen Amazonasregion Ucayali gerade letzte Hand an ihre Speisen aus der Dschungelküche. Die Köchin Xin Ting deutete auf ein Gericht namens Juane, eine Mischung aus Reis und Paiche (ein mild schmeckender Süßwasserfisch aus der Amazonasregion, der auch als Arapaima bekannt ist), die zusammengerollt in einer Hülle aus wachsartigen Bijao-Blättern gekocht wird. Daneben stand ein Teller mit Sushirollen aus Paiche und Reis, dessen gelbe Farbe von einer cremigen, säuerlich-herben tomatenähnlichen Frucht namens Cocona herrührte. »Juane wird nach einem traditionellen Rezept zubereitet und auf den regionalen Festen im Juni serviert«, erklärte Ting. Das Sushigericht ist eine kulinarische Variante einer alten Lieblingsspeise der Menschen in der Amazonasregion.
Ting ist Mitglied der Asociación Gastronómica de Ucayali (AGASU), einer Vereinigung aus jungen und bereits etablierten einheimischen Küchenchefs. Sie haben es sich zum Ziel gesetzt, traditionelle Nahrungsmittel aus dem Amazonasgebiet in Zutaten moderner Gerichte zu verwandeln, die nicht nur Restaurantbesuchern in den Städten schmecken, sondern auch zur Rettung des Regenwalds beitragen sollen.
Gegenwärtig zählen Holz, Kakao und Palmöl zu den wichtigsten Exportprodukten Ucayalis, und als Folge schrumpft der peruanische Amazonasregenwald mit rasanter Geschwindigkeit. Die AGASU dagegen setzt mit ihrer Strategie auf die unbeachteten Schätze der Region – die große Vielfalt an kommerziell ungenutzten Nahrungsmitteln und Heilkräutern. Eine verstärkte Nachfrage nach wild wachsenden Nahrungspflanzen könne die Erhaltung der Artenvielfalt begünstigen, neue Einkommensquellen für die ländliche Dorfbevölkerung schaffen und kulturelle Traditionen bewahren, meinen die AGASU-Vertreter. Warum sollte man nicht versuchen, den Regenwald zu retten, indem man den Wert der dort wachsenden, gesunden Nahrungsmittel steigert, statt den Dschungel abzuholzen, um Platz für den Anbau von Monokulturen zu schaffen, so ihre Argumentation.
In der Zeit von 2001 bis 2017 hat die peruanische Amazonasregion nahezu 2,67 Millionen Hektar ihres Baumbestands eingebüßt, ein geringfügig größeres Gebiet als der US-amerikanische Bundesstaat Maryland. Wie die Online-Plattform Global Forest Watch mitteilte, wurden allein im Jahr 2017 etwa 300 000 Hektar Regenwald gerodet, was nahezu der Fläche des Yosemite-Nationalparks in Kalifornien entspricht. Während der illegale Goldbergbau verheerende Umweltschäden im Süden Perus anrichtet, treibt der Ackerbau die Zerstörung von Habitaten in der Region Ucayali voran. Dort hat die Entwaldungsrate inzwischen den landesweit höchsten Wert erreicht.
Palmöl zerstört den Wald
Einer der Hauptgründe für den Waldverlust liegt in der Palmölproduktion. In Ucayali befindet sich das zweitgrößte Ölpalmenanbaugebiet Perus, und die von den Plantagen beanspruchte Fläche hat sich in den letzten Jahren dramatisch vergrößert: von 11 000 Hektar im Jahr 2006 auf nahezu 40 000 Hektar im Jahr 2017. Mit einer steigenden Zahl von Zuwanderern aus nördlichen Landesteilen, wo Überschwemmungen und Schlammlawinen den Ackerboden vielerorts unbrauchbar gemacht haben, breitet sich in Ucayali auch der Reisanbau immer weiter aus.
Als Folge der Umwandlung von Regenwaldgebieten in Ackerland verringern sich zudem die Anzahl und Erreichbarkeit vieler wild wachsender Nahrungs- und Heilpflanzen, auf die die in der Amazonasregion lebenden Gemeinschaften für ihr tägliches Leben angewiesen sind. »Wilden, nicht kultivierten Nahrungspflanzen wurde lange keinerlei Beachtung geschenkt«, bemerkt Gisella Cruz García, eine peruanische Ethnobotanikerin und derzeit leitende Beraterin für vernachlässigte und unzureichend genutzte Arten und Ernährung bei Oxfam Novib, einer niederländischen Tochtergesellschaft der internationalen Hilfsorganisation zur Bekämpfung der weltweiten Armut. »Die moderne Wissenschaft hat diese wild wachsenden Arten einfach ignoriert«, stellt Cruz García fest. »Ihr Nährwert und ihre landwirtschaftliche Bedeutung sind größtenteils unbekannt.« Und obwohl sie im Bereich der Lebensmittel- und Agrarpolitik keine Anerkennung finden, fährt die Ethnobotanikerin fort, »leisten wild wachsende Nahrungspflanzen einen ganz wesentlichen Beitrag zur Ernährungssicherheit, insbesondere in von Armut geprägten Regionen.«
Das derzeitige Drängen der peruanischen Regierung auf einen Ausbau der Palmölproduktion stellt die Bewohner der Amazonasregion vor eine schwere Entscheidung: Sollen sie Partnerschaften mit Unternehmen aus Übersee eingehen und weitere Landflächen in Ölpalmenplantagen umwandeln? Oder sollten sie lieber versuchen, ihre Wildpflanzen auf sinnvolle Art und Weise zu nutzen und dadurch eine vernünftige Alternative zum Schutz der heimischen Artenvielfalt zu schaffen, von der sie gleichzeitig profitieren können?
In Perus aufblühender Gastronomieszene werden bei der Zubereitung von Speisen bereits zahlreiche wild wachsende Nahrungspflanzen verwendet, die die Bewohner Amazoniens seit Generationen ernähren. Einen zukunftsfähigen Weg zu finden, der diese Produkte aus dem peruanischen Dschungel auf die Teller der Stadtbewohner befördert oder vielleicht sogar in andere Länder exportiert, wird jedoch keine leichte Aufgabe sein. Es erfordert eine spezielle Mischung aus gleichgesinnten Bewohnern der Amazonasregion, Köchen, Produktentwicklern und politischen Entscheidungsträgern, um die Saat für einen nachhaltigen Appetit auf die Köstlichkeiten des Urwalds auszubringen.
Schwierige Logistik
Viele der von den AGASU-Mitgliedern ausgewählten Nahrungsmittel werden selten in Gegenden gegessen, die sich weiter als ein paar Kilometer vom Regenwald entfernt befinden. Nur in Ausnahmefällen gelangen diese Lebensmittel über Dörfer wie das rund 770 Kilometer fernab der Hauptstadt gelegene Pueblo Libre hinaus, zu dem man die letzten 22 Kilometer auf einer unwegsamen Schotterpiste zurücklegen muss. In dieser aus Nachfahren europäischer Einwanderer und indigener Gruppen zusammengesetzten Gemeinschaft werden »Cash Crops« wie etwa Palmöl angebaut, die ausschließlich für den Verkauf bestimmt sind, während sich die Dorfbewohner größtenteils von Wildpflanzen ernähren.
Pueblo Libre wurde vor 25 Jahren gegründet, und kurz darauf pflanzten seine Bewohner die erste Ölpalme. Diese Bäume der ersten Generation sind im Lauf der Zeit zu unförmigen, wedellosen Baumstümpfen verkommen, die heute neben ihren frisch angepflanzten Nachfolgern dahinrotten. Einst galten Ölpalmen in dieser Region als ein Symbol des Friedens und des Wohlstands. Um den Anbau von Koka zu unterbinden, mit dessen Hilfe der Sendero Luminoso (eine aus der Kommunistischen Partei Perus hervorgegangene äußerst brutale Guerillagruppe, die im Amazonasgebiet Zuflucht gesucht hatte) seine terroristischen Aktivitäten finanzierte, förderte die US-amerikanische Regierung den Anbau von Ölpalmen als Ersatzprodukt. Während Palmöl, das heute als das weltweit am meisten verwendete Pflanzenöl gilt, vielleicht dazu beigetragen hat, eine turbulenten Zeit in der Amazonasregion zu beenden, bereitete es gleichzeitig einer weiteren den Boden.
In der Anfangsphase ging die Expansion der peruanischen Palmölplantagen eher zögerlich auf bereits entwaldeten Landflächen vonstatten, die zumeist von kleinbäuerlichen Grundbesitzern wie in Pueblo Libre bewirtschaftet wurden. Dort hatten die Dorfbewohner in 25 Jahren lediglich 15 Hektar Land gerodet, um Platz für den Anbau von Ölpalmen zu schaffen. Ab 2010 investierten allerdings in Malaysia ansässige Unternehmen zunehmend in die peruanische Palmölproduktion, die die Zerstörung des Regenwalds in der darauf folgenden Zeit immer weiter vorantrieb.
Satellitenaufnahmen der Region Ucayali zeigen heute nicht nur den Flickenteppich aus dörflichen Ölpalmenpflanzungen, der sich in der Nähe der ersten größeren Schnellstraße zwischen Lima und dem Amazonasgebiet erstreckt, sondern sie enthüllen auch zwei breite Entwaldungsstreifen nördlich von Pueblo Libre. Die riesigen, ungewöhnlich geformten Flächen, auf denen bislang etwa 13 000 Hektar Primärwald gerodet wurden (insgesamt sollen 23 000 Hektar Baumbestand weichen), werden gerade mit unheimlicher, laserartiger Präzision in kleinere Parzellen aufgeteilt. Eins dieser Gebiete war früher für seinen besonderen Reichtum an Arzneipflanzen bekannt.
Das Ausmaß der entwaldeten Flächen, die einst mit natürlichem Regenwald bewachsen waren, war so ungeheuer groß, dass sich die peruanische Regierung zur Verabschiedung neuer Gesetze veranlasst sah, die derartig massive Kahlschläge verhindern sollten. Dennoch haben diese Rechtsvorschriften manche Unternehmen nicht davon abgehalten, mit Unterstützung ihrer Banken und der potenziellen Abnehmer des Palmöls eine andere, salamitaktikartige Strategie zu verfolgen. Sie boten den interessierten Nachbargemeinden von Pueblo Libre Pflanzgut und Düngemittel gegen Gewinnbeteiligungen zur Erntezeit an. Obwohl die Regierung dieses Konzept als eine Möglichkeit unterstützt, um die Besitzer kleinerer Landflächen in die Palmöl-Produktionskette einzubinden und viele die Partnerschaften zwischen Unternehmen und Gemeinden als eine verlockende Einnahmequelle betrachten, erhalten die Dorfgemeinschaften in der Amazonasregion nur selten eine größere Form der staatlichen Unterstützung.
Großkonzerne und Kleinbauern
Heute erstrecken sich die Ölpalmenplantagen in der Region Ucayali auf einer Fläche von 40 000 Hektar. Gesetzlich wäre der Anbau auf weiteren 250 000 Hektar zulässig, wenn sämtliches Weideland einschließlich der »Purmas« – absichtlich brachliegende Ländereien, auf denen Sekundärwälder entstehen und zur Regeneration der Artenvielfalt beitragen sollen – in Ölpalmenpflanzungen umgewandelt würden. Die Regierung dränge zunehmend auf eine solche Umstellung, berichtet der Wissenschaftler José Sanchez Choy von der Universidad Nacional Intercultural de la Amazonía in der peruanischen Stadt Pucallpa. Beunruhigenderweise lieferte eine neuere Untersuchung keinerlei Belege dafür, dass sich die erwähnten Partnerschaften zwischen Unternehmen und Gemeinden in irgendeiner Weise positiv auf die Umwelt auswirken. Stattdessen konnte nachgewiesen werden, dass 95 Prozent der jüngsten Entwaldungen auf landwirtschaftlichen Betrieben vorgenommen wurden, die einer solchen Partnerschaft angehörten; alle natürlichen Regenerierungsmaßnahmen fanden dagegen ausschließlich auf Farmen statt, die in keinerlei Beziehung zu Unternehmen der Palmölindustrie standen.
Die kleinbäuerliche Landwirtschaft oder der so genannte Wanderfeldbau werden oft für einen Großteil der Rodungen im Amazonasgebiet verantwortlich gemacht – eine von der peruanischen Regierung aufgestellte Behauptung, die jedoch keiner genauen Prüfung standhält. Jüngste Studien konnten zeigen, dass die vermeintlichen Entwaldungen auf Messungen basieren, in denen nicht die gesamte abgeholzte Fläche, sondern lediglich die Häufigkeit der Rodungen erfasst und fälschlicherweise auch kürzlich bereinigte Brachflächen mit einbezogen wurden. Und gerade auf den von Kleinbauern bewirtschafteten Farmen wird es den Purmas häufig erlaubt, über längere Zeiträume brachzuliegen, so dass sich auf ihnen wieder eine Sekundärvegetation ausbilden kann.
Im Grunde genommen seien Purmas mit einem Sparbuch vergleichbar, erläutert Sanchez Choy. In Zeiten knapper Ressourcen können die dort wachsenden Bäume gefällt und verkauft werden, während die natürliche Vegetation, zu der auch die wild wachsenden Nahrungspflanzen gehören, zwischenzeitlich für eine verbesserte Fruchtbarkeit des Bodens sorgt. »Auf Purmas gedeihen Pflanzenarten, die von besonderer Bedeutung für die Nahrungssicherheit sind«, ergänzt die Ethnobotanikerin Cruz García.
In den vergangenen Jahren haben sich die Ortsansässigen von Pueblo Libre verstärkt dem Anbau natürlich vorkommender, nicht gezüchteter »wilder Kulturpflanzen« gewidmet. Laut einer kürzlich von Cruz García durchgeführten Studie kultivieren die Dorfbewohner heute etwa 20 lebenswichtige Wildpflanzenarten in Hausgärten und auf Feldern, um sie weiterhin in ihrer Umgebung zu haben. »Die Menschen begegnen der Abholzung des Regenwalds, indem sie wilde Nahrungspflanzen anbauen«, stellt Cruz García fest.
Bedingt durch den zunehmenden Rückgang des Regenwalds ist das gezielte Anpflanzen in unmittelbarer Nähe manchmal die einzige Möglichkeit, die den Dorfbewohnern bleibt, um die entsprechenden Nahrungsmittel weiterhin essen zu können. Danica Carrión Pizango, eine der Gründerinnen von Pueblo Libre, erzählt, dass sie und die Menschen in ihrer Nachbarschaft jetzt 20 Kilometer zurücklegen müssen, um einen Primärwald zu erreichen. Sogar der nächstgelegene Sekundärwald liegt fünf Kilometer entfernt – ein Umstand, der das Sammeln von Wildfrüchten, Wurzelknollen und Heilpflanzen wie etwa Açaí (die Frucht der gleichnamigen Palme) oder Uvilla (die weintraubenartige Frucht eines im Amazonasgebiet heimischen immergrünen Baums) immer schwieriger macht.
Wilde Nahrungspflanzen verschwinden
Doch ohne einen Zugang zu wilden Nahrungsmitteln wie diesen laufen bäuerliche Subsistenzgemeinschaften hier in Peru und auf der ganzen Welt verstärkt Gefahr, von Nahrungsmittelknappheit betroffen zu sein. »Wild wachsende Nahrungspflanzen können den Anbau von Kulturpflanzen ergänzen, denn sie stellen andere Nahrungsquellen dar, die wichtige Nährstoffe liefern. In kargen Monaten spielen sie außerdem eine Schlüsselrolle«, verdeutlicht Cruz García.
In Pueblo Libre habe man sich entschlossen, vorerst keine weiteren Ölpalmen anzupflanzen, sagt Carrión Pizango. Diese Entscheidung beruht größtenteils auf praktischen Gründen: Das mächtige Wurzelsystem der Palmen verhindert nämlich, dass andere Pflanzen in ihrer Umgebung gedeihen. »Wegen des Ölpalmenanbaus haben wir viele unserer Obstbäume verloren«, erzählt die Dorfbewohnerin. Palmöl trägt zwar ganz entscheidend zum Einkommen der ortsansässigen Bevölkerung bei, aber »man muss einen Weg finden, um es auf umweltverträgliche Weise zu produzieren«.
Als ich Carrión Pizango frage, wie sie sich den Regenwald ihrer Heimat in 20 Jahren vorstellt, schüttelt sie den Kopf und atmet tief aus. Sie ist sich nicht sicher, ob es überhaupt noch einen Wald geben wird. Weitaus schlimmer ist jedoch die Ungewissheit, wie ihre Dorfgemeinschaft dann wohl aussehen wird. Obwohl der Ölpalmenanbau den Menschen in Pueblo Libre wirtschaftlich zugute kam, belastete er die Beziehungen auf lokaler Ebene und wirkte sich auf die Gesundheit der Dorfbevölkerung aus. Bevor die Ölpalmen kamen, verband Gemeinschaft ein engerer Zusammenhalt – die Menschen halfen einander. Jetzt, erklärt Carrión Pizango, gebe es dieses Prinzip der Gegenseitigkeit nicht mehr. Gleichzeitig sind die Ernährungsgewohnheiten der Regenwaldbewohner den globalen Trends gefolgt und zunehmend einförmiger geworden. Früher hätten die Menschen in Ucayali niemals Brot oder Nudeln gegessen, bemerkt Carrión Pizango mit Blick auf den von ihr beobachteten Ernährungswandel.
Während in den letzten Jahren ein starker Anstieg der Fettleibigkeitsrate bei Kindern in Peru zu verzeichnen war, hat auch die Prävalenz von Unterernährung und Anämie erheblich zugenommen – eine Entwicklung, die Félix Sánchez Zavala, der im Auftrag der UNICEF Ernährungsstudien in Ucayali durchführt, mit Besorgnis erfüllt. In der peruanischen Region Ucayali gelten 19,4 Prozent der unter fünf Jahre alten Kinder als unterernährt, und 59,1 Prozent der unter Dreijährigen leiden an einer Anämie.
Als ich Carrión Pizango gegenüber die Bemühungen der AGASU erwähne, die sich der peruanischen Gastronomie bedienen möchte, um die Nachfrage nach wild wachsenden Nahrungsmitteln zu steigern, strahlt ihr Gesicht in einem breiten Lächeln. Sie ist auf Anhieb von diesem Konzept begeistert. Tatsächlich hat sie selbst einmal den Versuch unternommen, ein Getränk aus der weintraubenähnlichen Frucht Uvilla auf den Markt zu bringen, aber der dazugehörige Baum verschwindet gerade derartig schnell aus ihrer Region, dass sie das Projekt wieder aufgegeben hat. Solche Ansätze seien ein Gewinn für beide Seiten, meint die Peruanerin, da sie den Menschen Gelegenheit böten, mehr über die Wildpflanzen zu erfahren und diese zu schützen, während sie gleichzeitig Beschäftigungsmöglichkeiten für junge Menschen schaffen würden.
Die Risiken der Amazonasküche
Sanchez Choy ist dagegen vorsichtig optimistisch. Die Erhaltung der Artenvielfalt mit der peruanischen Küche zu verknüpfen, sei zwar eine gute Idee; dennoch stelle jenes Konzept etwas völlig Neues in Ucayali dar und werde sich weit über die Region hinaus verbreiten müssen, um die Nahrungsmittelwahl der Menschen in irgendeiner Weise zu beeinflussen, gibt der Wissenschaftler zu bedenken. Das Wichtigste sei vielleicht, dass sich jeder nachhaltige Markt im Hinblick auf die Fragilität von Biodiversität und der angebotenen Produkte im Klaren sei, so der Wissenschaftler. Denn bei Letzteren handelt es sich in der Regel nicht um einheitliche Kulturpflanzen, sondern um saisonale, äußerst variable Früchte und Kräuter, die gesammelt oder in Hausgärten angepflanzt und nicht auf Plantagen kultiviert werden. Ein zu hoher Preis für eins dieser Produkte könne schlimmstenfalls weitere Abholzungen zur Folge haben, warnt Sanchez Choy.
Momentan werden die meisten der in freier Natur geernteten oder in Gärten angebauten Wildpflanzen Amazoniens nur in kleinem Umfang zum Verkauf angeboten – auf lokalen Märkten und zu niedrigen Preisen. Wenn es allerdings gelingen würde, auch jenseits der Amazonasregion eine Nachfrage zu etablieren, könnten die Preise für diese Nahrungsmittel steigen und die Menschen zur Anpflanzung und Pflege weiterer Bäume und Sträucher ermutigen. Derartige Unternehmungen sind zwar weit von einem Anbau einheitlicher Nutzpflanzen entfernt, aber bei einer ganzen Reihe von Wildpflanzen gibt es tatsächlich Hinweise auf vergangene Domestikationsversuche. In einigen, von Menschen schon seit langer Zeit verlassenen Wäldern dominieren etwa Paranuss- und Kakaobäume die Vegetation und sind ein lebender Beweis dafür, dass bereits frühere Generationen der Bewohner Amazoniens Landschaften gestalteten, indem sie nützliche, wild wachsende Pflanzenarten kultivierten.
Der nachhaltige Anbau einiger Wildpflanzen erfordert jedoch eine langfristige und engagierte Bewirtschaftung. Arten wie die Buritipalme, die erst nach längerer Zeit Früchte tragen, werden zurzeit selten in die Nähe von Dörfern verpflanzt. Darüber hinaus klettern die Menschen zur Ernte der Aguajefrüchte häufig nicht mehr in die Baumkronen, sondern fällen gleich die gesamte Palme. Diese Methode beraubt den Wald nicht nur seiner großen Bäume, sondern hat zugleich einen negativen Einfluss auf die innerartliche genetische Vielfalt, da nur die weiblichen Buritipalmen Früchte tragen.
Ein weiteres warnendes Beispiel eines beliebten, wild wachsenden Nahrungsmittels ist das so genannte Chonta. Es wird aus dem Palmherz der Pfirsichpalme gewonnen, die die Einheimischen Pijuayo nennen, und in der traditionellen amazonischen Küche in langen, weißen Streifen zum Verzieren von Salaten verwendet. Da die Bäume zur Ernte des Palmherzens gefällt werden müssen, verschwinden auch die Pfirsichpalmen zunehmend aus der Amazonasregion. »Es ist gar nicht mehr so leicht, einen Pijuayo zu finden«, erzählt Blanca Perez Morey, eine Köchin und Mitbegründerin von AGASU. Ohne eine gezielte Kultivierung dieser Palmenart könnte ein wachsender Appetit auf Chonta ihren Fortbestand bedrohen.
Zwischen dem Entfachen einer Nachfrage nach einem saisonalen, wild wachsenden Nahrungsmittel und dem Risiko, ein derartig gesteigertes Interesse hervorzurufen, das ganze Bestände dezimiere, liege nur ein sehr schmaler Grat, betont Perez Morey. »Es ist eine ziemlich komplizierte Angelegenheit.« Doch gerade deshalb ist das Ziel der AGASU so einzigartig, denn die Köche möchten nicht nur für eine oder zwei »Superfrüchte«, sondern für eine breite Palette an Nahrungsmitteln aus der Amazonasregion werben. Der Versuch, mit Hilfe der Gastronomie verschiedenartige nachhaltige Anbausysteme zu fördern, könne zur Erhaltung von Arten beitragen und zudem das Wissen bewahren, wie man diese bewirtschaftet und aus ihnen Speisen zubereitet, argumentiert Robin Sears, die als Wissenschaftlerin für Land- und Forstwirtschaft an der Yale University tätig ist. Die weltweite Nachfrage nach Açaí habe es beispielsweise Kleinbauern in Brasilien ermöglicht, weiterhin ihren vielfältigen Formen des Ackerbaus nachzugehen, während sie gleichzeitig über ein festes Einkommen verfügten, unterstreicht Sears.
Dennoch ist es selbst mit staatlicher Unterstützung unglaublich schwierig, einen wirtschaftlich überlebensfähigen Markt zu schaffen. Das Instituto de Investigaciones de la Amazonía Peruana (IIAP) arbeitet beispielsweise seit Jahrzehnten an der Züchtung neuer Camu-Camu-Sorten, die durchgängig geschmacklich gute Früchte einer gewünschten Größe tragen. Aber die Vermarktung von Camu Camu ist bislang noch nicht in Schwung gekommen; schuld daran sind unter anderem hohe Transportkosten, schwankende Preise, schlechter Zugang zu den Märkten und nicht zuletzt ein fehlender Anreiz für die Bauern. Denn schließlich zählt nur ein Kriterium, um potenzielle Anbauer von Wildpflanzen wirklich in Versuchung zu führen: die entsprechende Nachfrage.
Neue Küche
Vielleicht mehr als jeder andere hat Pedro Miguel Schiaffino den Appetit der Einwohner Limas auf die kulinarischen Köstlichkeiten des Urwalds geweckt. Der von vielen als der erste kulinarische Botschafter zwischen Lima und Ucayali angesehene Chefkoch eröffnete im Jahr 2014 sein Restaurant »Malabar« – das erste, in dem mit Wildpflanzen aus der Amazonasregion zubereitete Speisen serviert wurden – im schicken Stadtteil Miraflores. Acht Jahre später folgte ein weiteres Lokal, das »AmaZ«, auf dessen Speisekarte ausschließlich Gerichte aus der traditionellen Küche Amazoniens zu finden sind. Nach Schätzung der im »Malabar« angestellten Köche gibt es in der peruanischen Hauptstadt inzwischen etwa acht weitere Restaurants, die Zutaten aus der Amazonasregion verwenden.
Schiaffinos Ceviche, das peruanische Nationalgericht aus roh mariniertem Fisch, enthält an Stelle der üblicherweise verwendeten Limetten oder Zitronen eine säuerlich-herbe, der Maracuja ähnelnde Frucht namens Tumbo. Eine Speise aus Tapioka schwimmt in einer Soße, die der Koch aus der würzigen »Amazonastomate« Cocona zubereitet hat. Und die tiefrote Farbe seines geräucherten Fischs rührt von einer Glasur aus Achiote her, den in braunroten, haarigen Fruchtkapseln eingeschlossenen roten Samen eines einheimischen Strauchs, aus denen während der Karnevalszeit Farben und Säfte hergestellt werden.
Zu den Favoriten der Restaurantbesucher zählen Früchte aus der Amazonasregion, wie etwa Cocona, Açaí oder Camu Camu, und der Süßwasserfisch Paiche. »Schon nach dem ersten Bissen sind unsere Gäste begeistert«, berichtet Alexander Carmen, der als Koch im »Malabar« arbeitet. Trotzdem hatte es eine gewisse Zeit gedauert, bis die Menschen verstanden, dass die sich ständig ändernde Speisekarte die saisonale Verfügbarkeit der verwendeten Lebensmittel widerspiegelt. Die größten Schwierigkeiten hatte es bereitet, eine kontinuierliche Belieferung mit den entsprechenden Produkten aufrechtzuerhalten; erst nach etwa zwei bis drei Jahren konnte Schiaffino schließlich das Vertrauen der Bauern gewinnen. Mit dem Auto benötigt man für die Strecke von Pucallpa, der Hauptstadt der Region Ucayali, bis nach Lima ganze 15 Stunden. Noch vor zehn Jahren hätte niemand Fische oder Früchte aus dem Amazonasgebiet in die peruanische Hauptstadt transportiert, stellt Carmen fest.
Am Beispiel von Paiche beziehungsweise Arapaima wird der komplexe Prozess deutlich, den die Überführung eines nicht für den Verbrauch kultivierten oder gezüchteten Nahrungsmittels in eine nachhaltige Produktionskette nach sich zieht. Das Fleisch fressende Ungetüm eines urtümlichen Fischs kann eine Länge von bis zu drei Metern erreichen und ein Gewicht von 180 Kilogramm auf die Waage bringen. Wegen Überfischung wurden seine einst üppigen Bestände allerdings stark dezimiert. Mittlerweile gelten Fangbeschränkungen zum Schutz des Arapaima, und Wissenschaftler haben in staatlich geförderten Forschungsprojekten Verfahren entwickelt, um ihn in Aquakulturanlagen zu züchten. Die Menge des aus Fischfarmen stammenden Paiche hat sich seit 2013 mehr als verdoppelt und betrug im Jahr 2017 landesweit etwa 200 Tonnen. Theoretisch hätte dies zu einer Verringerung des Fischereidrucks auf die Wildbestände führen müssen; bislang ist aber ungewiss, ob sich die Populationen der in freier Natur lebenden Arapaimas tatsächlich wieder erholen. Zudem erfordert die Aquakultur hier wie anderswo ein sorgfältiges Management, um wirklich nachhaltig zu sein. Die Bemühungen, einen weltweiten Markt für Paiche aufzubauen, waren jedoch erfolgreich: Die US-amerikanische Biosupermarktkette Whole Foods Market führt den Fisch in ihrem Sortiment und bietet ihn zusammen mit einer Reihe von Rezepten an, die Köche am heimischen Herd zu neuen Gerichten inspirieren sollen.
Im Jahr 2012 veranstaltete die Peruanische Gastronomiegesellschaft (Sociedad Peruana de Gastronomía, kurz APEGA) den so genannten »El Paichezazo«, einen Wettbewerb, der für die amazonische Küche und die Artenvielfalt der Amazonasregion werben sollte. Den ersten Platz belegte die Restaurantbesitzerin und Köchin Teresita Macedo Álvarez, der das »El Viajero« in Pucallpa gehört, zusammen mit ihrer Tochter Janina Alania Macedo, Betreiberin des in der Nähe gelegene Grillrestaurants »D'Matheus Restrobar«. Ihr Gericht mit dem Namen »Mishkina de Paiche« (mishkina ist ein Wort aus der Sprache der Einheimischen und bedeutet köstlich) besteht aus knusprig gebratenen, fein gewürzten Fischbällchen, die auf einem Bett aus Cassava (Maniok) angerichtet werden. Zahlreiche süße und pikante Dips, zubereitet aus den Früchten Cocona und Aguache sowie aus dem knoblauchähnlichen grünen Küchenkraut Sacha Culantro, verleihen dem Gericht seinen besonderen Geschmack.
»Als wir 2012 diesen Preis gewannen, war Ucayali in der Gastronomieszene noch völlig unbekannt«, erzählt Alania Macedo. Mutter und Tochter, die beide der AGASU angehören, erklären einstimmig, dass ihre Auszeichnung den entscheidenden Wendepunkt darstellte. »Bevor unser Paiche-Gericht berühmt wurde, besaß der Fisch außerhalb von Ucayali noch keinen besonderen Ruf«, fügt Alania Macedo hinzu. In der Vergangenheit hatten normalerweise andere Regionen des Landes sämtliche gastronomische Auszeichnungen und die damit verbundene Aufmerksamkeit eingeheimst.
Für Macedo Álvarez erfüllte sich mit dem Gewinn des »El Paichezazo« ein Lebenstraum: die kulinarischen Spezialitäten der Amazonasregion mit Menschen fernab des Regenwalds zu teilen. Zusammen mit ihrer Mutter hatte sie schon als junges Mädchen Juane, das traditionelle, aus Paiche und Reis bestehende Gericht der peruanischen Amazonasbewohner, gekocht und an die Einheimischen verkauft. Seit sie den Wettbewerb der APEGA zu ihren Gunsten entschied, ist Macedo Álvarez auf zahlreichen Gastronomiemessen in aller Welt zu Gast gewesen. Außerdem besuchen immer mehr Köche aus anderen Regionen das Amazonasgebiet.
Im August 2018 kamen mehr als 60 000 Besucher zur Expo Amazónica, jener Messe, die das Interesse ausländischer Investoren für Produkte aus der Amazonasregion wecken sollte. Im Rahmen der Veranstaltung schlossen peruanische Unternehmer und Käufer aus dem Ausland Geschäfte in Höhe von umgerechnet etwa 24,6 Millionen Euro ab. Während das überwiegende Interesse der ausländischen Abnehmer den bereits kultivierten Feldfrüchten wie Kaffee oder Kakao galt, fanden auch Nahrungsmittel wie Camu Camu, Paiche und die Inka-Erdnuss Sacha Inchi Beachtung. Letztere zählen mittlerweile zu den zehn Produkten, die die peruanische Regierung künftig besonders fördern möchte.
Obwohl die AGASU erst seit einem Jahr besteht, hat die von Küchenchefs geleitete Organisation bereits beachtliche Fortschritte in der Vermarktung einer bunten Palette von amazonischen Köstlichkeiten erzielt. Die Köche aus der Region Ucayali sind sich zwar bewusst, dass ein grundlegender Wandel in der weltweiten Gastronomie nur mit einer gehörigen Portion Beharrlichkeit und Kreativität erreicht werden kann, doch sie haben sich für diese langfristige Perspektive entschieden. »Mit Hilfe der Nahrungsmittel können wir für den Schutz der Umwelt sorgen«, erklärt Perez Morey. »Und wir tun gleichzeitig etwas für den Erhalt der Artenvielfalt.«
Der Artikel erschien ursprünglich unter dem Titel »Can Wild Foods Save the Amazon?« bei »bioGraphic«, einem digitalen Magazin, das von der California Academy of Sciences publiziert wird.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.