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Essstörungen: Neue Wege aus der Magersucht

Die Sicht auf die Anorexia nervosa hat sich verändert. Neben psychischen Faktoren rücken Veranlagung und Stoffwechsel als mögliche Ursachen in den Vordergrund. Das hat Folgen für die Therapie.
Traurige Frau mit Maßband

Als 13-Jährige begann Katharina zu fasten. Sie ernährte sich ausschließlich vegetarisch, aß immer weniger und erbrach sogar kleinste Mengen an Speisen. Mit gleichaltrigen Jugendlichen wollte sie nichts zu tun haben. Ihr Starrsinn brachte ihre Eltern zur Verzweiflung, die vergeblich versuchten, sie zur Vernunft zu bringen. Oft verletzte Katharina sich selbst, indem sie sich blutig schlug. Später bewunderte man sie für ihren eisernen Willen. Sie starb ausgezehrt mit 33 Jahren.

Die Rede ist von Katharina von Siena (1347–1380), einer berühmten Schutzheiligen Europas mit großem Einfluss auf die Politik der katholischen Kirche. Wahrscheinlich litt sie an Anorexia nervosa, der Pubertätsmagersucht (siehe »In Kürze«). Denn Magersucht ist keineswegs eine moderne Erkrankung. Ähnliche Symptome wurden schon im Mittelalter beschrieben. Nur brachte man das nicht mit Krankheit in Verbindung. Im Gegenteil, nicht wenige jener Frauen, die aus religiösen Gründen radikal fasteten, verehrte man später als Heilige, wurden sie doch augenscheinlich allein durch Gottes Gnade ernährt.

Erst rund ein halbes Jahrtausend später, im Jahr 1873, avancierte die Anorexia mirabilis (von lateinisch: mirabilis = wundersam) durch die Beschreibungen von Sir William Gull in England und Ernest-Charles Lasègue in Frankreich zur Anorexia nervosa – und damit zu einer Krankheit, deren Ursache man in einer angegriffenen Psyche vermutete. Aber wie die rätselhafte Störung wirklich entsteht, verstanden die Ärzte nicht.

Anmerkung der Redaktion: Menschen mit Anorexia nervosa in medizinischer Behandlung sind zu über 90 Prozent weiblich. Für die im Artikel berichteten Befunde liegen leider meist nur Daten von Frauen vor; daher ist dort überwiegend von Patientinnen oder Mädchen die Rede.

Wiederum etliche Jahre später, 1944, führten Forscher um den Ernährungswissenschaftler Ancel Keys an der University of Minnesota ein Fastenexperiment mit 36 amerikanischen Kriegsdienstverweigerern durch. Keys' Ziel war es damals herauszufinden, wie man die vielen Hungernden während des Zweiten Weltkriegs am sinnvollsten gesundheitlich rehabilitieren könnte. Die jungen Männer hatten sich freiwillig gemeldet. Doch keine Ethikkommission würde den Versuch heute noch genehmigen. Denn Keys verlangte von den Probanden sportliche und geistige Höchstleistungen, während sie nur sehr wenig Kalorien und keinerlei Fleisch zu sich nehmen durften. Bald zeigten sie ähnliche Symptome wie magersüchtige Patientinnen (mehr als 90 Prozent der Betroffenen sind weiblich): Sie fühlten sich abgestumpft und leer, ihre Libido nahm stetig ab, die Gedanken kreisten ständig ums Essen. Viele wurden depressiv, einige entwickelten sogar Zwänge.

Liegt die Hauptursache in der Familie?

Trotz solcher Hinweise wurde die Bedeutung des Fastenzustands für die Symptome der Anorexia nervosa lange Zeit wenig beachtet. Stattdessen geriet die Familie der Betroffenen ins Blickfeld von Psychologen und Psychiatern. Diese vermuteten die Ursache des Übels in der Beziehung zu den Eltern; das Kind wurde zum »Symptomträger«, bei dem sich die familiären Schwierigkeiten manifestierten. Seither zermartern sich Mütter (und Väter) den Kopf, was sie zur Erkrankung ihrer Tochter beigetragen haben könnten: »Alle meine Gespräche mit meinen Freundinnen, meinem Mann oder meiner Therapeutin drehten sich darum: Was habe ich bei unserer Tochter nur falsch gemacht? Warum habe ich es nicht eher gemerkt? Bin ich eine übergriffige, eine überbehütende Mutter? Oder habe ich mich durch meinen Wiedereinstieg in den Beruf zu wenig um sie gekümmert?«

Hier finden Eltern Hilfe

Das Netzwerk Magersucht – Eltern bietet Hilfestellung für Menschen, deren Kinder an Anorexia nervosa erkrankten.

Die Stigmatisierung hielt sogar unter Medizinern lange an. Ich selbst habe noch erlebt, wie 14-Jährige wochenlang ihr Bett nicht verlassen und über Monate keinen Besuch von ihren Eltern bekommen durften, um sich von deren Einfluss zu lösen. Durch das strenge Verhaltensregime und die fehlende elterliche Unterstützung fühlten sich die Patientinnen für ihre Krankheit geradezu »bestraft«.

Erst im Jahr 2010 gab es eine erlösende Stellungnahme der internationalen Akademie für Essstörungen. Die Verfasser stellten fest, dass keinerlei wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, die familiäre Einflüsse als alleinige oder primäre Ursache der Magersucht nachweisen. Zugleich forderten sie Therapeuten und Medien auf, entsprechende Behauptungen künftig zu unterlassen. Trotzdem suchen immer noch viele Familien die Schuld für die Erkrankung bei sich selbst. Mehr als die Hälfte der Eltern glauben, so ergab eine Befragung durch uns im Jahr 2014, dass sie von den meisten Menschen für weniger fürsorglich und vertrauenswürdig gehalten werden.

Aber worin wurzelt die Störung dann? Darauf gibt es keine einfache Antwort. Bei kaum einer Erkrankung ist die enge Verflechtung von Psyche und Soma so deutlich wie bei der Anorexia nervosa. Am Universitätsklinikum der RWTH Aachen wandten wir uns verstärkt der Bedeutung der Körperfunktionen für Entstehung und Verlauf der Magersucht zu. Inzwischen zeichnet sich ab, dass neben psychischen viele biologische Faktoren eine Rolle spielen, etwa eine genetische Veranlagung, der Stoffwechsel oder hungerbedingte Veränderungen des Gehirns. Dies verändert nicht nur unsere Sichtweise auf diese Erkrankung, sondern führt uns auch auf neue Wege in der Therapie.

Zweifellos haben die Erbanlagen einen erheblichen Einfluss: Sind Mutter oder Schwester von Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa betroffen, haben Mädchen ein ungefähr elffach höheres Risiko, an derselben oder einer anderen Essstörung zu erkranken. 2019 führte eine genomweite Assoziationsstudie, konzipiert von Cynthia Bulik aus North Carolina, zu einem weiteren Perspektivwechsel: Im Rahmen einer internationalen Initiative rekrutierten Kliniken knapp 17 000 Patientinnen mit Anorexia nervosa, damit deren Genom mit jenen von 55 000 gesunden Kontrollpersonen verglichen werden konnte. Dadurch identifizierte das Forscherteam Veränderungen an acht Genorten auf sechs Chromosomen. Diese korrelierten zum einen mit psychischen Störungen wie Zwangserkrankungen, Depression und Angst, aber auch mit körperlicher Aktivität und einem veränderten Stoffwechsel (Metabolismus).

Metabolisches Spiegelbild der Adipositas

Einiges deutet darauf hin, dass die Anorexia nervosa nicht nur eine psychische, sondern zugleich eine metabolische Erkrankung ist. Die Patientinnen scheinen dabei von Natur aus eine Stoffwechselkonstellation zu besitzen, die der Gewichtszunahme entgegenläuft. Ganz neu war der beobachtete genetische Zusammenhang mit dem Stoffwechsel der Hormone Insulin und Leptin. Das erste steuert die Zuckeraufnahme aus dem Blut und seine Verarbeitung im Körper: Je stärker die genetische Veranlagung zur Magersucht, desto sensibler reagiert eine Person auf das blutzuckerregulierende Hormon und desto niedriger sind ihre Insulinwerte beim Fasten. Somit zeigt sich hier das genaue metabolische Spiegelbild zur Adipositas, die mit hohen Insulinspiegeln und herabgesetzter Insulinempfindlichkeit einhergeht.

Ähnliches gilt für Leptin. Es beeinflusst den Appetit, bremst aber auch den Drang, sich zu bewegen. Bei akuter Magersucht sinkt der Spiegel extrem ab, was unter anderem zu dem starken Bewegungsbedürfnis der Patientinnen beiträgt. 2020 behandelte ein Team um Johannes Hebebrand vom LVR-Universitätsklinikum Duisburg-Essen drei Patientinnen zwei Wochen lang mit einem synthetischen Leptin. Dies verbesserte bei zweien von ihnen deutlich das Wohlbefinden und verringerte außerdem ihre Angst, zu dick zu werden. Allerdings gingen die Effekte nach Absetzen der Substanz wieder zurück. Nun gilt es abzuwarten, ob eine längere Behandlungsdauer zu einer nachhaltigen Besserung führen kann.

In Kürze: Anorexia nervosa

Die Anorexia nervosa (übersetzt etwa: »nervösbedingte Appetitlosigkeit«) betrifft bis zu 4 Prozent aller Frauen, dagegen nur etwa 0,3 Prozent aller Männer. Das Körpergewicht ist so niedrig, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen eintreten.

Die meisten Betroffenen nehmen sich selbst trotz extremen Untergewichts als zu dick wahr. Sie vermeiden die Nahrungsaufnahme sowie fettreiche Lebensmittel. Manche beschleunigen das Abnehmen etwa durch Erbrechen oder exzessiven Sport.

Ein guter Heilungserfolg wird bei zwei Dritteln der jugendlichen Patienten erreicht. Allerdings leiden sie laut einer Studie im Schnitt über zehn Jahre ihres Lebens an dieser Erkrankung. Die Sterblichkeit ist ungefähr fünfmal so hoch wie in der gleichaltrigen Normalbevölkerung.

Übergewichtige wissen, wie mühsam es ist, nach Fastenkuren nicht wieder zuzunehmen. Das Gleiche gilt umgekehrt für magersüchtige Menschen: Während es ihnen noch relativ leichtfällt, durch therapeutische Programme etwas an Masse zuzulegen, ist es für sie ungleich schwerer, das neue, gesunde Gewicht zu halten. Schon eine Durchfallerkrankung, der Appetitverlust bei einer heftigen Erkältung oder das Ziehen eines Zahns, wenn danach eine Weile nicht gegessen werden darf, können zu einem Gewichtsverlust und Rückfall führen.

Haben Frauen mit Anorexia nervosa womöglich auf Grund ihrer Veranlagung einen niedrigeren »Set Point« ihres Körpergewichts, also eine Art naturgegebenen tieferen Sollwert, auf den sie immer wieder zusteuern? Dafür spricht, dass laut einer 2019 veröffentlichten Studie viele spätere Patientinnen schon als Vierjährige im Durchschnitt deutlich leichter waren. Für die Therapie haben wir aus diesen Beobachtungen gelernt: Wir halten unsere jugendlichen Patientinnen eindringlich dazu an, ihr Gewicht in einem individuellen »Korridor« zu stabilisieren und bei beginnender Gewichtsabnahme durch Stress, Kummer oder körperliche Erkrankungen sofort die Essensportionen zu vergrößern.

Neben psychischen Einflüssen und Veranlagung spielt möglicherweise auch die Darmflora (Mikrobiom) eine ursächliche Rolle. Der Mensch pflegt ein sehr enges Zusammenleben mit Mikroben – allein im Mundraum und im Darmtrakt finden sich bis zu 100 Milliarden davon pro Milliliter, verteilt auf 300 bis 500 Bakterienarten. Jeder von uns besitzt ein individuelles Spektrum, das durch die individuelle Ernährung, Bewegung, Hormone und natürlich auch durch Medikamente wie Antibiotika mitbestimmt wird. So beobachteten Forscher, dass eine Umstellung von vegetarischer Kost auf tierische das Mikrobiom der Versuchspersonen innerhalb weniger Tage erheblich verändert.

Besonders aufschlussreich waren folgende Experimente: Als man keimfrei aufgezogene Mäuse mit dem Stuhl von übergewichtigen Artgenossen infizierte, wurden sie selbst dick. In einer anderen Studie wollten Forscher die Rolle des Mikrobioms bei der Mangelerkrankung »Kwashiorkor« ergründen. Hier führten umgekehrt Stuhlextrakte der unterernährten Kinder bei diesen Mäusen zu einer Gewichtsabnahme (siehe »Das Mikrobiom hat Gewicht«)!

Das Mikrobiom hat Gewicht | Die Darmflora beeinflusst die Regulation des Körpergewichts entscheidend. Darauf weisen beispielsweise Experimente mit keimfrei aufgewachsenen Mäusen hin. Forscherteams übertrugen den Tieren Darmbakterienmischungen, die von unterernährten oder übergewichtigen Individuen stammten. Daraufhin nahmen die Mäuse an Gewicht ab beziehungsweise zu.

Solche Erkenntnisse ließen Magersuchtforscher aufhorchen. Und wirklich: Stuhluntersuchungen bei Menschen mit Anorexia nervosa ergaben, dass sie eine veränderte Bakterienvielfalt beherbergen. Zudem finden sich darunter vermehrt Bakterienstämme, welche die Darmschleimhaut schädigen und eine Entzündung fördern. Ob Magersucht mit einem »leaky gut« (durchlässigen Darm) einhergeht, weiß man nicht sicher, doch manches deutet darauf hin. Im Hungerzustand wird die Schleimschutzschicht des Darms abgebaut. Krank machende Bakterien, ihre Abbauprodukte oder andere Giftstoffe können dann die Darmwand passieren. So gelangen sie in die Lymphknoten und von dort in die Blutbahn, über die sie wiederum das Gehirn erreichen.

Welche Rolle spielen Entzündungsreaktionen bei der Erkrankung?

Diese Wirkungskette ist uns recht gut aus Tiermodellen und einigen Studien mit depressiven Patienten bekannt. Ob sie für die Magersucht beim Menschen zutrifft, ist bisher nur eine Hypothese, für die aber etliche weitere Beobachtungen sprechen (siehe »Anorexia nervosa und die Darm-Hirn-Achse«). So finden sich bei den Betroffenen im Blut vermehrt Proteine, die eine wichtige Rolle bei immunologischen Reaktionen und Entzündungsprozessen spielen. Darüber hinaus fand ein Team um Cynthia Bulik 2019 in einer großen schwedischen Studie heraus, dass überzufällig viele Patientinnen mit Anorexia nervosa zuvor an Zöliakie (Glutenunverträglichkeit) oder Morbus Crohn (einer chronischen Entzündung des Darms) erkrankt waren – oder aber danach daran erkrankten. Patientinnen mit Magersucht berichten zudem oft, sie hätten schon als Kind häufig an Bauchschmerzen gelitten. Die aktuellen deutschen Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung von Essstörungen empfehlen daher eine routinemäßige Abklärung dieser Erkrankungen.

Interessant sind auch die 2019 publizierten Tierexperimente einer Forschergruppe um den Japaner Tomokazu Hata, die allerdings noch von anderen wiederholt werden müssen. Das Team übertrug keimfrei aufgewachsenen Mäusen den Stuhlextrakt von Patientinnen mit Anorexia nervosa oder gesunden jungen Frauen. Der Nachwuchs der Tiere, dessen Mikrobiom mit dem der Mütter und damit dem der Magersüchtigen übereinstimmte, nahm weniger zu, hatte deutlich geringeren Appetit und verwertete die Nahrung schlechter als die Nachkommen der Kontrollmäuse. Außerdem beobachtete man bei ihm mehr Ängste und zwanghaftes Verhalten – typische Symptome auch von Patientinnen mit Anorexia nervosa.

Anorexia nervosa und die Darm-Hirn-Achse

Gemeinsam mit anderen europäischen Forscherteams wollen wir nun den Wirkmechanismus der Darm-Hirn-Achse bei Anorexia nervosa weiter überprüfen und neue Therapiemöglichkeiten ausloten. So untersuchen wir derzeit, ob bestimmte Nahrungsergänzungsmittel wie Omega-3-Fettsäuren oder die Einnahme spezieller Bakterienstämme die Darmflora verbessern und damit die Gewichtszunahme und -stabilisierung erleichtern.

Wahrscheinlich brauchen wir mehr als einen Behandlungsansatz, um magersüchtigen Menschen wirksam helfen zu können. Neben möglichen biologischen Therapeutika können auch neue psychotherapeutische Methoden die Heilungschancen verbessern. Patientinnen mit Anorexia nervosa erleiden oft einen Rückfall in ihre Essstörung, wenn sie nach der stationären Behandlung wieder nach Hause zurückkehren. Viele Eltern und Jugendliche berichten, wie enorm schwierig es ist, das in der Klinik Gelernte in den Alltag zu übertragen, und wünschen sich dabei mehr Unterstützung.

Während man früher der Meinung war, eine Trennung von Eltern und Kind begünstige die Gesundung, geht man heute davon aus, dass es gut für den Heilungsprozess ist, Bezugspersonen aktiv einzubeziehen. Zu dieser therapeutischen Neuausrichtung hat vor allem der Erfolg der Familienbasierten Therapie (FBT) beigetragen, die primär am Maudsley Hospital in London entwickelt wurde und in den USA bereits vielfach angewandt wird. Die Eltern werden dabei zu »Kotherapeuten« ausgebildet und spielen somit einen wichtigen Part bei der Genesung.

Wir entschlossen uns daher, eine neue Therapieform für Kinder und Jugendliche, das so genannte Home Treatment, zu etablieren, bei dem die in der Klinik behandelten Patientinnen möglichst schnell in ihr gewohntes Umfeld zurückkehren. Dafür verkürzten wir die stationäre Behandlung auf höchstens zwei Monate, ein großer Unterschied zu den in Deutschland im Schnitt üblichen 15 Wochen. Noch in der Klinik werden die Mädchen und ihre Eltern bereits intensiv auf den heimischen Alltag vorbereitet. Dazu zählt etwa eine Aufklärung über die Krankheitsmerkmale und ihre Ursachen. Zudem muss der Patientin und den Eltern klar sein, dass Letztere die Verantwortung übernehmen werden, indem sie die Essensmengen portionieren und auf gemeinsamen Mahlzeiten bestehen. An den Wochenenden übernachtet die Patientin bereits zu Hause und übt das selbstständige Essen. Kurz vor der Entlassung wird dann das Zielgewicht festgelegt, das sie während des Home Treatments erreichen muss.

Zu Hause gesund werden

Auch in dieser drei- bis viermonatigen Behandlungsphase stellt sich die Patientin mindestens einmal wöchentlich unter unserer Aufsicht auf die Waage. Im ersten Monat zu Hause besucht unser Team die Familie sogar drei- bis viermal wöchentlich, im zweiten zwei- bis dreimal, im dritten zweimal und im vierten einmal pro Woche. Beteiligt sind eine Ökotrophologin, eine Ergotherapeutin, eine Ärztin, eine erfahrene Mitarbeiterin des Pflegedienstes sowie eine Psychotherapeutin, die das Mädchen schon auf der Station betreute.

In den ersten beiden Monaten des Home Treatments liegt der Schwerpunkt neben der Schulung und Beratung der Eltern auf der direkten Unterstützung des Kindes. Manchmal ist es nötig, die Spiegel in der Wohnung zuzuhängen, um die Patientin nicht mit ihrem verzerrten Körperbild zu konfrontieren. Hin und wieder räumen wir zusammen ihren Kleiderschrank auf, damit sie sich von zu engen Sachen trennen kann, oder wir sind bei einem Treffen mit Gleichaltrigen dabei, mit denen sie ihr Problem besprechen will.

Fast immer helfen wir bei der Rückkehr in die Schule. Mädchen mit Magersucht sind oft ebenso ehrgeizig wie fleißig und übernehmen sich mit ihren Schularbeiten und Hobbys. Sie wollen am liebsten immer Klassenbeste sein, gehören aber auch etwa als Geigerin oder Klavierspielerin zu den besonders Eifrigen oder trainieren im Sport hart für eine Meisterschaft. Es fällt ihnen schwer, sich etwas zu gönnen und rücksichtsvoll mit sich selbst und ihren Kräften umzugehen. Und auch mit Kontakten zu Gleichaltrigen tun sie sich oft nicht leicht.

Hungern verändert das Gehirn | Bildgebende Studien finden bei stark magersüchtigen Patientinnen regelmäßig eine deutliche Verringerung des Hirnvolumens, vor allem in der grauen Substanz (den Zellkörpern) und mitunter auch in der weißen Substanz, die aus den myelinisierten Zellfortsätzen besteht. Vermutlich ist eine gebremste Zellneubildung einer der Gründe für das abnehmende Hirnvolumen. Dies bestätigte 2020 eine unserer Studien an Mäusen. Insbesondere die Population der Astrozyten schrumpfte um mehr als die Hälfte. Diese wurden lange Zeit nur als passive Stützzellen angesehen, sie sind für das Funktionieren des Gehirns jedoch in vielerlei Hinsicht unersetzlich.
Außerdem zeigen Patientinnen mit Anorexia nervosa häufig einen Mangel an BDNF (brain-derived neurotrophic factor) – einem Protein, das Neurone »schützt« und die Synapsenbildung anregt. Auch hier könnte eine direkte Verbindung zum Mikrobiom bestehen: So führte bei Mäusen die Zerstörung der Darmflora durch Antibiotika zu einer verringerten Zellneubildung im Hippocampus und zu Lerndefiziten. Beides konnte durch Gabe von Bifidobakterien und Lactobacillus kompensiert werden.
Es liegt nahe, dass sich die morphologischen Veränderungen auf Emotionen und Kognition auswirken können – etwa auf die Gefühlsverarbeitung, das Entscheidungsverhalten und das Gedächtnis. Zwar ist hier die Datenlage insgesamt noch etwas widersprüchlich. Therapeutische Fachkräfte und Angehörige sollten aber im Umgang mit Patientinnen mit akuter Anorexia nervosa berücksichtigen, dass sich deren Gehirn quasi im Ausnahmezustand befindet. Die gute Nachricht: Bei ausreichender Nährstoffversorgung und Gewichtszunahme scheint sich das Organ bei den meisten Patienten wieder zu regenerieren.

In unserer 2020 publizierten Pilotstudie an 22 Patientinnen war der Heilungserfolg des Home Treatments ermutigend: Nur in einem einzigen Fall musste dieses vorzeitig beendet und die Patientin im Krankenhaus weiterbehandelt werden. Innerhalb der anschließenden einjährigen Nachbeobachtungszeit wurden nur zwei Mädchen (9,5 Prozent) wieder aufgenommen; in unserer Studie zur tagesklinischen und stationären Behandlung von 2014 waren es doppelt so viele gewesen. Zudem schätzten die Eltern und die Kinder nach eigener Aussage die Betreuung zu Hause und gaben uns dafür gute Noten. Die Mütter wurden sicherer im Umgang mit ihrer essgestörten Tochter und litten weniger unter depressiven Symptomen als bei der Aufnahme. Diese Ergebnisse müssen natürlich noch in größeren Studien bestätigt werden.

Was macht das Home Treatment erfolgreich? Laut den beiden britischen Essstörungsforscherinnen Ulrike Schmidt und Janet Treasure spielt die familiäre Interaktion eine große Rolle für die Aufrechterhaltung der Erkrankung. Viele Eltern unterstützen unabsichtlich die Essstörung, etwa indem sie, um Konflikte zu vermeiden, kalorienarme Nahrungsmittel einkaufen oder auch, indem sie dem »kranken« Kind vielleicht mehr Aufmerksamkeit schenken als seinen Geschwistern. Nicht selten stellen wir fest, dass sich die ganze Familie den Wünschen der Tochter fügte: So war in einem Fall die Temperatur im ganzen Haus auf 17 Grad herunterreguliert, weil das Mädchen durch die Kälte mehr Kalorien verbrauchen wollte; in einer anderen Familie aßen alle aus Kindergeschirr, damit die Portionen kleiner ausfielen. Unser Team hilft, diese gefährlichen Verstärker der Magersucht zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken.

Kampf gegen schädliche Gewohnheiten

Außerdem spielen die Gewohnheiten der Patientin für das Aufrechterhalten der Anorexia nervosa eine große Rolle. Stets nur winzige Portionen essen, der kilometerlange Sprint nach dem Abendessen, Kleidung automatisch in Größe 32 kaufen – solche Rituale verselbstständigen sich und werden Bestandteil des Alltags. So schreibt ein Mädchen in einem Brief »an ihre Magersucht«: »Du bist mein Leben geworden, Gewohnheit, ein Teil von mir. Ich habe Angst loszulassen, Angst vor dem Loch, das Du hinterlässt.« An genau diesem Punkt setzen unsere Therapeuten aus der Klinik an: Sie helfen der Patientin, den Teufelskreis aus Gewohnheiten und Zwängen zu durchbrechen und wieder in ein normales Leben zurückzukehren.

Die Kosten für die kombinierte Behandlung (zwei Monate stationär plus vier Monate Home Treatment) lagen übrigens ein Viertel unter jener für die übliche vollstationäre Betreuung von 15 Wochen. Bisher konnten wir nur Patientinnen versorgen, die in maximal einer Stunde Entfernung zu unserer Klinik wohnen. Doch im Frühjahr 2021 werden wir damit beginnen, Schulungen in verschiedenen Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie abzuhalten, die das Konzept übernehmen wollen.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Chance von Kindern und Jugendlichen, von der Magersucht zu genesen, bereits erheblich erhöht. Und heute wissen wir noch einmal mehr über die Bedeutung der biologischen Auswirkungen des Fastens. Der menschliche Organismus ist eine Einheit von Körper und Seele. Je besser wir den Zusammenhang verstehen, umso wirksamer werden wir Mädchen und junge Frauen mit Magersucht dauerhaft heilen können. Das ersehnen sich auch unsere Patientinnen, obgleich sie dem Therapieziel oft zuwiderhandeln. Am Ende der Behandlung formulierte es eine von ihnen so: »Du, Magersucht, hast meinen Körper terrorisiert, mein Leben verpfuscht, mir die Freude daran genommen … Jetzt ist es Zeit für Dich zu gehen … Auf Nimmerwiedersehen!«

  • Quellen

Bulik, C. M. et al.: Reconceptualizing anorexia nervosa. Psychiatry and Clinical Neurosciences 73, 2019

Hata, T. et al.: The gut microbiome derived from anorexia nervosa patients impairs weight gain and behavioral performance in female mice. Endocrinology 160, 2019

Herpertz, S. et al. (Hg.): S3-Leitlinie Diagnostik und Behandlung der Essstörungen. Springer, Berlin und Heidelberg 2019, 10.1007/978–3-662–59606–7

Herpertz-Dahlmann, B. et al.: »Therapists in action« – home treatment in adolescent anorexia nervosa: A stepped care approach to shorten inpatient treatment. European Eating Disorders Review: The Journal of the Eating Disorders Association 10.1002/erv.2755, 2020

Watson, H. J. et al.: Genome-wide association study identifies eight risk loci and implicates metabo-psychiatric origins for anorexia nervosa. Nature Genetics 51, 2019

Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1805813

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