Seuchen: Europas Lehren aus EHEC
Herr Doktor Sprenger, in Deutschland haben sich im Mai dieses Jahres rund 3800 Menschen mit EHEC-Bakterien der Variante O104:H4 infiziert, 53 sind gestorben. Rund vier Wochen hat es gedauert, bis die Infektionsquelle, wahrscheinlich Sprossen, ermittelt worden war. Was hat das ECDC aus dieser Epidemie gelernt?
Marc Sprenger: Wir haben in Europa ein Frühwarnsystem EWRS – das Early Warning Response System –, dem jedes Mitgliedsland derartige Krankheitsfälle melden muss. Wir bekommen diese Meldungen jeden Tag und diskutieren sie abhängig von der Häufigkeit und Art der Erkrankung ebenfalls täglich. Auch im Fall der EHEC-Epidemie erhielten wir diese Meldungen – zumindest sobald das Robert Koch-Institut involviert war. Weil am Anfang der Erkrankungswelle unklar war, ob es sich um ein lokales, ein deutsches oder ein europäisches Problem handelt, haben wir diese Benachrichtigungen mit Meldungen aus anderen EU-Ländern verglichen, um Aufschluss über die Ausbreitung zu bekommen.
Problematisch war, dass es anfänglich keine gute Falldefinition von EHEC gab, also wann man von einer vergleichsweise normalen E.-coli-Bakterieninfektion spricht und wann vom hämorrhagisch-urämischen Syndrom (HUS). Außerdem waren nicht alle Labors technisch in der Lage, den EHEC-Stamm nachzuweisen. Wir haben also gelernt, dass wir zwar ein gut funktionierendes System auf europäischer Ebene haben können, aber dass es eine gefährliche Verzögerung des Informationsflusses von einer EHEC-Diagnose bis zur Meldung auf europäischer Ebene gibt, wenn die europäischen Länder, Kommunen und Gemeinden so unterschiedlich organisiert sind. Es sind also Investitionen der EU-Mitgliedsstaaten in die Organisation ihrer Strukturen vor Ort notwendig. Das müssen die EU-Staaten realisieren.
Auf dem World Health Summit wurde beklagt, dass die regionalen Befugnisse eine "heilige Kuh" seien, dass Abgeben von Entscheidungsgewalt zu Gunsten einer übergeordneten föderalen oder gar europäischen Organisationsebene ein Sakrileg verletzen würde. Wie sehen Sie das?
Von den ersten Anzeichen der EHEC-Epidemie auf Klinikebene bis zur Benachrichtigung des Robert Koch-Instituts trat eine Verzögerung von 21 Tagen auf. So etwas passiert in praktisch allen Mitgliedsstaaten. Wir müssen deutlich machen, dass die jeweiligen Instanzen in den Gesundheitsbehörden derartige Informationen sofort weiterleiten. Geschieht das nicht, dann lässt sich die Quelle einer Epidemie nicht schnell genug ermitteln. Diese Verzögerungen zu reduzieren, ist die erste Lehre aus dem EHEC-Fall. Zweitens brauchen wir gute Laboratorien, die solche Bakterien schnell diagnostizieren können.
EHEC ist ein neuer, sehr seltener Bakterienstamm, weshalb das ECDC die beste Diagnosemethode ermittelt und eine Art Diagnosehandbuch an alle relevanten Laboratorien in Europa geschickt hat. Weil die Ärzte in den Kliniken zum Teil von den Fällen überfordert waren und nicht wussten, wie sie all diese Patienten adäquat behandeln sollten, haben wir eine telefonische Expertenkonferenz organisiert, um Informationen über die besten Behandlungsmöglichkeiten zu streuen. Und drittens haben wir gelernt, dass die Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsbehörden und den jeweiligen Veterinär- und Lebensmittelkontrollbehörden sehr wichtig ist. Auf europäischer Ebene arbeiten wir deshalb bereits sehr gut mit der European Food Safety Authority (EFSA) zusammen.
Was sollten lokale Behörden tun, um Zeitverluste wie bei der EHEC-Krise künftig zu vermeiden?
Wir benötigen eine Überprüfung der nationalen Informationssysteme in ganz Europa – nicht nur in Deutschland –, ob und inwieweit diese Verzögerungen verursachen oder zulassen. Man kann Meldesysteme über das Internet organisieren, so dass die Informationen von den Ärzten vor Ort die nächsthöhere beziehungsweise sogar gleich die europäische Informationsebene schnell erreichen. Aber das liegt jeweils in nationaler Verantwortung.
Das Sammeln und Verbreiten von Informationen über eventuelle Infektionsherde zu beschleunigen, ist das eine. Aber wie steht es um die Entscheidungen, die getroffen werden müssen, um das Ausbreiten einer Infektionskrankheit wie EHEC, Schweine- oder gar Vogelgrippe zu verhindern?
Tatsächlich existiert bezüglich der Bekämpfung von Infektionskrankheiten kein politisches Mandat auf der europäischen Ebene. Die nationalen Regierungen müssen deshalb reflektieren, was sie möchten: mit dem bestehenden System weitermachen, bei dem die Mitgliedsländer allein entscheiden können, wie sie im Zuge einer Seuchengefahr reagieren? Oder wollen wir mehr Entscheidungsgewalt an die europäische Ebene abgeben? Was die Kontrolle des Veterinärsektors betrifft, hat Brüssel bereits die Möglichkeit, zum Beispiel über das Verbot von bestimmten Fleischprodukten zu entscheiden. Was den Bereich menschlicher Gesundheit betrifft, ist das noch nicht der Fall. Das ist eine wichtige politische Diskussion, und es ist Sache der Politiker zu entscheiden, ob sie das System ändern wollen oder nicht.
Die Risiken von Infektionskrankheiten werden in der Öffentlichkeit mal übertrieben, mal unterschätzt. In welcher Rolle sieht sich das ECDC bezüglich einer öffentlichen Risikokommunikation?
Das ECDC ist verantwortlich für eine unabhängige und wissenschaftlich fundierte Risikoeinschätzung. Wir halten uns an die Fakten, und jeder kann unsere Analysen auf unserer Website nachlesen. Aber die Risikowahrnehmung in der Bevölkerung ist etwas völlig anderes. So wird das Risiko, an den Nebenwirkungen einer Impfung krank zu werden, heute oft höher eingeschätzt als das Risiko, die Krankheit zu bekommen, gegen die eigentlich geimpft wird. Das ist nicht der Fall! Dennoch denken viele Menschen mittlerweile, dass Impfstoffe irgendwie gefährlich seien. Derartige Einschätzungen müssen wir ernst nehmen. Wir dürfen nicht nur neue, raffinierte Vakzine entwickeln, sondern wir müssen auch in Sozialwissenschaften investieren. Nur so können wir verstehen, woher dieser Widerstand kommt und warum manche Menschen Angst vor Impfstoffen haben.
Sie versuchen, die europäische Bevölkerung über Social Media zu erreichen, etwa per Twitter. Denken Sie, damit erreichen Sie die Impfskeptiker?
Ja, denn die Menschen tauschen sich nun mal über Social Media wie Twitter und Facebook über die Nebenwirkungen von Impfstoffen aus. Deshalb sollten auch die Experten und Gesundheitsbehörden diese Kanäle nutzen, um Informationen und Fakten in die Diskussion einzubringen. Das Problem ist doch, dass die Menschen oft nicht unterscheiden, ob die Informationen von einer verlässlichen Quelle stammen oder nicht. Wir nutzen die neuen Medien daher, um Links zu den Informationen auf unserer Website zur Verfügung zu stellen. Ich hoffe, das kann etwas verändern.
Die Schweinegrippe kündigte sich als gefährliche Pandemie an und verlief dann – glücklicherweise – milder als erwartet. Allein Deutschland hatte aber bereits Impfstoff für rund 300 Millionen Euro eingekauft, von denen kaum mehr als zehn Prozent genutzt wurden. In der Bevölkerung entstand der Eindruck der Panikmache durch die Experten. Sind Fehler in der Risikokommunikation gemacht worden?
Ich habe diese Diskussion von einer nationalen Perspektive aus Schweden beobachtet, und wie in jedem Land gab es auch dort zunächst großen öffentlichen Druck, dass jeder Zugang zu dem Impfstoff haben sollte. Die Regierungen waren praktisch gezwungen, große Mengen Vakzine einzulagern. Als der Impfstoff dann zur Verfügung stand, waren nicht mehr alle Leute überzeugt, ob sie sich tatsächlich impfen lassen müssen. Aber das ist stets das Problem mit dem Vorsorgeprinzip. Man muss so handeln, um eine mögliche Gefahr zu verhindern, deren Eintreten aber nicht immer genau vorhersehbar ist.
Die WHO wurde für die Fehleinschätzung heftig kritisiert. Die Frage ist, ob man beim nächsten Mal überhaupt anders handeln könnte oder sollte?
Das ECDC wurde nicht kritisiert, denn wir haben nur die Fakten zur Verfügung gestellt und immer klar gesagt, dass der Verlauf der Schweinegrippepandemie schwer vorherzusagen ist. Auch die WHO hat nur die Fakten geliefert, was passieren könnte. Es war eine Entscheidung der Politik, die Impfstoffe zu kaufen oder nicht. Aber es ist richtig, dass wir mehr investieren müssen – zum Beispiel in mathematische Modellierungsforschung. Wir müssen die Auswirkungen von Massenerkrankungen, inklusive der ökonomischen Auswirkungen, früher und besser vorhersagen können, damit die Politik eine qualitativ hochwertige Entscheidungsgrundlage erhält.
Welche Ziele will das ECDC in den nächsten Jahren verfolgen?
Wir wollen das Überwachungssystem stärken, so dass auch neue, unbekannte Erregertypen schnell erkannt werden. Deshalb drängen wir auf den Ausbau und eine bessere Organisation der Referenzlaboratorien in Europa. Wir wollen das Vertrauen der Menschen in Impfstoffe stärken und zurückgewinnen. Und das wichtigste Ziel ist, dass die Anstrengungen im öffentlichen Gesundheitswesen trotz der Wirtschaftskrise in Europa nicht reduziert werden.
EHEC trat in Deutschland auf – einem der am besten ausgestatteten Mitgliedsländer mit hervorragenden Labors und Ärzten. Nicht jedes Land hat eine Einrichtung wie das Robert Koch-Institut, das nicht nur über die finanzielle, sondern ebenso über die personelle Kapazität verfügt, sofort die Ursache einer Epidemie zu erforschen. Und dennoch war in Deutschland eine solche Epidemie möglich. Man stelle sich vor, EHEC wäre in einem anderen, weniger gut ausgestatteten und organisierten Mitgliedsstaat ausgebrochen. Wir müssen deshalb wachsam bleiben und die Ressourcen in anderen Staaten mobilisieren.
Das wird auch vor dem Hintergrund der Klimaerwärmung immer wichtiger: Wir beobachten einen Anstieg der Fälle von West-Nil-Virusinfektionen in Griechenland und Italien und ebenso von Malaria in Griechenland. Die Ärzte müssen deshalb geschult werden, damit sie die Symptome erkennen und schnell reagieren können. Zu diesen Präventionsmaßnahmen gehört zudem, dass das ECDC im Interesse der EU in Nordafrika und im Nahen Osten Kapazitäten aufbauen hilft. Das soll diese Länder in die Lage versetzen, Infektionskrankheiten so früh wie möglich selbst zu erkennen und zu bekämpfen.
Herr Sprenger, wir danken Ihnen für das Gespräch.
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