Wahlverhalten: Jung, alternativ, rechts
Gerade einmal fünf Jahre sind vergangen, seit am 15. März 2019 erstmals mehr als 300 000 junge Menschen unter dem Banner »Fridays for Future« auf den Straßen protestierten. Die vielleicht größte Jugendbewegung aller Zeiten prägte das Bild von einer ökologisch orientierten »Generation Greta«, deren wichtigstes Anliegen entscheidende klimapolitische Veränderungen sind. Zweieinhalb Jahre später, zur Bundestagswahl 2021, war das Bündnis 90/Die Grünen bei den unter 30-Jährigen die beliebteste Partei.
2024 sieht das Bild anders aus. Schaut man sich die vorläufigen Ergebnisse der Europawahl an, haben viele junge Menschen in Deutschland womöglich eine neue Lieblingspartei: die AfD. Rund 16 Prozent der Wählerinnen und Wähler zwischen 16 und 24 Jahren haben laut den Daten von infratest dimap ihr Kreuz bei dieser Partei gesetzt. Insgesamt konnte die AfD in dieser Wählergruppe den größten Zuwachs verzeichnen, während die Grünen überproportional stark verloren haben. Das Ergebnis kam nicht vollkommen unerwartet. In vielen europäischen Ländern lässt sich schon seit Längerem beobachten, dass sich jüngere Wahlberechtigte immer öfter für so genannte Rechtsaußen-Parteien entscheiden. Das Spektrum reicht dabei von rechtspopulistisch bis rechtsextrem.
2015 etwa war der Front National bei den französischen Regionalwahlen die stärkste politische Kraft unter den 18- bis 24-Jährigen. Es folgten Wahlerfolge der äußeren Rechten bei jungen Menschen unter anderem in Dänemark, den Niederlanden, Österreich und Schweden.
»Gender voting gap« – wachsende Geschlechtseffekte
Warum finden junge Wähler eine Partei attraktiv, die der Verfassungsschutz in den meisten Bundesländern als »Verdachtsfall« eingestuft hat, in dreien sogar als »gesichert rechtsextrem«? Betrachtet man die teils umstrittenen Ergebnisse der Trendstudie »Jugend in Deutschland« von Simon Schnetzer, Kilian Hampel und Klaus Hurrelmann genauer, fällt sofort auf: Die jungen AfD-Sympathisanten sind zu fast zwei Dritteln männlich. Dieser Geschlechterunterschied ist in der Forschung bekannt als »Radical right gender gap« oder »Gender voting gap«. Während er sich in anderen Teilen der Welt schon seit vielen Jahren beobachten lässt, handelt es sich in Deutschland um ein relativ junges Phänomen.
Dies zeigte eine Untersuchung von Ansgar Hudde an der Universität Köln. Der Soziologe analysierte 2023 die Geschlechterunterschiede im Wahlverhalten bei allen Bundestagswahlen seit dem Jahr 1953: Bis in die 1970er Jahre hinein wählten Frauen konservativer als Männer. Dann folgte eine Phase ohne große Geschlechterunterschiede. Im Jahr 2013 kehrte sich das Phänomen schließlich um: Nun neigten Männer eher zu den rechten Parteien als Frauen. Und die Entwicklung spitzte sich in den Folgejahren weiter zu. »Noch nie gab es in der Bundesrepublik so große Geschlechterunterschiede beim Wahlverhalten wie 2021 bei den 18- bis 24-Jährigen«, schreibt Hudde.
Prekäre Männlichkeit
Auf der Suche nach Erklärungen verweist die Sozialpsychologin Eva Walther von der Universität Trier auf die Theorie der prekären Männlichkeit. Demnach kommt »Männlichkeit« einem sozialen Status gleich, den man sich erarbeiten muss, der mühsam zu erringen und leicht zu verlieren ist. Möglicherweise nehmen Männer die Angleichung der Geschlechterrollen in dieser Hinsicht als Bedrohung wahr. Einen Zusammenhang zwischen prekärer Männlichkeit und rechtsextremen Einstellungen bestätigten Forscher der Universität Hamburg in einer Erhebung im Jahr 2022. Laut dem Politikwissenschaftler Jannik Fischer erleben rund ein Viertel der Jungen und Männer zwischen 16 und 21 Jahren »maskulistische Bedrohungsgefühle«. Die Betroffenen gaben etwa an, besorgt zu sein, dass »männliche Werte wie Stärke, Mut und Ehre an Bedeutung verlieren« oder dass »richtige Männer immer mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden«. Wer viele solche Befürchtungen hegte, der neigte eher zu rechtsextremen Ansichten.
Viele »typisch männliche« Industrieberufe haben an gesellschaftlicher Anerkennung verloren, und Mädchen sind heute in der Schule erfolgreicher als Jungen. Insbesondere weniger privilegierte und nicht akademisch gebildete Männer bekommen solche Schieflagen zu spüren. Die Jugend-Trendstudie vom April 2024 legt nahe, dass sich das auf die politische Meinung auswirken könnte: Zumindest waren im Vergleich zu den Wählern anderer Parteien die AfD-Sympathisanten besonders häufig Arbeiterkinder.
Es ist kompliziert
Doch die Gründe sind komplexer. Björn Milbradt leitet die Fachgruppe »Politische Sozialisation und Demokratieförderung« am Deutschen Jugendinstitut in Halle/Saale und warnt davor, es sich bei der Suche nach Erklärungen für den Aufstieg der AfD zu einfach zu machen. Ihm zufolge reicht es nicht, Jugendliche vorgefertigte Fragebogen ausfüllen zu lassen. »Wenn man zuhört, was Jugendliche selbst erzählen, sieht man, dass es komplizierter ist«, sagt er.
»Das Problem sind die rechtsextremen Ideologien. Die gesamte Gesellschaft muss sich selbst fragen, was sie falsch gemacht hat und was sie besser machen sollte«Björn Milbradt, Soziologe am Deutschen Jugendinstitut Halle/Saale
Laut Milbradt trägt ein Geflecht unterschiedlichster Faktoren zur politischen Radikalisierung bei. So hätten viele junge Menschen während der Krisen der vergangenen Jahre den Eindruck gehabt, dass die Gesellschaft kaum auf ihre Anliegen eingehe, erläutert Milbradt. Während der Corona-Pandemie seien Jugendliche häufig als Risiko- oder Störfaktor behandelt worden – das habe Spuren hinterlassen. Wenn Ältere mit großer Sorge einen Rechtsruck der jüngeren Bevölkerung beobachten, folgern sie schnell daraus, die jungen Menschen seien das Problem, aber, so warnt er: »Es sind die rechtsextremen Ideologien. Die gesamte Gesellschaft muss sich selbst fragen, was sie falsch gemacht hat und was sie besser machen sollte.«
Wie sich der »Jugend in Deutschland«-Studie entnehmen lässt, blicken junge Menschen auch nach Ende der Corona-Pandemie beunruhigt in die Zukunft. Zu den größten Sorgen gehören Inflation, Kriege und Klimawandel. Die Verunsicherungen begannen eigentlich schon mit der Finanzkrise 2008, meint Milbradt. In der Folge nahmen prekäre Arbeitsverhältnisse – befristete Verträge, geringer Lohn, keine soziale Absicherung – europaweit zu. Ein Team der Autonomen Universität Madrid untersuchte 2019, ob sich das auf das Wahlverhalten auswirkt. Das Ergebnis: Junge Wähler neigten vor allem in Ländern mit unsicherem Arbeitsmarkt zu rechtspopulistischen Parteien. Statistisch erwies sich der Anteil an befristeten Arbeitsverhältnissen als einflussreicher als die Arbeitslosenquote, die Bildung oder das Geschlecht.
Angst vor dem sozialen Abstieg
Auch der Politologe Thomas Kurer von der Universität Zürich beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von wirtschaftlicher Situation und Wahlverhalten. Laut ihm sind diverse Forschungsteams zu einer weiteren zentralen Einsicht gelangt: Für die Zuwendung zu radikalen Parteien sind weniger objektive Größen wie Armut oder Arbeitslosigkeit mitverantwortlich als vielmehr die relativ schlechtere eigene Situation im Vergleich zur Elterngeneration. Fachleute sprechen von sozialer Abwärtsmobilität.
Wer befürchte abzusteigen, bevorzuge eher radikalere Parteien, bestätigte auch eine 2020 publizierte, europaweite Studie mit jungen Erwachsenen. Doch warum sind es rechte und nicht linke Parteien, die derzeit diese Unzufriedenheit in Wählerstimmen ummünzen können? Eine Auswertung von Kurer aus dem Jahr 2022 ergab, dass vor allem abwärtsmobile Wähler mit niedrigerem sozioökonomischem Status zur AfD neigten. Wähler mit ähnlichen Abwärtsaussichten, aber höherem sozioökonomischem Status tendierten hingegen zur Partei Die Linke.
Das Gerechtigkeitsempfinden scheint ebenfalls eine wichtige Rolle zu spielen. Zu diesem Schluss kommt eine Harvard-Studie von 2023. Teilnehmende, die die eigene wirtschaftliche Lage als unfair bewerteten, sympathisierten eher mit Rechtsaußen-Parteien. Wer dagegen selbst keine persönliche Ungerechtigkeit erfuhr, aber die gesamtgesellschaftliche Lage als ungerecht empfand, wandte sich mit größerer Wahrscheinlichkeit radikal linken Parteien zu.
Gewiefte Kommunikation
Dass sich unzufriedene Wähler mehrheitlich für rechtsradikale Parteien entscheiden, liegt Kurer zufolge unter anderem daran, dass diese in vielen Ländern besser aufgestellt sind. Das merkt man etwa in puncto soziale Medien, in denen die AfD äußerst effektiv agiert. Zwischen Januar 2022 und Dezember 2023 klickten Menschen im Schnitt etwa zehnmal häufiger auf einen TikTok-Post der AfD als auf einen der FDP – der zweiterfolgreichsten Partei auf der Videoplattform. Und auch auf Facebook und Youtube führt die AfD, so die Daten des Politik- und Kommunikationsberaters Johannes Hillje.
Die Politikwissenschaftlerin Anna-Sophie Heinze möchte ebenfalls genauer verstehen, weshalb die AfD und andere Rechtsaußen-Parteien bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen so gut ankommen. Gemeinsam mit ihrer Kollegin von der Universität Trier, der Sozialpsychologin Eva Walther, hat sie im April 2024 ein Forschungsprojekt begonnen, das die Förderung der demokratischen Resilienz in den Fokus nimmt. Schon bevor die ersten Ergebnisse vorliegen, ist Heinze überzeugt: »Man kann die Jugend nicht losgelöst vom Rest der Gesellschaft betrachten.« Dass etwa die AfD nun unter den Jüngeren immer beliebter wird, habe auch mit der Normalisierung der Partei in den vergangenen Jahren zu tun. Wenn die AfD in Familie, Schule oder Freundeskreis als wählbare Partei gilt, dann übertrage sich das auf jugendliche Wählerinnen und Wähler. Heinze verweist auf die letzten Landtagswahlen in Hessen und Bayern. Dort hätten 80 bis 85 Prozent der AfD-Wählerinnen und -Wähler gesagt, es sei ihnen egal, dass die Partei in Teilen als rechtsextrem gilt, solange sie die richtigen Themen anspreche. »Diese Trotzhaltung ist schon krass«, findet die Forscherin.
»Viele realisieren nicht, dass es sich um ein internationales, eigentlich globales Phänomen handelt«Anna-Sophie Heinze, Politologin an der Universität Trier
»Viele realisieren nicht, dass es sich um ein internationales, eigentlich globales Phänomen handelt«, sagt Heinze. Keine andere Parteienfamilie sei international so gut beforscht wie die der radikalen Rechten. Doch zahlreiche politische Akteure verhalten sich so, als wüsste man nicht längst, was erwiesenermaßen eben nicht funktioniert, wenn man diesen Trend stoppen will. »Beispielsweise ist mittlerweile gut belegt, dass Wählerinnen und Wähler kaum durch die Übernahme von Rechtsaußen-Positionen zurückgewonnen werden – trotzdem wird es gemacht«, kritisiert Heinze.
Politikunterricht an Schulen? Oft mangelhaft
Doch was kann man konkret gegen das Erstarken der AfD tun? »Es braucht gezielte Bildungsarbeit gegen Rechtsextremismus, ebenso wie eine spezialisierte Praxis in der Ausstiegs- und Opferberatung«, sagt der Jugendforscher Björn Milbradt. Allerdings dürfe die Bedeutung von befristeten Sonderprogrammen nicht überschätzt werden. Häufig würden sie von der Gesellschaft als eine Art Feuerwehr gesehen, die man ruft, wenn es brenzlig wird: »Wenn es gesellschaftliche Probleme gibt, ist es immer am leichtesten zu sagen: ›Okay, wir erhöhen mal die Fördermittel‹.« Aber es brauche vor allem eine dauerhaft finanzierte Bildung wie den Politikunterricht in der Schule, der politische Mündigkeit und die Fähigkeit vermittelt, die Demokratie zu verstehen.
Das Wahlalter sinkt, die politische Bildung hinkt hinterher
Wie es um die politische Bildung an den deutschen Schulen bestellt ist, untersuchen Sozialwissenschaftler der Universität Bielefeld bereits seit 2017. Sie veröffentlichen jedes Jahr ein Ranking, in dem sie das Angebot an politischer Bildung zwischen den Ländern und Schularten vergleichen. Auf der Vorderseite der Publikation von 2022 steht: »Das Wahlalter sinkt, die politische Bildung hinkt hinterher.« Und auch im Rest des Berichts finden die Autoren viele negative Worte: zu wenig verpflichtender Unterricht, zu große Unterschiede zwischen den verschiedenen Schulformen und Bundesländern. Besonders schlecht stehe es um die politische Bildung in Rheinland-Pfalz, Thüringen und Bayern. Die resultierende Ungleichbehandlung der Jugendlichen sei »verstörend«.
Jugendlichen politischen Einfluss geben – gerade jetzt
Selbst wenn oder gerade weil ihre aktuellen Zustimmungswerte für Rechtsaußen-Parteien Besorgnis erregend sind, sollten laut Milbradt junge Menschen mehr in politische Prozesse einbezogen werden. So könne man ihnen zeigen, dass sie ernst genommen werden, sofern man es richtig anstellt: »Ein Jugendbeirat ohne echte Einflussmöglichkeit, der einmal im Jahr zusammenkommt, ein bisschen diskutiert und schöne Fotos macht – das ist das Negativbeispiel«, sagt der Soziologe. Deshalb fordert er Beiräte oder Jugendparlamente, die tatsächlich mitentscheiden und über ein eigenes Budget verfügen. Wichtig sei dabei, nicht nur diejenigen zu adressieren, die bereits politisch aktiv sind, sondern eben auch Jugendliche aus sozial benachteiligten Milieus, die sich sonst eher weniger an solchen Formaten beteiligen. Auch Heinze vermutet, dass Partizipation und Erfahrung von Selbstwirksamkeit auf lokaler Ebene wichtige Ansatzpunkte sind.
Die Idee von einer »Generation Greta« war und ist zu oberflächlich. »Fridays for Future ist eine sozial hochselektive Jugendbewegung«, sagt Milbradt. »Das sind oftmals die Kinder der obersten sozialen und bildungsbezogenen Schichten.« Junge Menschen in ärmeren Gegenden interessierten sich oft für ganz andere Dinge: dass endlich eine Skaterrampe gebaut oder der letzte Jugendklub nicht geschlossen wird oder dass sie auf dem Nachhauseweg nicht überfallen werden.
»Erwachsene haben das Bedürfnis, Jugendliche zu kategorisieren«, sagt Milbradt. Dass es genauso falsch wäre, statt von einer »Generation Greta« von einer »Generation Rechtsaußen« zu sprechen, legen wiederum die Umfrageergebnisse der »Jugend in Deutschland«-Studie nahe. Die meisten jungen Menschen sind offenbar eher unschlüssig, was ihre politische Neigung betrifft. Noch häufiger als die AfD kreuzten sie die Antwortmöglichkeit an: »Ich weiß es nicht«. Das ist wohl eher ein Hinweis auf Unsicherheit als auf eine zunehmende Politikverdrossenheit. Bei der letzten Bundestagswahl nahmen fast 30 Prozent der 18- bis 29-Jährigen nicht an der Wahl teil; laut der aktuellen Umfrage wollten nur 10 Prozent nicht wählen gehen. Das immerhin wäre ein großer Fortschritt.
Anmerkung der Redaktion: Wir haben diesen Artikel nach der Europawahl aktualisiert und um die vorläufigen Ergebnisse ergänzt.
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