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Viviparie: Die Evolution der Lebendgeburt vollzog sich schleichend

Einst legten alle Tiere Eier. Nun sind Forschende der Lebendgeburt auf der Spur: Die genetische Analyse einer Meeresschnecke wirft neues Licht auf die Ursachen.
Schnecken der Gattung Littorina
Littorina-Schnecken sind an den felsigen Küsten Europas, des Vereinigten Königreichs und der Ostküste der USA verbreitet.

Was war zuerst da: Henne oder Ei? Die Frage ist beliebt und nicht leicht zu beantworten. Man kann aber sagen, dass das Eierlegen (Oviparie) evolutionär tief verankert ist und bereits entstand, bevor die ersten Tiere den Schritt aufs Land wagten. Doch seitdem kam es im gesamten Tierreich zu zahlreichen unabhängigen Übergängen hin zur Lebendgeburt (Viviparie). Viele Insekten, Fische, Reptilien und vor allem Säugetiere bringen ihren Nachwuchs mittlerweile lebend zur Welt. Der bislang älteste Nachweis für eine Lebendgeburt ist das 380 Millionen Jahre alte Fossil eines Panzerfisches. Welche genetischen Veränderungen notwendig sind, um diesen speziellen evolutionären Prozess anzutreiben, war bislang jedoch noch unklar. Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Sean Stankowski vom Institute of Science and Technology Austria (ISTA) hat nun am Beispiel einer Meeresschnecke analysiert, welche Erbgutregionen dazu beitragen, ob die Individuen Eier legen oder lebende Junge zur Welt bringen. Die Ergebnisse wurden im Fachmagazin »Science« veröffentlicht.

Dass die Wissenschaftler das Phänomen am Beispiel der Meeresschnecke Littorina saxatilis untersuchten, liegt daran, dass sich die Entwicklung der Salzwassertiere zu Lebendgebärenden über einen Zeitraum von gerade einmal 100 000 Jahren erstreckt hat – evolutionär gesehen eine sehr kurze Periode. Säugetiere dagegen bringen ihre Jungen bereits seit etwa 140 Millionen Jahren lebend zur Welt. Zudem ist die Lebendgeburt das einzige bekannte Merkmal, das L. saxatilis von ihren Eier legenden Verwandten unterscheidet. Dadurch lässt sich die genetische Ursache des Unterschieds gut erforschen. Das Hauptaugenmerk legte das Team auf rund 50 genetische Veränderungen, die sich über das gesamte Schneckengenom erstrecken.

»Wir vermuten, dass die natürliche Selektion die treibende Kraft für den Übergang war. Im Mutterleib sind die Jungtiere besser vor Austrocknung, Raubtieren und physischen Schäden geschützt«Sean Stankowski, Evolutionsbiologe

»Was die einzelnen Regionen genau bewirken, wissen wir nicht«, sagte Stankowski laut einer Pressemitteilung des ISTA. »Durch den Vergleich der Genexpressionsmuster bei Eier legenden und lebendgebärenden Schnecken konnten wir jedoch viele von ihnen mit Fortpflanzungsunterschieden in Verbindung bringen.« Die Viviparie habe sich allmählich durch die Anhäufung vieler Mutationen entwickelt, die in den zurückliegenden 100 000 Jahren entstanden sind. Das habe es der Schnecke ermöglicht, sich in neuen Gebieten und Lebensräumen auszubreiten, in denen die Bedingungen für Eier zu unwirtlich wären. »Wir vermuten, dass die natürliche Selektion die treibende Kraft für diesen Übergang war«, erklärte Stankowski. Im Mutterleib seien die Jungtiere besser vor Austrocknung, Raubtieren und physischen Schäden geschützt.

Bereits seit Längerem werde darüber debattiert, ob eher die Häufung vieler kleiner genetischer Veränderungen oder vielmehr große Sprünge entscheidender sind für die Evolution, schreibt Kathryn Elmer in einem Begleitartikel. Dass sich bei den Schnecken nicht eine einzelne Genmutation dafür verantwortlich machen lässt, dass sie ihre Jungen lebend gebären, stimme mit den jüngsten Erkenntnissen aus Genomstudien an so unterschiedlichen Organismen wie Menschen und Mikroben überein: Veränderungen an relativ kleinen genetischen Regionen können große Auswirkungen auf die Phänotypen haben.

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