Experimentelle Biologie: Evolution in Flaschen
Seit 1988 lässt Richard Lenski in seinem Long Term Evolution Experiment Bakterien unter kontrollierten Bedingungen wachsen. Mit seinen Versuchen, die einen Blick in den Maschinenraum der Evolution ermöglichen, hat er die experimentelle Evolutionsbiologie begründet.
Vor 50 000 Generationen sah die Welt noch sehr anders aus: Der moderne Mensch hatte die Szenerie noch nicht betreten, verschiedene Frühmenschenarten besiedelten die Welt. Seitdem mutierten alte Gene und entstanden neue und über hunderte Jahrtausende entwickelte sich unsere Art, Homo sapiens. Die Details dieses Vorgangs aufzuklären ist der heilige Gral der Evolution: Nur zu gerne würden Wissenschaftler die einzelnen Schritte auf diesem Weg nachvollziehen.
Die Evolutionsbiologie ist eine historische Wissenschaft. Wie Kommissare, die an den Ort eines Verbrechens kommen und aus den Spuren den Ablauf der Tat rekonstruieren, schließen Forscher aus anatomischen und genetischen Merkmalen und ihrer geografischen Verteilung, wie die Arten wurden, was sie sind. In einigen Fällen beobachten sie heute auch evolutionäre Abläufe auf Zeitskalen von Jahren und Jahrzehnten, doch auch dort können Wissenschaftler Evolution nur beschreiben. Verwehrt bleibt ihnen, was in den harten Naturwissenschaft selbstverständlich ist: das reproduzierbare Experiment.
Zwölf Reihen von Flaschen
Richard Lenski von der Michigan State University allerdings allerdings hat sich mit Raffinesse und Beharrlichkeit ein solches Fenster in den Maschinenraum der Evolution geschaffen. Seit zwei Jahrzehnten wachsen in seinem Institut 12 Stämme des Bakteriums Escherichia coli unter kontrollierten Bedingungen in Kulturflaschen heran. Sie bilden das Long Term Evolution Experiment, mit dem Lenski 1988 die experimentelle Evolutionsbiologie begründet hat, die seither viele Nachahmer gefunden hat. Doch niemand kann so weit in die Vergangenheit eines Organismus zurückblicken wie Lenski, der im Februar 2010 die fünfzigtausendste Bakteriengeneration feierte.
Die Bakterien im Long Term Evolution Experiment entwickeln sich unter sehr speziellen Bedingungen. Sie haben alle Nährstoffe, die sie zum Wachsen brauchen, eingeschränkt ist ihre Vermehrung jedoch durch die Menge Glukose in der Nährlösung, ihrer einzigen Kohlenstoffquelle. Mit jedem Zyklus transferieren die Wissenschaftler eine kleine Probe der Population in ein neues Nährmedium, so dass sich die Bakterien für kurze Zeit vermehren können, bis der Nährstoff aufgebraucht ist und sie bis zum nächsten Zyklus hungern müssen.
Dadurch haben in jedem Zyklus aufs Neue jene Bakterien einen Vorteil, die Glukose effektiver verwerten als andere – sie reichern sich in der Population an, so dass die Bakterien im Verlauf der Generationen Glukose immer besser verwerten: Evolution. Insgesamt 45 Mutationen fanden die Forscher bis zur 20 000sten Generation – von denen viele nach der Theorie ihren Trägern einen Vorteil verschaffen sollten.
Evolution in Aktion
Tatsächlich zeigt der direkte Vergleich mit eingefrorenen Populationen früherer Generationen, dass die Bakterien im Lauf der Zeit immer fitter werden. Sie vermehren sich heute um 75 Prozent schneller als der ursprüngliche Stamm. Außerdem macht Zucker dick – die Zellen wurden mit der Zeit größer. In einigen Kulturen haben sie ihr Volumen glatt verdoppelt. Weshalb das vorteilhaft ist, weiß man nicht, aber es scheint so zu sein, denn alle zwölf Stämme haben diesen Weg beschritten. Das interessante Ergebnis aber ist, dass die zwölf Kulturen sehr unterschiedliche Wege zu diesem Ziel gefunden haben, von denen einige mehr, andere weniger effektiv sind: Die endgültige Zellgröße schwankt um ein Drittel. Dass die Evolution das Machbare erzeugt und nicht das Optimale, ist keine neue Erkenntnis, aber selten wurde sie so elegant demonstriert wie in Lenskis Langzeitversuch.
Citrat für die Massen
Wie viele Colibakterien in einer Flasche leben können, bestimmt der limitierende Nährstoff, und das ist in diesem Fall die Glukose. Die Nährlösung enthält jedoch noch eine große Menge eines anderen Kohlenstofflieferanten, nämlich Citrat. Allerdings kann E. coli Citrat nicht verdauen. Der Nährstoff ist in der Flasche, um eventuelle Verunreinigungen mit anderen Keimen anzuzeigen: Viele andere Bakterien können Citrat verwerten. Wenn also irgendetwas in der Kultur wie verrückt wächst und das Medium trübe wird, weiß man, dass ein fremder Organismus hineingelangt ist.
Eines Tages wuchs die Bakterienmenge in einer der Flaschen tatsächlich auf das Sechsfache des Normalwertes an. Allerdings konnten Lenski und seine Kollegen keine Eindringlinge finden – alle neuen Bakterien gehörten zur Colikultur. Nur dass es bei näherer Betrachtung keine Colibakterien mehr waren: E. coli kann per Definition kein Citrat aufnehmen, im Gegensatz zu dem Stamm in der Flasche. In Lenskis Kulturflaschen war eine neue Art entstanden.
Was immer dort passiert ist, es muss ein extrem seltenes Vorkommnis sein, unglaublich viel seltener als eine normale Mutation. 30 000 Generationen lang gelang es keiner einzigen der zwölf Linien von E. coli, auf das überreichlich vorhandene Citrat zurückzugreifen. Erst etwa bei Generation 31 000 entwickelte eine Linie die notwendige Fähigkeit, das Molekül durch seine Zellmembran ins Innere zu holen – beruht diese Entwicklung auf einer unfassbar seltenen und glücklichen Mutation, oder basiert sie auf einer langen Reihe historischer Zufälle, die in der richtigen Weise zusammenkommen müssen?
Lebende Fossilien
Um das herauszufinden, griff Lenski auf den wichtigsten Teil des Experiments zurück, der bei minus 80 Grad in einem speziellen Kühlschrank lagert: Proben aller Kulturen, abgenommen jeweils im Abstand von 75 Tagen oder etwa 500 Bakteriengenerationen. Mit diesen lebenden Fossilien kann Lenski jederzeit an einen früheren Punkt in der Evolution zurückkehren.
Bis dahin war das eine rein theoretische Frage, denn um sie zu klären, müsste man die Evolution quasi noch einmal ablaufen lassen, um zu sehen, wie wahrscheinlich der entscheidende Vorgang tatsächlich war. Genau das allerdings ist im Long Term Evolution Experiment möglich, dank der in regelmäßigen Abständen eingefrorenen Gründerpopulation. Es ist, als würde man noch einmal eine ganze Welt mit Frühmenschen bevölkern, um zu sehen, ob sich auch im zweiten Versuch der moderne Mensch mit seinem großen Gehirn entwickeln würde.
Die Vergangenheit lenkt die Zukunft
Lenskis Untersuchung demonstriert, dass die evolutionäre Wandlung einer Spezies nicht nur von der einen entscheidenden Mutation abhängt, sondern von all den historischen Zufällen, die sich über die Generationen im Genom ansammeln. Denn wie Lenskis Mitarbeiter Zachary Blount in zigtausenden Experimenten mit eingefrorenen Kulturen aus früheren Zyklen zeigte, wurde der Keim zur neuen Eigenschaft schon gelegt, viele tausend Generationen bevor die Saat aufging: Keiner der Stämme vor Generation 20 000 lernte jemals, Citrat zu verdauen, während die Eigenschaft bei Stämmen danach zwar noch selten, aber immer wieder auftrat.
Die erstaunliche Erkenntnis: Auch wir Menschen tragen schon die Saat unserer evolutionären Zukunft in uns, auch wenn sie vielleicht ebenfalls erst in 10 000 Generationen aufgeht. Seit die ersten Ergebnisse von Lenskis Gruppe in ihrer vollen Tragweite bekannt sind, haben sich viele andere Wissenschaftler auf das Gebiet gestürzt und ähnliche Experimente gestartet.
In ihnen ringen Bakterien, Viren und sogar Hefen mit verschiedenen künstlichen Auslesebedingungen, die von Hitze und Kälte bis hin zu Selektionsdruck durch Parasiten reichen. Die experimentelle Evolutionsbiologie soll Fragen beantworten, die mit klassischen Methoden bisher außer Reichweite lagen – auch und gerade über den Menschen, seine Vergangenheit und seine Zukunft.
Die Evolutionsbiologie ist eine historische Wissenschaft. Wie Kommissare, die an den Ort eines Verbrechens kommen und aus den Spuren den Ablauf der Tat rekonstruieren, schließen Forscher aus anatomischen und genetischen Merkmalen und ihrer geografischen Verteilung, wie die Arten wurden, was sie sind. In einigen Fällen beobachten sie heute auch evolutionäre Abläufe auf Zeitskalen von Jahren und Jahrzehnten, doch auch dort können Wissenschaftler Evolution nur beschreiben. Verwehrt bleibt ihnen, was in den harten Naturwissenschaft selbstverständlich ist: das reproduzierbare Experiment.
Zwölf Reihen von Flaschen
Richard Lenski von der Michigan State University allerdings allerdings hat sich mit Raffinesse und Beharrlichkeit ein solches Fenster in den Maschinenraum der Evolution geschaffen. Seit zwei Jahrzehnten wachsen in seinem Institut 12 Stämme des Bakteriums Escherichia coli unter kontrollierten Bedingungen in Kulturflaschen heran. Sie bilden das Long Term Evolution Experiment, mit dem Lenski 1988 die experimentelle Evolutionsbiologie begründet hat, die seither viele Nachahmer gefunden hat. Doch niemand kann so weit in die Vergangenheit eines Organismus zurückblicken wie Lenski, der im Februar 2010 die fünfzigtausendste Bakteriengeneration feierte.
Jeden Tag spielt sich dort für jeden einzelnen Stamm das gleiche Ritual ab: In einer frischen Kulturflasche setzen Forscher 9,9 Milliliter neues Nährmedium an und geben 0,1 Milliliter der einen Tag alten Kultur hinzu. In der frischen Nährlösung können sich die Bakterien explosionsartig vermehren. Nach 24 Stunden bereiten die Forscher eine neue Kulturflasche vor und übertragen wiederum einen Zehntelmilliliter der Bakterienkultur. Die alte Kultur frieren sie zur Sicherheit ein – falls beim Übertragen etwas schief geht. Jeder der zwölf Stämme repräsentiert eine ununterbrochene Kette von Flaschen, die sich in die Vergangenheit erstreckt.
Die Bakterien im Long Term Evolution Experiment entwickeln sich unter sehr speziellen Bedingungen. Sie haben alle Nährstoffe, die sie zum Wachsen brauchen, eingeschränkt ist ihre Vermehrung jedoch durch die Menge Glukose in der Nährlösung, ihrer einzigen Kohlenstoffquelle. Mit jedem Zyklus transferieren die Wissenschaftler eine kleine Probe der Population in ein neues Nährmedium, so dass sich die Bakterien für kurze Zeit vermehren können, bis der Nährstoff aufgebraucht ist und sie bis zum nächsten Zyklus hungern müssen.
Dadurch haben in jedem Zyklus aufs Neue jene Bakterien einen Vorteil, die Glukose effektiver verwerten als andere – sie reichern sich in der Population an, so dass die Bakterien im Verlauf der Generationen Glukose immer besser verwerten: Evolution. Insgesamt 45 Mutationen fanden die Forscher bis zur 20 000sten Generation – von denen viele nach der Theorie ihren Trägern einen Vorteil verschaffen sollten.
Evolution in Aktion
Tatsächlich zeigt der direkte Vergleich mit eingefrorenen Populationen früherer Generationen, dass die Bakterien im Lauf der Zeit immer fitter werden. Sie vermehren sich heute um 75 Prozent schneller als der ursprüngliche Stamm. Außerdem macht Zucker dick – die Zellen wurden mit der Zeit größer. In einigen Kulturen haben sie ihr Volumen glatt verdoppelt. Weshalb das vorteilhaft ist, weiß man nicht, aber es scheint so zu sein, denn alle zwölf Stämme haben diesen Weg beschritten. Das interessante Ergebnis aber ist, dass die zwölf Kulturen sehr unterschiedliche Wege zu diesem Ziel gefunden haben, von denen einige mehr, andere weniger effektiv sind: Die endgültige Zellgröße schwankt um ein Drittel. Dass die Evolution das Machbare erzeugt und nicht das Optimale, ist keine neue Erkenntnis, aber selten wurde sie so elegant demonstriert wie in Lenskis Langzeitversuch.
Besonders im Blickpunkt steht das komplizierte Verhältnis zwischen der Geschwindigkeit der Evolution und der Rate, mit der sich die Bakterien besser an ihre Umgebung anpassen. Während sich das Genom mit kontinuierlicher Geschwindigkeit veränderte, stellten Lenski und seine Kollegen fest, dass die Fitness der Bakterien nach einiger Zeit kaum noch weiter zunahm. Was es mit den scheinbar unnützen Mutationen auf sich haben kann, die sich auf diese Weise im Genom ansammeln, zeigt Lenskis bisher spektakulärstes Ergebnis (pdf). Der Versuch war keineswegs geplant, sondern nahm seinen Ausgang in einer weiteren Mutation, der ungewöhnlichsten bislang.
Citrat für die Massen
Wie viele Colibakterien in einer Flasche leben können, bestimmt der limitierende Nährstoff, und das ist in diesem Fall die Glukose. Die Nährlösung enthält jedoch noch eine große Menge eines anderen Kohlenstofflieferanten, nämlich Citrat. Allerdings kann E. coli Citrat nicht verdauen. Der Nährstoff ist in der Flasche, um eventuelle Verunreinigungen mit anderen Keimen anzuzeigen: Viele andere Bakterien können Citrat verwerten. Wenn also irgendetwas in der Kultur wie verrückt wächst und das Medium trübe wird, weiß man, dass ein fremder Organismus hineingelangt ist.
Eines Tages wuchs die Bakterienmenge in einer der Flaschen tatsächlich auf das Sechsfache des Normalwertes an. Allerdings konnten Lenski und seine Kollegen keine Eindringlinge finden – alle neuen Bakterien gehörten zur Colikultur. Nur dass es bei näherer Betrachtung keine Colibakterien mehr waren: E. coli kann per Definition kein Citrat aufnehmen, im Gegensatz zu dem Stamm in der Flasche. In Lenskis Kulturflaschen war eine neue Art entstanden.
Was immer dort passiert ist, es muss ein extrem seltenes Vorkommnis sein, unglaublich viel seltener als eine normale Mutation. 30 000 Generationen lang gelang es keiner einzigen der zwölf Linien von E. coli, auf das überreichlich vorhandene Citrat zurückzugreifen. Erst etwa bei Generation 31 000 entwickelte eine Linie die notwendige Fähigkeit, das Molekül durch seine Zellmembran ins Innere zu holen – beruht diese Entwicklung auf einer unfassbar seltenen und glücklichen Mutation, oder basiert sie auf einer langen Reihe historischer Zufälle, die in der richtigen Weise zusammenkommen müssen?
Lebende Fossilien
Um das herauszufinden, griff Lenski auf den wichtigsten Teil des Experiments zurück, der bei minus 80 Grad in einem speziellen Kühlschrank lagert: Proben aller Kulturen, abgenommen jeweils im Abstand von 75 Tagen oder etwa 500 Bakteriengenerationen. Mit diesen lebenden Fossilien kann Lenski jederzeit an einen früheren Punkt in der Evolution zurückkehren.
Bis dahin war das eine rein theoretische Frage, denn um sie zu klären, müsste man die Evolution quasi noch einmal ablaufen lassen, um zu sehen, wie wahrscheinlich der entscheidende Vorgang tatsächlich war. Genau das allerdings ist im Long Term Evolution Experiment möglich, dank der in regelmäßigen Abständen eingefrorenen Gründerpopulation. Es ist, als würde man noch einmal eine ganze Welt mit Frühmenschen bevölkern, um zu sehen, ob sich auch im zweiten Versuch der moderne Mensch mit seinem großen Gehirn entwickeln würde.
Die Vergangenheit lenkt die Zukunft
Lenskis Untersuchung demonstriert, dass die evolutionäre Wandlung einer Spezies nicht nur von der einen entscheidenden Mutation abhängt, sondern von all den historischen Zufällen, die sich über die Generationen im Genom ansammeln. Denn wie Lenskis Mitarbeiter Zachary Blount in zigtausenden Experimenten mit eingefrorenen Kulturen aus früheren Zyklen zeigte, wurde der Keim zur neuen Eigenschaft schon gelegt, viele tausend Generationen bevor die Saat aufging: Keiner der Stämme vor Generation 20 000 lernte jemals, Citrat zu verdauen, während die Eigenschaft bei Stämmen danach zwar noch selten, aber immer wieder auftrat.
Die erstaunliche Erkenntnis: Auch wir Menschen tragen schon die Saat unserer evolutionären Zukunft in uns, auch wenn sie vielleicht ebenfalls erst in 10 000 Generationen aufgeht. Seit die ersten Ergebnisse von Lenskis Gruppe in ihrer vollen Tragweite bekannt sind, haben sich viele andere Wissenschaftler auf das Gebiet gestürzt und ähnliche Experimente gestartet.
In ihnen ringen Bakterien, Viren und sogar Hefen mit verschiedenen künstlichen Auslesebedingungen, die von Hitze und Kälte bis hin zu Selektionsdruck durch Parasiten reichen. Die experimentelle Evolutionsbiologie soll Fragen beantworten, die mit klassischen Methoden bisher außer Reichweite lagen – auch und gerade über den Menschen, seine Vergangenheit und seine Zukunft.
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