Evolution: Verdauen wie vor 540 Millionen Jahren
Bereits vor mehr als 540 Millionen Jahren lebten tierähnliche Wesen mit Mund und Darm, die ihre Nahrung ähnlich verdauten wie heutige Tiere. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsteam um Ilya Bobrovskiy vom Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam. Die Gruppe berichtet über ihre Erkenntnisse in der Fachzeitschrift »Current Biology«.
Bobrovskiy und sein Team haben fossile Überreste der »Ediacara-Fauna« untersucht. So nennt man urzeitliche Organismen, die vor etwa 540 bis 580 Millionen Jahren lebten – also noch vor der kambrischen Explosion, dem »Urknall der tierischen Evolution«. In diesem geologisch extrem kurzen Zeitraum entwickelten sich die meisten der noch heute existierenden Tierstämme. Die Wesen der Ediacara-Fauna gehörten – soweit bekannt – zu den ersten, die eine mit bloßem Auge sichtbare Größe erreichten. Von ihnen sind viele Fossilien erhalten, die aber schwer zu interpretieren sind. Offenbar unterschieden sich diese Organismen sehr von dem, was wir heute kennen. Manche Wissenschaftler halten sie für die frühesten vielzelligen Tiere, andere vermuten, es seien Flechten oder Pilze gewesen. Wieder andere Fachleute nehmen an, bei den Ediacara-Wesen habe es sich um gigantische Einzeller gehandelt – ähnlich den heutigen Xenophyophoren der Tiefsee, die einen für Einzeller kolossalen Durchmesser von bis zu 25 Zentimetern erreichen.
Die Chemie verrät es
Die Arbeitsgruppe um Bobrovskiy untersuchte Fossilien diverser Ediacara-Organismen, die in Felsformationen nahe dem Weißen Meer (Russland) gefunden worden sind. Im Gestein dieser Fossilien bestimmten sie den Gehalt verschiedener Lipidmoleküle und ihrer Abbauprodukte. Zu den untersuchten Substanzen zählte Cholesterol, ein in tierischen Zellen vorkommender fettartiger Stoff, aber auch weitere Verbindungen aus der Gruppe der Sterine. Ihr Mengenverhältnis untereinander sagt etwas darüber aus, welcher Organismus – Bakterium, Alge oder Tier – hier einst versteinerte. Aufschlussreich ist zudem, in welcher räumlichen Molekülgestalt (»Isomerie«) diese Substanzen vorliegen – daraus lässt sich beispielsweise ermitteln, ob die Stoffe von Mikroben zersetzt worden oder abiotisch zerfallen sind.
Laut den Untersuchungen finden sich in den Fossilien einiger Ediacara-Wesen Spuren von Cholesterol – ein Hinweis auf tierische Zellen. Im umgebenden Gestein gibt es diese Spuren nicht, dort lassen sich Lipidrückstände von Algen und Bakterien nachweisen. Manche Fossilien zeigen einen Zentralbereich, der einem Darm ähnelt; wie die Analysen ergeben haben, sind die Lipidmoleküle dort von einer deutlich anderen Mikrobengemeinschaft zersetzt worden als außerhalb des Fossils. Außerdem mangelt es dort an Cholesterol-Rückständen – ein Hinweis darauf, dass jener Stoff durch Verdauungsprozesse aus dem Inneren des Darms entfernt wurde, um in den Organismus der Ediacara-Wesen aufgenommen zu werden.
Lebende Luftmatratze
Bobrovskiy und sein Team interpretieren das als Beleg dafür, dass die Organismen einen Darm sowie einen Mund hatten und ihre Nahrung (vor allem Algen und Bakterien) bereits auf ähnliche Weise verdauten wie heutige Tiere. Jedenfalls gelte das für Lebewesen wie Kimberella – eine heute ausgestorbene Gattung, deren Vertreter abgeplatteten Nacktschnecken mit einem schildförmigen Rückenpanzer ähnelten. Laut versteinerten Spuren, die sie hinterlassen haben, krochen sie in flachem Wasser über den Meeresboden und weideten Mikrobenmatten ab. Zu der Annahme, sie hätten Algen aufgenommen und in einem Verdauungstrakt verwertet, passt zudem, dass sich dort, wo er wahrscheinlich saß, so genannte Phytosterole nachweisen lassen, chemische Verbindungen, die in Pflanzen und Algen vorkommen.
Von anderen Ediacara-Wesen, die das Team unter die Lupe nahm, lässt sich das nicht sagen. Die Gruppe um Bobrovskiy analysierte etwa Fossilien von Dickinsonia, einer weiteren ausgestorbenen Gattung dieser Zeit. Deren Vertreter sahen vermutlich wie gesteppte Kissen oder Luftmatratzen aus, die über den Meeresgrund schwebten und sich von Mikroorganismen ernährten. Ihre Fossilien enthalten keine Lipidrückstände, die auf Verdauungstätigkeit in einem Darm schließen lassen, wie das Team schreibt. Wahrscheinlich habe Dickinsonia die Nahrung extern – also außerhalb des Körpers – zersetzt und die Nährstoffe anschließend über die Oberfläche aufgenommen.
»Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Tiere der Ediacara-Fauna eine bunte Mischung darstellten aus ausgesprochenen Kuriositäten wie Dickinsonia und fortgeschritteneren Tieren wie Kimberella, die bereits einige physiologische Eigenschaften hatten, die denen heutiger Tiere ähneln«, fasst Bobrovskiy die Ergebnisse zusammen. Sein Kollege Jochen Brocks von der Australien National University, der an der Studie beteiligt war, vermutet, die Ernährung habe eine wichtige Rolle für das Größenwachstum dieser Wesen gespielt. Denn Algen hätten einen hohen Energie- und Nährstoffgehalt. »Die energiereiche Nahrung könnte erklären, warum die Organismen der Ediacara-Fauna so groß wurden. Fast alle Fossilien aus vorherigen Zeiten stammen von einzelligen und mikroskopisch kleinen Lebewesen.«
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