Direkt zum Inhalt

Phylogenetische Forensik: Evolutionäre Beweisaufnahme

Moderne Hochleistungsdiagnostik macht die Spuren von Viren und Mikroorganismen sichtbar. Allmählich wird sie immer häufiger auch in forensischen Untersuchungen für Gerichtsverfahren eingesetzt - wobei die Justiz allerdings mit Bedacht vorgehen sollte.
Keime unter der Lupe

In einem spanischen Küstendorf bei Valencia lebte der Anästhesist Juan Maeso ein ruhiges Leben. Gleichzeitig hütete er sein ganz privates Geheimnis: In zwei Krankenhäusern zweigte er mindestens zehn Jahre lang Morphium von der Medikation für Schmerzpatienten ab, spritzte es sich selbst – und benutzte anschließend dieselbe Injektionsnadel für seine Patienten.

Im Jahr 2007 ist Maeso dann ertappt und schuldig gesprochen worden, mindestens 275 Menschen mit Hepatitis C infiziert zu haben. Vier der Betroffenen waren an Komplikationen gestorben. Der Anästhesist wurde zu 1933 Jahren Gefängnis verurteilt, was allerdings in Spanien im Normalfall einer Haftdauer von gerade einmal 20 Jahren entspricht.

Bis heute beteuert Maeso seine Unschuld: Ein Patient müsse umgekehrt ihn mit dem Hepatitis-C-Virus (HCV) angesteckt haben. Die wissenschaftlichen Belege – 2013 vollständig veröffentlicht – sprechen indes eindeutig eine andere Sprache. Sie wurden von Fernando Gonzáles-Candelas und seinen Kollegen von der Universitat de Valencia erhoben: Die Forscher hatten nahezu 4200 Virus-Sequenzen analysiert und kategorisiert, um herauszufinden, welchen Verlauf die Infektionskette nahm.

Injektionsspritze | Ein spanischer Anästhesist steckte offenbar über 200 Menschen mit dem Hepatitis-C-Virus an, weil er Nadeln, die er für sich selbst verwendet hatte, anschließend auch für Patienten benutzte.

Das Verfahren nennt sich phylogenetische Forensik: Es verknüpft die klassisch evolutionsbiologische Arbeitsweise und modernen Sequenzierungstechniken. Mehr und mehr findet diese Herangehensweise in Straf- und Zivilprozessen oder bei der Abwehr biologischer Terrorgefahren Anwendung. 2014 zeigte eine Studie, wie es Wissenschaftlern durch den Einsatz solcher Technik gelang, den Ursprung einer bestimmten Heroin-Charge aufzuspüren, die mit Milzbranderregern verunreinigt war – seit 2009 waren Süchtige in ganz Europa nach dem Konsum dieses Pulvers gestorben.

Die Anwendung des wissenschaftlichen Verfahrens durch die Justiz ist für manche aber auch Anlass zur Sorge. Darauf weist etwa Anne-Miek Vandamme hin, die als Evolutionsgenetikerin an der belgischen Universität Leuven arbeitet. Sie hat zwischen 2002 und 2014 bei 19 Kriminalfällen ihre Expertise beigesteuert, meist für die Verteidigung. Anders als bei der DNA-Analytik, die mittlerweile weltweit routinemäßig von der Justiz verwendet wird, sind die Erkenntnisse aus der phylogenetischen Forensik nur in seltenen Fälle völlig eindeutig. Mit ihnen, verdeutlicht Vandamme, kann »die Schuld niemals bewiesen werden«.

Zusätzlich gibt es soziale Bedenken. So fürchten Vertreter von Patienteninteressengruppen eine zusätzliche Stigmatisierung etwa von Aidskranken, wenn Infektionsverläufe in zunehmendem Maß bei Straf- und Zivilprozessen aufgedeckt würden. Während die Sequenzierungs- wie Analyseverfahren immer ausgereifter werden, arbeitet ein Expertengremium unter der Leitung von Vandamme daher an Richtlinien für den Praxiseinsatz: Sie sollen sowohl die technischen Aspekte wie auch die Präsentation der aufgedeckten Zusammenhänge in Gerichtsverfahren regeln. Das Ziel sei, hofft Vandamme, »Anwälten, Richtern und Strafverfolgungsbehörden die Vorzüge, aber auch die Grenzen der Methoden zu verdeutlichen.«

Ganz typischer Fall

Die Verfehlungen von Maeso kamen ans Licht, als Mediziner von Versorgungsunternehmen auf eine lokale Häufung von HCV-Fällen bei Arbeitern und Angestellten aufmerksam wurden. Daraufhin durchforsteten sie die Behandlungshistorie der Betroffenen – bis schließlich ein Arzt, Manuel Beltran, bemerkte, dass sämtliche HCV-Infizierten in den Monaten vorher wegen kleinerer Verletzungen am Casa-de-Salud-Krankenhaus in Valencia behandelt worden waren.

Beltran setze sich mit den Gesundheitsbehörden vor Ort in Verbindung und löste so schließlich eine detaillierte Untersuchung aus, in deren Verlauf am Ende 66 000 Patientenakten aus zwei Krankenhäusern unter die Lupe genommen wurden. Schon ganz am Anfang wurde deutlich, dass Maeso eine zentrale Figur im Geschehen gespielt hatte. Für die Strafverfolgung mussten allerdings handfeste Beweise her.

Dies brachte die Phylogenetik-Forensiker ins Spiel. Einige Viren – etwa HCV, HIV und der Grippeerreger – mutieren in enormer Geschwindigkeit. Also hilft es, die Sequenzen der Viren von einzelnen Patienten zu bestimmen und dann die subtilen Unterschiede zu vergleichen – daraus können die Forscher dann einen Virus-Familienstammbaum ableiten. »Wir betreiben hier Virus-Genealogie«, verdeutlicht Oliver Pybus, der Evolution und Infektionskrankheiten an der University of Oxford untersucht.

Infektionsforensik – neue Methode im Gericht | Die phylogenetische Forensik liefert in immer mehr Gerichtsverfahren Indizien.

Das Verfahren erlaubt den Virologen relativ exakt vorherzusagen, wie verschiedene Ansteckungswege womöglich zusammenhängen. Und weil die Technik immer genauer wird, wird sie zunehmend auch nützlicher. So haben die Behörden mit ihrer Hilfe Fälle absichtlicher Ansteckung aufgeklärt. Ein Beispiel: der Fall Richard Schmidt. Dieser war 1998 von einem Gericht im US-Bundesstaat Louisiana wegen bedingt vorsätzlichen Mordversuchs verurteilt worden. Er hatte seiner Exfreundin – unter dem Vorwand einer Vitamin-B12-Injektion – mit HIV und HCV verunreinigtes Blut gespritzt. Die Phylogenie-Forensik kam auch zum Einsatz, um die Quelle der Milzbrandsporen aufzuspüren, die 2001 mit der Post an verschiedene US-Politiker und Medienunternehmen geschickt worden waren. Außerdem fand sie Anwendung zur Aufdeckung von Vergewaltigungsvorwürfen oder des Verdachts auf sexuellen Missbrauch von Kindern; jeweils in Fällen, bei denen teilweise Jahre vorher Krankheitserreger übertragen wurden.

Phylogenetische Indizien unterscheiden sich allerdings stark von den mittlerweile gängigen DNA-Vergleichstests, die vor Gericht schon eher zum Standardrepertoire gehören. Letztere, führt Vandamme aus, könnten oft recht eindeutig belegen oder ausschließen, ob ein Angeklagter an einer Tat beteiligt war. Phylogenetische Analysen lieferten dagegen höchstens zusätzliche Belege – sie bestätigen etwa, dass ein Virus der Person A mit großer Wahrscheinlichkeit aus Person B stammt –, eindeutige Beweiskraft für ein Verbrechen hätten sie hingegen nicht. Im Maeso-Fall etwa gelang es den Strafverfolgungsbehörden mit Hilfe der Virenphylogenie Erkenntnisse zu untermauern, die sie zuvor bei epidemiologischen Nachforschungen gewonnen hatten.

González-Candelas und seine Kollegen haben Veränderungsmuster in einer hoch-variablen Region des HCV-Genoms ausgewertet, um das Virus in unterschiedliche Schubladen oder Äste eines Stammbaums zu sortieren; daran wird dann die Abstammungsgeschichte nachvollziehbar. Die Forscher analysierten im Durchschnitt elf dieser Virussequenzen bei bei 321 Menschen, die sich möglicherweise durch Maeso infiziert hatten. Zusätzlich untersuchten sie 42 Menschen zur Kontrolle – HCV-Patienten aus der Umgebung, die aber mit dem Fall selbst nichts zu tun hatten. Auf Papier ausgedruckt war der so erstellte Stammbaum am Ende elf Meter lang.

Unter Verwendung aller Daten ermittelte das Team nun einen »Wahrscheinlichkeitsindex« der Ansteckung für alle getesteten Personen, der in Prozentwerten ausdrückte, wie wahrscheinlich wohl die jeweilige Person von Maeso selbst oder von einer zuvor durch Maeso infizierten Person angesteckt wurde – oder, alternativ, ob es eine andere Infektionsquelle gegeben hat. Nachdem die Anzahl der Proben recht hoch war und die phylogenetischen Befunde ziemlich klar, fielen auch die Wahrscheinlichkeitswerte recht eindeutig aus. Meist lagen sie bei 105, der höchste gar bei 6,6 mal 1095 – ein unerwartet starker Beleg bei dieser Art der Untersuchung.

Die in Valencia geleistete Untersuchung ist auch deswegen bemerkenswert, weil sie mit der »molekularen Uhr« arbeitete, um den genauen Zeitpunkt der Infektion einzelner Personen einzugrenzen. Zu diesem Zweck hatten die Forscher die genetische Diversität der Viren jedes einzelnen Individuums aufnehmen müssen, um dann – mit Hilfe der Mutationsrate von HCV während des damaligen lokalen Ausbruchs ,- zu ermitteln, wann sich die Person damals genau angesteckt hat. Fast zwei Drittel der so geschätzten Infektionszeitfenster überlappten mit den Zeiträumen, in denen die Patienten die zwei Krankenhäuser Valencias aufgesucht hatten, an denen Maeso tätig war – ein weiteres Indiz dafür, dass er die Quelle gewesen ist.

Solche Indizien vor Gericht zu präsentieren, ist indes nicht einfach. González-Candelas und sein Kollege Andrés Moya mussten erst eine zweitägige Schulungsphase für die Richter und Anwälte vorschalten, in denen die Grundbegriffe und -konzepte der Evolution vermittelt wurden; erst dann begannen drei Wochen der Expertenbefragung vor Gericht.

Eine besondere Herausforderung stellte es dar, den Unterschied zwischen konventioneller Genanalytik und der neuen Methode für die Justiz deutlich zu machen. Vor Gericht muss unbedingt deutlich werden, dass die neue Analyse unvermeidbar chaotisch und ungenau ausfallen wird: HCV mutiert derart schnell, dass die Virusdiversität wahrscheinlich rasch ansteigt – und zwar umso mehr, je länger die Person infiziert ist. Nun kann jede neue Variante weitergegeben werden, sobald die erste Person eine zweite ansteckt. Zudem ist es durchaus möglich, dass nicht alle der Varianten bei der forensischen Analyse auch wirklich entdeckt und aufgenommen werden – eine tatsächlich existierende Verbindung wird dann übersehen, und die Wahrscheinlichkeitsberechnungen im Gesamtbild verlieren an Aussagekraft. »Nie gibt es eine 100-prozentige Übereinstimmung der Stämme, weder zwischen zwei Personen, die sich gegenseitig angesteckt haben, noch sogar beim Vergleichstest von Stämmen aus einer einzelnen Person«, erläutert Vandamme. Und selbst in solchen Fällen, bei denen Viren aus zwei oder mehr Individuen eindeutig eng verwandt sind, können mehrere alternative Stammbäume gezeichnet werden – ganz abhängig davon, wann die einzelnen Proben genommen worden sind und wie viele Stämme bei einer Infektion übertragen wurden, so die Expertin.

Im Maeso-Fall war die Wahrscheinlichkeit, mit der er andere Patienten angesteckt haben muss, ziemlich hoch. Andererseits sprach der Test in 47  Verdachtsfällen für seine Unschuld: Hier hatten sich Personen anderswo angesteckt und verloren den Anspruch auf Wiedergutmachung. »Die Analyse funktioniert in beide Richtungen«, meint González-Candelas.

Dicker Schlussstrich

Viele Forscher sehen sogar die größte Stärke des Verfahrens darin, dass es Beschuldigte auch entlasten kann. Im Mai 2004 waren zum Beispiel fünf Krankenschwestern aus Bulgarien und ein Arzt aus Palästina zum Tode verurteilt worden, weil sie angeblich 426 Kinder im al-Feteh-Krankenhaus in Libyen mit dem HI-Virus angesteckt haben sollen. Die sechs Angeklagten von Bengasi waren verschleppt und seit 1999 angeblich auch gefoltert worden.

Eine phylogenetische Analyse hatte nahegelegt, dass der in Frage kommende HIV-Stamm schon Jahre vor Ankunft der Mediziner vor Ort zirkulierte. Nature hat damals vor dem Gerichtsverfahren 2006 die Daten veröffentlicht, und obwohl dies das Gericht nicht unmittelbar davon abhielt, die Todesstrafe zu verhängen, hatten die Ergebnisse doch über diplomatische Kanäle Eindruck gemacht, erinnert sich Pybus, der damals Teil des Forscherteams gewesen ist. 2007 wurden daraufhin die Strafen in lebenslange Haft umgewandelt und die Angeklagten nach Bulgarien abgeschoben, wo sie sogleich vom Staatspräsidenten begnadigt wurden.

Seit diesen ersten bahnbrechenden Fällen hat sich das Feld enorm weiterentwickelt. 2010 beschrieb dann der Evolutionsbiologe David Hillis von der University of Texas in Austin mit seinen Kollegen Methoden, die auch in der Praxis taugen, beweiskräftige Indizien für eine Virus-weitergabe zwischen Personen zu liefern.

Zu diesem Zweck analysieren die Spurensucher zunächst alle Viruspopulationen infizierter Personen genau. Ein Mensch kann mehrere Virusstämme in sich tragen, gibt bei einer Neuinfektion aber nur einen Teil weiter. Nach der Ansteckung wird sich dieser Teil zunächst vervielfachen und dann selbst wieder schnell evolvieren. Das, so Hillis, kann am Ende dazu führen, dass manche der Virenstämme des ursprünglich Infizierten weniger den Stämmen im eigenen Körper ähneln als einigen der Stämme im Körper des Angesteckten. Diese Zusammenhänge müssen natürlich penibel aufgedröselt werden, bevor man eine verlässliche Theorie darüber aufstellen kann, wer ursprünglich wen infiziert hat.

HI-Virus | Auch an HI-Viren lässt sich mit phylogenetischer Forensik der Ansteckungsweg in Grenzen nachverfolgen. Die Ergebnisse sind aber nie 100-prozentig sicher.

Neue, bessere Sequenzierungstechniken erhöhen unterdessen die Aussagekraft der Phylogenetik: »Je mehr Proben analysiert werden können, desto besser – denn umso weniger lückenhaft sind die Resultate«, erklärt Andrew Rambaut von der University of Edinburgh in Schottland, der mit Pybus im Bengasi-Fall zusammengearbeitet hat.

Durch schnelle, automatisierte Sequenzierungsmethoden sammeln sich eine enorme Menge an Informationen, macht Bruce Budowle deutlich, der 26 Jahre lang für das FBI gearbeitet hat und nun das Institute of Applied Genetics des North Texas Health Science Center in Fort Worth leitet. Nur gibt es einen Haken, wie er zu bedenken gibt: Die Datenmengen müssen auch verarbeitet werden – und zwar so, dass sie forensischen Zwecken dienlich sind. Sobald die Auswertungssoftware oder die verwendeten Algorithmen nicht ordentlich auf das Einsatzziel ausgerichtet sind – also die phylogenetische Aufklärung –, werden sie später vor Gericht angreifbar. Viele im akademischen Umfeld durchaus sinnvolle Anwendungen fallen so durchs Raster – sie sind nicht unter der Vorgabe eines forensischen Einsatzes entwickelt worden. »Oft lassen wir uns vom wissenschaftlichen Hintergrund mitreißen – irgendeine Idee taucht auf, und schon müssen wir sie praktisch einsetzen«, erklärt Budowle.

Der Forscher und seine Kollegen gerieten 2001 – anlässlich der Anthrax-Attacken – in ebendiese Situation. Um eine bakterielle Phylogenie zusammenzubasteln, mussten sie im Praxiseinsatz unüberprüfte Methoden einsetzen, die bis dahin nur in einem mikrobiologischen Unilabor Anwendung gefunden hatten. Entwickelt wurden sie von Paul Keim von der Northern Arizona University in Flagstaff. »So schufen wir uns eine ganz gute Richtschnur – wir konnten ahnen, was womöglich geschehen war, und den Ursprung schließlich auf einen Stamm aus dem Labor, nicht einen aus freier Wildbahn eingrenzen«, erinnert sich Budolwe.

Das erlaubte den Ermittlern schließlich, die Mikroben auf einen Laborstamm namens »Ames« zurückzuführen. Eine Variante dieses Stamms konnte dann mit einem Verdächtigen in Verbindung gebracht werden: Bruce Ivins, einem Mikrobiologen des US-Army Medical Research Institutes of Infectious Diseases in Fort Detrick, US-Bundesstaat Maryland. Der Fall landete nie vor Gericht, daher lässt sich nicht sagen, wie entscheidend die phylogenetischen Vorarbeiten gewesen sind: Als das FBI die Ermittlungen in Ivins Umfeld aufnahm, beging der Mikrobiologe Selbstmord.

Forensische Phylogenetik findet gerade bei Verfahren mit großer Öffentlichkeitswirkung oft Anwendung. Es ist nicht verwunderlich, dass dadurch anderweitige Bedenken geschürt werden: Man fürchtet eine zusätzliche Stigmatisierung von HIV-Infizierten oder die generelle Kriminalisierung von HIV-Transmissionen. In vielen Staaten sind HIV-Infizierte schon wegen Mordes, Totschlags oder Körperverletzung angeklagt und verurteilt worden, nachdem sie unwissentlich einen Sexualpartner angesteckt oder auch nur ihre Infektion verschwiegen hatten; und dies sogar dann, wenn gar keine Ansteckung erfolgt war. Einige Forscher halten es für gut möglich, dass dadurch ein Klima geschaffen wird, das freiwillige HIV-Tests eher erschwert.

Aus diesem Grund haben einige Phylogenetiker jede Beteiligung an der Aufklärung von Kriminalfällen eingestellt – oder sind zumindest sehr wählerisch. Andrew Leigh Brown zum Beispiel, ein HIV-Evolutionsforscher der University of Edinburgh, hatte in den 1990er Jahren noch an Fällen mitgearbeitet, in denen die forensische Phylogenie-Methodik erstmals Einsatz fand. Mittlerweile lehnt er dies ab.

Stattdessen trug er seinen Teil zu einer Dokumentation für Polizeibehörden bei, die im Mai 2013 vom Joint United Nations Program on HIV/AIDS zusammengestellt wurde – sie fordert ein Ende jeder Strafverfolgung wegen HIV-Transmission. Eine Ausnahme sollen nur Fälle machen, denen eindeutig eine bösartige Absicht zu Grunde liegt. Aber selbst in diesen Fällen, so heißt es in der Entschließung, dürfe die phylogenetische Forensik lediglich mit Bedacht Einsatz finden, und dies nur zusammen mit weiteren unabhängigen Beweisen sowie bei einer eindeutigen Schuldlage.

Versprechungen und Fallstricke

Vandamme beklagt eine mangelnde Unterstützung für phylogenetische Forensiker und hofft, dass das von ihr und ihren Mitstreitern gerade ausgearbeitete Regelwerk in Zukunft Fehlinterpretationen vermeiden hilft. Neben den praktischen Maßgaben für die Präsentation vor Gericht möchte Vandamme auch technische Streitfragen im Konsens geklärt sehen – etwa solche über geeignete Kontrollpopulationen oder die Frage, welche Virusgenomregion bevorzugt sequenziert werden sollten. Damit, so die Expertin, »dürften wir vielen Phylogenetikern helfen, die demnächst zunehmend häufig vor Gericht forensische Expertise bereithalten müssen«.

Mit Blick auf die Zukunft lassen Forscher wissen, sie würden wählerisch bezüglich der Prozesse bleiben, für die sie Belege liefern. »Es dürfte nicht immer dem gesamtgesellschaftlichen Interesse dienen, solche [phylogenetischen] Beziehungen aufzudecken – einfach nur, weil wir das jetzt können«, meint Hillis. »Ich persönlich beteilige mich mit meinen Analysen nur dann, wenn damit ein schweres Verbrechen eindeutig aufzuklären ist – etwa eine Vergewaltigung oder ein Mord.«

Der Valencia-Fall hat sich bereits vor mehreren Jahren ereignet; die 2014 erfolgte Veröffentlichung der Daten aus dem Prozess fachte aber das Interesse an forensischer Phylogenetik wieder an – und an den Vorzügen und Fallstricken der Methodik. Sie betreffen nicht nur die Juristerei, sondern auch Fragen der Biowaffenabwehr. Zu diesem Komplex war Gonzáles-Candelas im Oktober 2013 als Redner nach Zagreb geladen, um auf einige Kernfragen und Bedenken einzugehen.

Der Workshop war von der National Academy of Sciences der USA, der britschen Royal Society und anderen Einrichtungen organisiert worden. Bis dato sind keine Ergebnisse des Treffens öffentlich geworden. Budowle meint, es gebe auf dem Forschungsgebiet noch große Unstimmigkeiten über den Zugriff auf die erhobenen Daten: Biosicherheit- und Geheimdienstkreise wollen die Daten aus Sicherheitsgründen unter Verschluss halten.

Wenn es um Leben und Tod geht, sollte man sich über den eingeschlagenen Weg unbedingt sicher sein, findet Budowle. Schließlich kann die Aussage eines Phylogenieforensikers mit darüber entscheiden, ob ein Mensch zu einer Gefängnisstrafe verurteilt oder ob eine ganze Patientengruppe stigmatisiert wird. Wo es um Biowaffen geht, entscheidet ein Testresultat womöglich über Sanktionen gegen ein ganzes Land; womöglich gar über Krieg und Frieden. Es sei dringend geboten, Tests und Werkzeuge zu standardisieren. Eine Herausforderung, findet Budowle allerdings, denn das Feld wachse fast so schnell wie die Mikroorganismen, die es erforscht: »Wir stehen noch am Anfang der Entwicklung. Was wir heute im Labor einsetzen, wird wahrscheinlich in ein paar Jahren schon überholt sein.«

Der Artikel ist im Original unter dem Titel »Disease detectives« in Nature erschienen

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.