Evolution: Ewig keusch klappt nicht immer
Ballast abwerfen und alten Datenmüll löschen ist ja schön und gut - wenn man alten Schrott sicher erkennt und nicht ungewollt das Spielgeld künftiger Generationen über Bord kippt. Ein Dilemma? Nicht für winzige Achtbeiner: Sie können unerwartet lange unentschieden doppelgleisig fahren.
Aus Sicht begeisterter Forscher, die über die faszinierenden Details ihres wissenschaftlichen Steckenpferds reden wollen, ist die Welt manchmal ganz schön ungerecht. Gut, nicht gerade für Eisbären-Baby-Experten – ein Bild vom omnipräsenten Knut, und das Publikum frisst alles aus der Hand. Aber was für eine Chance auf Massen-Interesse hat man, zum Beispiel, als Spezialist für die Stammbäume baumlebender Milben?
Leider verloren, möchte man meinen. Stimmt aber nicht immer, wie Katja Domes und ihre Kollegen von der TU Darmstadt beweisen. Sie sprechen einleuchtend nicht nur über Milben, sondern auch über Sex, Revolutionen und Gesetzesbruch und müssen die Zusammenhänge nicht einmal an den Haaren herbeiziehen. Steigen wir also gleich beim Thema Nummer Eins ein: Es ginge auch ohne, wie seit Jahrmilliarden ungezählte Lebensformen auf unserem Planeten beweisen.
Nicht nur viele Bakterien, Kleinst- und Kleinorganismen vermehren sich ohne das Prinzip Mann/Frau per Knospung oder Teilung. Praktisch, denn damit fallen einige der üblichen Probleme sexuell Engagierter einfach weg: Die komplizierte Ausführung zweier unterschiedlicher Geschlechtsapparate etwa, deren aufwändig aufeinander eingestimmte Anatomie und die notwendigerweise hier fabrikmäßig betriebene Produktion zweier spezialisierter Geschlechtszellen.
Diese müssen, um zu funktionstüchtigen Eizellen und Spermien zu werden, immer erst mühsam und fehlerlos ihren Chromosomensatz halbieren. Nur um ihn dann postwendend mit der Genmasse des Verschmelzungspartners wieder auf volle Stärke aufzufüllen, nachdem der Organismus endlich alle bizarren Balz- und perfiden Paarungspartnerwahl-Rituale glücklich hinter sich gebracht hat und zur Sache gekommen ist. Warum tut man sich so was eigentlich freiwillig an? Warum knospt oder teilt man nicht einfach wie althergebracht, ohne den ganzen Unsinn?
Weil die stete Durchmischung des Genpools und der Kampf der individuellen Mischungen, ihre eigene Kombination unter den wechselhaften Bedingungen möglichst oft weiterzugeben, ein sehr flexibles, wandelbares System ergibt, das auch durch die üblichen kleinen Katastrophen der Erdgeschichte nicht leicht zu überraschen ist. Sex hat eben auch so viele Vorteile, dass sich die andere Frage genauso berechtigt stellen ließe: Wie geht es auf Dauer eigentlich ohne?
Salomonisch hat die Evolution entschieden, dass heute Arten mit und ohne Sex existieren – inklusive der jeweiligen Nach- und Vorteile. Dabei kann die Entscheidung für oder gegen Sex durchaus auch einmal bei nahen Verwandten sehr unterschiedlich beantwortet werden, womit wir endlich beim Thema Nummer Zwei von Domes und Co angelangt sind – Milben.
Und deshalb war das, was Domes und ihre Mitarbeiter nun ans Licht brachten, eigentlich für unmöglich gehalten worden: Unbestechlich hatten genetische Verwandtschaftsbestimmungen anhand von Gensequenzvergleichen bewiesen, dass die baumlebenden Milben der Crotoniidae-Familie Abkömmlinge einer Sippe sind, die sich seit Urzeiten rein parthenogenetisch fortpflanzt. Anders gesagt: Die Crotoniidae haben den Sex neu erfunden, nachdem ihre Urururgroßväter ihn vor langem abgeschafft hatten. Und das ist ein klarer Verstoß sowohl gegen die oben beschriebene Logik der Effizienz als auch gegen eine althergebrachte biologische Hypothese – das Dollo-Gesetz.
Nach dem Konzept des in Frankreich geborenen und 1931 verstorbenen Belgier Louis Dollo kehren die Strukturen einer Spezies niemals auf das einmal verlassene Niveau einer Vorgängerart zurück, aus der heraus sie sich in eine andere Richtung entwickelt hatte. Das Prinzip ist im Grunde eine durchaus oft zutreffende, brauchbare Wahrscheinlichkeitsrechnung, erkannten Forscher mittlerweile: Dass tatsächlich irgendein Bauteil oder -prinzip, das einst einmal nützlich war und dann überflüssig wurde, irgendwann exakt wiederaufersteht, sobald esdoch wieder gebraucht wird, ist eben nicht sehr wahrscheinlich – vor allem dann, wenn die zur Ausbildung der fraglichen Struktur nötigen genetischen Bauanleitungen lange brach liegen oder gar über Bord geworfen wurden.
Dollos Hypothese gilt allerdings mittlerweile höchstens noch als grobe Faustregel, tatsächlich kennt man bereits eine Reihe von Gesetzesbrechern im Tier- und Pflanzenreich. So haben etwa bestimmte Stabheuschrecken aus einer langen flugunfähigen Ahnenreihe wieder Flügel ausgebildet. Auch bestimmte Schnecken haben irgendwann plötzlich wieder begonnen, ihre Gehäuse in Windungen zu legen, nachdem ihre Vorfahren dies zehn Millionen Jahre lang nicht mehr getan hatten.
Dass aber etwas so Grundlegendes wie die Entscheidung, sich nur noch ungeschlechtlich zu vermehren, nicht für immer bindend sein muss, lässt noch weiter gehende Schlüsse zu, finden Domes und Kollegen. Offenbar, so die Forscherin, kann auf sexuelle Fortpflanzung niemals völlig verzichtet werden, wenn die Art gegenüber allen Herausforderungen – etwa bestimmter, plötzlich einsetzender ökologischer Veränderungen – gewappnet sein will. Konsequenterweise hieße das aber, dass komplexe genetische Programme wie die zur Regulation von Sexualität sehr lange Zeiträume schlafend, aber stets reaktivierbar überdauern können müssen.
Wie dies in der Praxis funktioniert, ist den Wissenschaftlern noch nicht ganz klar. Im Licht der neuen Erkenntnis macht aber eine bislang als Ausreißer der Natur angesehene Beobachtung plötzlich Sinn: Einige rein parthenogenetische Milben produzieren hin und wieder ein paar wenige, völlig funktionslose Männchen, die keine befruchtungsfähigen Spermien bilden und auch sonst keinerlei offensichtlichen Nutzen für die Milbenfamilie haben. Vielleicht können genau diese halben Männer ja dazu beitragen, das genetische Wissen um geschlechtliche Vermehrung nicht völlig verschütt gehen zu lassen – in ihnen sind im Ernstfall vielleicht nur wenige Modifikationen nötig, um nach langen freudlosen Jahrhunderten wieder eine sexuelle Revolution in Gang zu setzen. Zumindest das wissenschaftliche Forschungsfeld Crotoniidae scheint sich – das olle Dollo-Verbot hin oder her – genau so offenbar durch die Evolution gerettet zu haben.
Leider verloren, möchte man meinen. Stimmt aber nicht immer, wie Katja Domes und ihre Kollegen von der TU Darmstadt beweisen. Sie sprechen einleuchtend nicht nur über Milben, sondern auch über Sex, Revolutionen und Gesetzesbruch und müssen die Zusammenhänge nicht einmal an den Haaren herbeiziehen. Steigen wir also gleich beim Thema Nummer Eins ein: Es ginge auch ohne, wie seit Jahrmilliarden ungezählte Lebensformen auf unserem Planeten beweisen.
Nicht nur viele Bakterien, Kleinst- und Kleinorganismen vermehren sich ohne das Prinzip Mann/Frau per Knospung oder Teilung. Praktisch, denn damit fallen einige der üblichen Probleme sexuell Engagierter einfach weg: Die komplizierte Ausführung zweier unterschiedlicher Geschlechtsapparate etwa, deren aufwändig aufeinander eingestimmte Anatomie und die notwendigerweise hier fabrikmäßig betriebene Produktion zweier spezialisierter Geschlechtszellen.
Diese müssen, um zu funktionstüchtigen Eizellen und Spermien zu werden, immer erst mühsam und fehlerlos ihren Chromosomensatz halbieren. Nur um ihn dann postwendend mit der Genmasse des Verschmelzungspartners wieder auf volle Stärke aufzufüllen, nachdem der Organismus endlich alle bizarren Balz- und perfiden Paarungspartnerwahl-Rituale glücklich hinter sich gebracht hat und zur Sache gekommen ist. Warum tut man sich so was eigentlich freiwillig an? Warum knospt oder teilt man nicht einfach wie althergebracht, ohne den ganzen Unsinn?
Weil die stete Durchmischung des Genpools und der Kampf der individuellen Mischungen, ihre eigene Kombination unter den wechselhaften Bedingungen möglichst oft weiterzugeben, ein sehr flexibles, wandelbares System ergibt, das auch durch die üblichen kleinen Katastrophen der Erdgeschichte nicht leicht zu überraschen ist. Sex hat eben auch so viele Vorteile, dass sich die andere Frage genauso berechtigt stellen ließe: Wie geht es auf Dauer eigentlich ohne?
Salomonisch hat die Evolution entschieden, dass heute Arten mit und ohne Sex existieren – inklusive der jeweiligen Nach- und Vorteile. Dabei kann die Entscheidung für oder gegen Sex durchaus auch einmal bei nahen Verwandten sehr unterschiedlich beantwortet werden, womit wir endlich beim Thema Nummer Zwei von Domes und Co angelangt sind – Milben.
Acari, so ihr wissenschaftlicher Sammelbegriff, gibt es als entschiedene parthenogenetische Sexabstinenzler genauso wie als regelmäßige sexuelle Reproduzierer – wobei die Tiergruppe hier allerdings ein sehr striktes Entweder-oder aufrechterhält und nicht, wie etwa manche Rädertierchen, nach ein paar Generationen Parthenogenese auch mal wieder wenige Männchen bildet, die dann kurz den Genpool aufmischen. Milben wie solche der großen Gruppe der Camisiidae-Familie sind und bleiben vielmehr stets parthenogenetisch: Der Verzicht auf Sex und seine möglichen Vorteile lohnt sich ja nur dann, wenn man den Energieaufwand zur Produktion funktionsfähiger Männchen auch wirklich meidet. In der Folge sollte das überflüssig gewordene, brachliegende genetische Knowhow von Männchenbau und Sexualpraktik bei Kindern, Kindeskindern und evolutiven Nachkommen irgendwann ganz unter den Tisch fallen.
Und deshalb war das, was Domes und ihre Mitarbeiter nun ans Licht brachten, eigentlich für unmöglich gehalten worden: Unbestechlich hatten genetische Verwandtschaftsbestimmungen anhand von Gensequenzvergleichen bewiesen, dass die baumlebenden Milben der Crotoniidae-Familie Abkömmlinge einer Sippe sind, die sich seit Urzeiten rein parthenogenetisch fortpflanzt. Anders gesagt: Die Crotoniidae haben den Sex neu erfunden, nachdem ihre Urururgroßväter ihn vor langem abgeschafft hatten. Und das ist ein klarer Verstoß sowohl gegen die oben beschriebene Logik der Effizienz als auch gegen eine althergebrachte biologische Hypothese – das Dollo-Gesetz.
Nach dem Konzept des in Frankreich geborenen und 1931 verstorbenen Belgier Louis Dollo kehren die Strukturen einer Spezies niemals auf das einmal verlassene Niveau einer Vorgängerart zurück, aus der heraus sie sich in eine andere Richtung entwickelt hatte. Das Prinzip ist im Grunde eine durchaus oft zutreffende, brauchbare Wahrscheinlichkeitsrechnung, erkannten Forscher mittlerweile: Dass tatsächlich irgendein Bauteil oder -prinzip, das einst einmal nützlich war und dann überflüssig wurde, irgendwann exakt wiederaufersteht, sobald esdoch wieder gebraucht wird, ist eben nicht sehr wahrscheinlich – vor allem dann, wenn die zur Ausbildung der fraglichen Struktur nötigen genetischen Bauanleitungen lange brach liegen oder gar über Bord geworfen wurden.
Dollos Hypothese gilt allerdings mittlerweile höchstens noch als grobe Faustregel, tatsächlich kennt man bereits eine Reihe von Gesetzesbrechern im Tier- und Pflanzenreich. So haben etwa bestimmte Stabheuschrecken aus einer langen flugunfähigen Ahnenreihe wieder Flügel ausgebildet. Auch bestimmte Schnecken haben irgendwann plötzlich wieder begonnen, ihre Gehäuse in Windungen zu legen, nachdem ihre Vorfahren dies zehn Millionen Jahre lang nicht mehr getan hatten.
Dass aber etwas so Grundlegendes wie die Entscheidung, sich nur noch ungeschlechtlich zu vermehren, nicht für immer bindend sein muss, lässt noch weiter gehende Schlüsse zu, finden Domes und Kollegen. Offenbar, so die Forscherin, kann auf sexuelle Fortpflanzung niemals völlig verzichtet werden, wenn die Art gegenüber allen Herausforderungen – etwa bestimmter, plötzlich einsetzender ökologischer Veränderungen – gewappnet sein will. Konsequenterweise hieße das aber, dass komplexe genetische Programme wie die zur Regulation von Sexualität sehr lange Zeiträume schlafend, aber stets reaktivierbar überdauern können müssen.
Wie dies in der Praxis funktioniert, ist den Wissenschaftlern noch nicht ganz klar. Im Licht der neuen Erkenntnis macht aber eine bislang als Ausreißer der Natur angesehene Beobachtung plötzlich Sinn: Einige rein parthenogenetische Milben produzieren hin und wieder ein paar wenige, völlig funktionslose Männchen, die keine befruchtungsfähigen Spermien bilden und auch sonst keinerlei offensichtlichen Nutzen für die Milbenfamilie haben. Vielleicht können genau diese halben Männer ja dazu beitragen, das genetische Wissen um geschlechtliche Vermehrung nicht völlig verschütt gehen zu lassen – in ihnen sind im Ernstfall vielleicht nur wenige Modifikationen nötig, um nach langen freudlosen Jahrhunderten wieder eine sexuelle Revolution in Gang zu setzen. Zumindest das wissenschaftliche Forschungsfeld Crotoniidae scheint sich – das olle Dollo-Verbot hin oder her – genau so offenbar durch die Evolution gerettet zu haben.
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