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Gewaltexzesse im Krieg: Wie Menschen zu Unmenschen werden

Die grausamen Massaker in Israel und in der Ukraine zeigen, wozu Menschen im Krieg fähig sind. Was treibt sie an? Über Jagdlust, Statusstreben und entmenschlichende Propaganda.
Palästinensische Kämpfer fahren mit der Leiche der Deutsch-Israelin Shani Louk in den Gazastreifen.
Die islamistische Hamas hat am 7. Oktober 2023 ein Musikfestival in der israelischen Negev-Wüste überfallen und dort hunderte Menschen ermordet, darunter die Deutsch-Israelin Shani Louk, deren Leiche hier in den Gazastreifen gefahren wird.

»Gesammeltes Rohmaterial«. So lautet der übersetzte Untertitel des 45-minütigen Films, den die israelische Armee für ausgewählte Journalisten und Diplomaten anfertigte. Und er zeigt genau das: die gesammelte Rohheit der Gräueltaten des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023. Wobei »roh« eine Untertreibung ist für das Vergewaltigen, Verstümmeln, Verbrennen, das kaltblütige und kalkulierende Morden, das die Terroristen zum Teil selbst dokumentiert haben. Wie können Menschen solche grauenhaften Taten begehen?

Der 7. Oktober werde »als der schwärzeste Tag seit dem Nazi-Holocaust in die jüdische Geschichte eingehen«, sagte der Rabbiner Pinchas Goldschmidt. Es ist eine tragische Kontinuität, denn die Shoah war der Auslöser für die psychologische Erforschung ebenjener Frage nach dem Ursprung des Bösen.

Daraus entstanden zwei der bekanntesten Experimente der Psychologie: die 1963 von Stanley Milgram veröffentlichte Gehorsamsstudie und das 1971 durchgeführte Stanford-Prison-Experiment, geleitet von Philip Zimbardo. In beiden Versuchen entwickelten sich gewöhnliche Menschen zu Folterknechten – weil sie blind den Anweisungen der Versuchsleiter folgten. Zumindest ist das die Interpretation, die lange verbreitet und zur Erklärung der Naziverbrechen herangezogen wurde. Doch neue Analysen der archivierten Versuchsdokumentationen zeichnen ein Bild von methodischen Mängeln und falschen Auswertungen. »Die Studien sind eigentlich zerlegt worden«, sagt der Psychologe Thomas Elbert, emeritierter Professor von der Universität Konstanz. Heute weiß man: Einerseits sind wir nicht so leicht beeinflussbar, wie es die frühe Forschung vermuten lässt. Andererseits braucht es nicht immer Druck von oben, damit »normale« Menschen grausame Taten begehen.

In einer Sache ist sich Elbert jedoch einig mit den Pionieren der Psychologie des Bösen: »Früher hat man angenommen, nur Personen mit einer Persönlichkeitsstörung seien in der Lage, Grausamkeiten zu begehen. Das entspricht aber nicht unseren Befunden.«

»Gewaltausübung kann intrinsisch als lustvoll erlebt werden«Psychologe Thomas Elbert, emeritierter Professor von der Universität Konstanz

Für seine Studien befasste er sich mit Gewalttätern in Krisenregionen auf der ganzen Welt. Unter ihnen auch 213 Männer, die im Kivu-Krieg im Kongo gekämpft hatten. 2013 berichtete seine Konstanzer Forschungsgruppe: Fast die Hälfte der Befragten gab an, es zu genießen, anderen Gewalt anzutun oder dabei zuzusehen, wie Gewalt verübt wurde; ein Drittel berichtete von einem regelrechten Drang zu kämpfen, und etwa einer von zehn ehemaligen Kämpfern beschrieb das Gefecht als sexuell erregend.

Diese Art von Blutrausch ist nicht auf Konflikte in Zentralafrika beschränkt: Die Psychologen haben inzwischen Kämpfer auf vier Kontinenten befragt, von Kolumbien bis Afghanistan. Das Fazit: »Gewaltausübung kann intrinsisch als lustvoll erlebt werden.« Elbert ist davon überzeugt, dass es sich dabei um eine ganz eigene Form der Aggression handelt: Es geht nicht darum, sich zu wehren – man schlägt, schießt und mordet, weil es sich gut anfühlt. Er nennt das »appetitive Aggression«.

Der Neuropsychologe ist der Ansicht, dass sie ein Teil der menschlichen Natur ist: »Der Mensch ist im Lauf der Evolution zum Jäger geworden, und es ist vorteilhaft, wenn die Jagd Spaß macht«, sagt er. »Ich glaube, das ist bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen, weil das Testosteron verstärkend auf das Belohnungssystem im Gehirn wirkt.« Auch in Friedenszeiten käme die Lust auf Gewalt ständig zum Vorschein, sei es im Boxring, im Fußballstadion oder beim Spielen von Ego-Shootern am Computer.

Doch der Verweis auf die Evolution reicht nicht aus, um zu erklären, warum Menschen Grausamkeiten begehen. Denn unsere Entwicklungsgeschichte machte uns ebenso zu mitfühlenden und kooperativen Wesen – von Natur aus sind wir weder gut noch böse. Und schließlich werden im Krieg längst nicht alle zu Kriegsverbrechern. In der Verhaltensforschung bezeichnet man evolutionsbiologische Grundlagen als »ultimate« Ursachen. »Proximate« Ursachen sind im Gegensatz dazu die unmittelbaren Auslöser.

Zyklen der Gewalt

Will man die Gräueltaten der Menschen verstehen, muss man deshalb kulturelle Prägungen analysieren, die psychologische Konstruktion des anderen betrachten und den sozialen Kontext militärischer Organisation ausleuchten. Das schreibt James Waller in seinem Buch »Becoming Evil«. Er ist Sozialpsychologe und Professor für Holocaust- und Genozidforschung am Keen State College in den Vereinigten Staaten.

»In den meisten Fällen von Genoziden und Massenmord war die Kultur durch eine starke Autoritätsorientierung gekennzeichnet«, so Waller. »Außergewöhnlich intensive Gewalt tritt wesentlich häufiger in Kulturen auf, in denen Kinder routinemäßig körperlich oder seelisch misshandelt werden oder ihnen Zuneigung verweigert wird.« Ersteres legt auch eine Studie von 2017 nahe: Ein Forschungsteam um Jonas Kunst von der Universität Oslo wertete Daten zur sozialen Dominanzorientierung aus, von mehr als 40 000 Personen aus 27 Ländern. Das Ergebnis: In Staaten mit ausgeprägten Hierarchien herrschte ein höheres Risiko für gewaltsame Konflikte.

»Außergewöhnlich intensive Gewalt tritt wesentlich häufiger in Kulturen auf, in denen Kinder routinemäßig körperlich oder seelisch misshandelt werden oder ihnen Zuneigung verweigert wird«James Waller, Sozialpsychologe und Professor für Holocaust- und Genozidforschung

Solche Analysen erlauben keine Rückschlüsse auf Ursache und Wirkung, aber es wird angenommen, dass der Effekt in beide Richtungen geht: Eine Kultur mit starken sozialen Hierarchien neigt eher dazu, Gewalt gegenüber anderen Gruppen zu unterstützen oder auszuüben; und Menschen, die Gewalt erfahren haben, orientieren sich später stärker an Autoritäten.

So entsteht ein Teufelskreis, den Thomas Elbert von der Universität Konstanz als »Zyklen der Gewalt« bezeichnet. »Wenn man im zivilen Bereich untersucht, wer gewalttätig und kriminell wird, dann sind es praktisch ausschließlich Leute, die selbst Gewalt erfahren haben, während ihrer Kindheit und Jugend«, sagt er. »Nicht jeder, der Gewalt erfährt, wird hinterher zum Täter, aber in etwa jeder Dritte.« Das zeigt ein Abgleich von Krankenhauseinweisungen in der Kindheit mit dem Strafregister in Dänemark aus dem Jahr 2017. Ein Team um Roger Webb von der University of Manchester wertete dazu Daten von mehr als einer Million Menschen aus. Es ist nicht nur diese eine Studie, die einen solchen Zusammenhang belegt. »Die Evidenz, dass Gewalt Gewalt hervorruft, ist überwältigend«, berichtet Elbert. Dieser Umstand werde nicht ausreichend berücksichtigt, wenn es um Prävention und Rehabilitation geht. Das ärgert ihn.

Auch wenn in westlichen Medien oft der Eindruck geschürt wird, Russlands Überfall auf die Ukraine und der Konflikt in Nahost wären ein Weckruf aus Zeiten des Friedens: Allein zwischen 1946 und 2011 kam es zu 184 Kriegen, wie sich dem Projekt »Our World in Data« entnehmen lässt. Eine Wikipedia-Liste der Völkermorde zählt 19 Einträge seit 1946.

Leider mangelt es also nicht an Möglichkeiten, das zu erforschen, was die 2018 verstorbene Politikwissenschaftlerin Lee Ann Fujii als »extra-lethal violence« bezeichnete: Gewalttaten, die in ihrer extremen Grausamkeit darauf abzielen, maximales körperliches und psychisches Leid zu verursachen. Taten wie die Massaker von Re’im in Israel oder von Butcha in der Ukraine.

Die Gruppe als sozialer Verstärker

Fujii stimmt mit James Waller überein, wenn er sagt, dass gruppenpsychologische Phänomene zur Entstehung solcher Gräueltaten beitragen: Individuen identifizieren sich mit einer Eigengruppe und fühlen sich ihr stärker zugehörig, indem sie sich von Fremdgruppen abgrenzen; das Streben nach Einmütigkeit verändert Denken und Handeln von Einzelpersonen. Waller bezeichnet diese Macht der Gruppe als einen »sozialen Verstärker«, der die bereits vorhandenen Vorstellungen der einzelnen Mitglieder verschärft – wie Vorurteile gegenüber den anderen.

In Konflikten und insbesondere von militärischen Organisationen werden solche kognitiven Verzerrungen gezielt genutzt, um Menschen dazu zu bringen, zu töten. Der kanadische Psychologe Albert Bandura hat den Begriff »moral disengagement« (moralische Enthemmung) geprägt. Damit sind Prozesse gemeint, die darauf ausgelegt sind, ethische Normen in einem bestimmten Kontext zu umgehen. Eine verbreitete Strategie ist die Dehumanisierung. In den Jahren vor dem Völkermord in Ruanda wurden die Tutsi von der Hutu-Propagandamaschine zu »inyenzi« (Kakerlaken) degradiert. Das Magazin »Kangura« etwa schrieb 1993: »Eine Kakerlake bringt eine Kakerlake zur Welt … die Geschichte von Ruanda zeigt deutlich, dass ein Tutsi immer genau der Gleiche geblieben ist, dass er sich nie verändert hat.« Ein Jahr später veröffentlichte die Zeitung Listen mit Namen der zu tötenden Tutsi.

»Man kann die Jagdlust auch auf menschliche Wesen übertragen, vorausgesetzt, man entmenschlicht sie zu einem gewissen Teil«Gewaltforscher Thomas Elbert

Für Thomas Elbert ist die Dehumanisierung entscheidend, um die appetitive Aggression auszulösen: »Man kann die Jagdlust auch auf menschliche Wesen übertragen, vorausgesetzt, man entmenschlicht sie zu einem gewissen Teil.« Es ist allerdings umstritten, ob die Dehumanisierung wirklich das tut, was ihr Name vorgibt. Menschen als Tiere zu bezeichnen, führt nicht zwangsläufig dazu, dass sie auch als Unmenschen betrachtet werden, argumentiert Harriet Over von der University of York. In einem Artikel von 2021 stellt sie die These auf, dass Bezeichnungen wie Ratte, Laus oder Küchenschabe zwar abwerten – nicht aber entmenschlichen.

Moralischer Deckmantel

Dennoch: Die moralische Entkopplung funktioniert. Neben der Dehumanisierung geschieht das laut Waller vor allem über das Rechtfertigen und Beschönigen böser Taten. Ein Lehrbuchbeispiel der jüngeren Vergangenheit: Putins »Spezialoperation«, um die Ukraine zu »entnazifizieren«. Waller schreibt dazu: »Die meisten großen Verbrechen in der menschlichen Geschichte kommen in einem moralistischen Kleid daher.«

Hinzu kommt: In einem Kollektiv herrscht immer ein Wettbewerb um Status. Eine außergewöhnliche Grausamkeit gegenüber einem Fremden kann das Ansehen in der eigenen Gruppe erhöhen, argumentiert die Politikwissenschaftlerin Fujii in einer Studie von 2013. Wie auf der Bühne würden Täter ihre Gewalt zur Schau stellen, damit andere »jubeln und glotzen« können – oder sich herausgefordert fühlen mitzumachen. Das kommt vor allem bei Massenvergewaltigungen zum Tragen, meint Thomas Elbert: »Da geht es darum zu zeigen: Wer ist hier der tollste Kerl? Wer kann es noch grausamer machen?«

Es gibt weitere Strategien, die moralische Hemmschwelle zu senken. Bei Befragungen in ostafrikanischen Kriegsgebieten hat Elbert mit seinen Forschungskollegen erfahren, »dass Drogenkonsum eher die Regel als die Ausnahme ist«. Dort wurde vor allem Cannabis konsumiert, aber Armeen setzten auch auf Stimulanzien wie Amphetamine. Laut einem Bericht der »Jerusalem Post« vom Oktober 2023 befanden sich in den Taschen getöteter Hamas-Terroristen Captagon-Tabletten, ein Amphetamin-Derivat, das als Dschihadisten-Droge bekannt ist. »Jede Kampftruppe hat da ihre eigene Mischung«, sagt Elbert. Ist die Hürde einmal überschritten, anderen Gewalt anzutun, beginnt häufig eine Eskalation: »Wenn wir Leute interviewen, die andere getötet haben, sagen sie oft: ›Beim ersten Mal ist mir schlecht geworden, beim zweiten Mal habe ich gedacht, Befehl ist Befehl – und beim dritten Mal war es ein Vergnügen.‹«

Die Politikwissenschaftlerin Amelia Hoover Green, damals an der Drexel University in Pennsylvania, schreibt in einem Artikel 2016 vom »Dilemma des Kommandanten«: Befehlshaber müssen sowohl große Gruppen von Kämpfern formieren, die ohne Zögern Gewalt anwenden, aber gleichzeitig eine gewisse Kontrolle über die ausgeübte Gewalt behalten. Damit haben auch vermeintlich gut ausgebildete Armeen zu kämpfen, wie Richard Heyman von der New York University und Peter Neidig von der Stony Brook University in New York schon 1999 offenlegten. Schwere Fälle von Partnerschaftsgewalt wurden demnach fast viermal häufiger von Soldaten ausgeübt als von Männern aus der Zivilbevölkerung.

Doch die militärische Autorität kann ebenso vor Gräueltaten schützen. Das legt etwa eine Arbeit von Devorah Manekin von der Hebrew University of Jerusalem aus dem Jahr 2013 nahe. Darin kommt sie zu dem Schluss, dass israelische Soldaten eher zu Gewalt gegen Zivilisten neigten, wenn sie länger gedient hatten – allerdings nur in Einheiten, die weniger hierarchisch organisiert waren. Das beobachtete Thomas Elbert in seinen Feldstudien: »Wenn sich im Krieg die Möglichkeit bietet für Vergewaltigung, Folter und Gewalt, werden Menschen das auch tun«, sagt er. »Dazu braucht es keine Strategie oder Taktik. Im Gegenteil: Es braucht eigentlich immer eine Einschränkung durch das Kriegsrecht oder den Kommandanten.« Und ergänzt: »Das ist eben ein Teil der menschlichen Natur, ob man das gerne sieht oder nicht.«

Die Zyklen der Gewalt durchbrechen

Es ist aber nur ein Teil unseres Wesens. Wie die Forschung zeigt, können kulturelle Prägungen und Gruppendynamiken enthemmen und einen Blutrausch auslösen. Doch sie können auch dabei helfen, genau das zu vermeiden.

Elbert weiß, wie sich die Zyklen der Gewalt durchbrechen lassen: »Körperliche Gewalt ist sozial abhängig. Wenn Kinder gewaltfrei in einem Umfeld mit klaren Regeln und guten Vorbildern aufwachsen, verhindert das spätere Gewaltneigung«, sagt er. »Außerdem sollte man die Eltern darüber aufklären, dass ihr Kind allenfalls kriminell und dumm wird, wenn sie es schlagen.«

Und auch Gruppenzwang ist nur dem Namen nach unumgänglich. Im Durchbrechen des Konformitätsdrucks liegt ein machtvolles Werkzeug, Gräueltaten zu vermeiden – davon ist Ervin Staub überzeugt. Der Psychologe hat selbst den Holocaust überlebt und wanderte nach dem Krieg in die USA aus. Als junger Assistenzprofessor in Harvard war er der Büronachbar von Stanley Milgram. Im Unterschied zu seinem berühmten Kollegen konzentrierte Staub sich in seiner Forschung auf stille Mitwisser und untätige Zeugen von Gräueltaten.

Denn die sind häufig in der Überzahl: Bei Leichenschändungen durch US-Soldaten im Vietnamkrieg oder Kannibalismus im Ostkongo gab es mindestens dreimal mehr Zeugen als Täter. Was, wenn die Zuschauer eingreifen würden? Das versucht Staub zu erreichen, indem er Trainingsprogramme entwickelt. Sie sollen etwa Polizisten lehren einzuschreiten, wenn sich ihre Kollegen falsch verhalten. Es gibt durchaus Menschen, die den Mut dazu aufbringen, wie Staub aus eigener Erfahrung weiß: Solche Menschen waren es, die ihn einst in Ungarn vor den Nazis versteckten und vor der Deportation bewahrten.

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