Entwicklungspsychologie: Faires Wissen, unfaires Handeln
Schon drei- bis vierjährige Kinder kennen und verstehen die Norm der Gerechtigkeit und befürworten faires Teilen nicht nur bei anderen Personen, sondern auch bei sich selbst. Können sie jedoch über die Zuweisung wertgeschätzter Güter entscheiden, bevorteilen sie sich.
Wissenschaftler um Paul L. Harris von der Harvard University haben versucht, den Widerspruch zwischen Urteil und Verhalten zu erklären. Sie befragten Kinder im Alter von drei bis acht Jahren und ließen sie entscheiden, wie viele von vier zuvor ausgehändigten Aufklebern sie einem Gleichaltrigen abgeben wollten. Schon Dreijährige sagten spontan, dass sowohl sie selbst als auch andere Kinder die Sticker gerecht in zwei und zwei teilen sollten. Durften die Kleinen die Aufkleber dann tatsächlich zuordnen, rückten die jüngeren Kinder höchstens ein Exemplar heraus. Sieben- und Achtjährige teilten dagegen überwiegend fair. Zur Begründung ihrer Wahl stützten jüngere Studienteilnehmer sich vor allem auf die Befriedigung ihrer eigenen Wünsche, während ältere auf ihr Gerechtigkeitsempfinden verwiesen.
In einem zweiten Experiment stellten die kleinen Probanden sich nur vor, dass sie die Aufkleber mit jemandem teilten, und sollten vorhersagen, wie viele Sticker sie in dieser Situation abtreten würden. Alle Altersgruppen sahen ihr Verhalten richtig voraus, das heißt, auch die Dreijährigen gaben zutreffend an, dass sie über die Hälfte der Sticker für sich behalten würden.
Die Wissenschaftler widerlegten damit verschiedene Erklärungsansätze, die vorher diskutiert wurden. So dachte man lange, dass kleine Kinder soziale Regeln nicht für sich selbst, sondern nur für andere gelten lassen wollen. Die Befragung ergab allerdings, dass die Dreijährigen sehr wohl wissen, dass auch sie selbst gerecht teilen sollten. Zudem gingen Forscher bisher davon aus, dass Vorschüler Impulse nicht so gut kontrollieren können. Die Kleinen verstehen zwar, dass sie fair handeln sollten, können aber ihre eigenen Wünsche schwer unterdrücken. Da die jungen Studienteilnehmer schon im Voraus angaben, dass sie ungerecht teilen würden, kann ihr Verhalten jedoch auch nicht durch fehlende Impulskontrolle erklärt werden. Die Kinder könnten zudem glauben, dass ihre Altersgenossen egoistisch agieren, und sich deshalb selbst bevorzugen. Hierzu fragten die Forscher die Probanden, wie viele Aufkleber ihnen ein anderes Kind im gleichen Versuch wohl zuweisen würde. Erstaunlicherweise waren Drei- und Vierjährige überaus optimistisch und meinten, andere Versuchsteilnehmer würden ihnen über die Hälfte der Sticker abgeben.
Die Autoren vermuten daher, dass schon Dreijährige verstehen und akzeptieren, dass faires Teilen angemessen ist, dies widerspricht aber manchmal ihren Bedürfnissen, nach denen sie mehr wollen. Die entscheidende Veränderung in der Entwicklung ist nach Ansicht der Forscher folglich nicht eine verbesserte Impulskontrolle, sondern dass Heranwachsende sozialen Normen in solchen Konflikten zunehmend mehr Gewicht beimessen.
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