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Verhaltensforschung: Fallstudien

Eine erstaunliche Vielfalt von Tieren hat gelernt, einen kurzen Flug nicht zu scheuen, obwohl Flügel nicht zur Grundausstattung ihres Bauplans zählen: auf Bäumen lebende Eichhörnchen, Eidechsen, Frösche, sogar Schlangen. Nun reihen sich offenbar auch tropische Ameisen in die Galerie der "Segelflieger" ein.
<i>Cephalotes atratus</i>
Das Kronendach des Tropischen Regenwaldes haben viele Sechsbeiner erobert, darunter nicht zuletzt jede Menge Ameisen. Um auf Bäumen existieren zu können, haben diese Insekten zahlreiche Anpassungen entwickelt. Beispielsweise erlauben ihnen modifizierte klebrige Fußglieder, sich an Oberflächen festzuklammern. Doch trotz der Spezialausrüstung finden sich zahlreiche Individuen der Art Cephalotes atratus im freien Fall wieder, wenn sie in den Außenbereichen der Zweige auf Jagd gehen – sei es, dass sie vom Winde verweht oder von Vögeln oder Säugetieren vertrieben werden.

Cephalotes atratus | Tropische Ameisen der Art Cephalotes atratus haben eine ungewöhnliche Strategie entwickelt, um beim Absturz von Zweigen ihres Heimatbaumes nicht auf dem Waldboden zu landen: Im freien Fall vermögen sie erfolgreich zum Stamm zu steuern und innerhalb von zehn Minuten zu ihrem Nest zurückzukehren.
Ja, bisweilen scheinen sich die Insekten gar freiwillig von den Baumstämmen zu stürzen, um Räuber zu vermeiden. Ein augenscheinlich paradoxes Verhalten, zumal die Arbeiterinnen keine Flügel besitzen. Folglich ist die Wahrscheinlichkeit äußerst gering, dass die Tiere nach der Landung auf dem Waldboden in dreißig Metern Tiefe ihre Kolonie hoch oben in der Baumkrone wieder finden. Denn vermutlich werden sie im Unterholz auf keine chemische Spur stoßen, die ihnen den Weg zurück zum Nest weist. Und zudem laufen sie Gefahr, als Fischfutter zu enden, da die Wälder ihrer Heimat das halbe Jahr überschwemmt sind.

Doch nur selten prallen die Ameisen auf dem Boden auf. Vielmehr verfügen sie offenbar über akrobatische Fähigkeiten, haben Stephen Yanoviak von der Universität von Texas und seine Kollegen entdeckt. Die Insekten vermögen ihren Abstieg in der Luft derart zu kontrollieren, dass sie in einem einheitlichen J-förmigen Bogen rückwärts zu ihrem Heimatbaum gleiten und schnell wieder zu ihrem Nest zurückkehren können.

Als die Wissenschaftler die Hinterbeine einiger Individuen mit weißem Nagellack bepinselten, enthüllen sie weitere Details der Ameisen-Flugkünste: Beim Fallen richten die Arbeiterinnen ihren Hinterleib zum Baumstamm aus. Das nachfolgende Gleiten zum Stamm erfolgt mit dem Abdomen voraus, die Rückenseite ist während des gesamten Transits nach oben gerichtet. Die Tiere können sogar 180-Grad-Drehungen mitten in der Luft ausführen. Sollte ihre erste Landung fehlschlagen, beschreiben sie eine Haarnadelkurve und setzen zu einem weiteren Versuch an.

Um die Erfolgsquote der Ameisen zu überprüfen, schubsten die Forscher bei Windstille 120 markierte C.-atratus-Individuen von unteren Zweigen (in immerhin 27 Metern Höhe) ihres Heimatbaumes nahe Iquitos in Peru. Das Ergebnis der Fallstudie: Die große Mehrheit (85 Prozent) der abstürzenden Arbeiterinnen landete sicher auf dem Stamm. Diese Rate übersteigt bei weitem jene acht Prozent, die für ein wahllos Richtung Boden abspringendes Insekt zu erwarten wären. Und die Flugstrecke variierte je nach Körpergröße: Kleinere Exemplare trafen bereits nach einer kürzeren Falldistanz wieder am Baum auf als ihre größeren Artgenossen.

Kamen die Tiere mit dem Stamm in Kontakt, so hafteten sie dort gewöhnlich an. Wie sie landen, bleibt vorerst ihr Geheimnis. Aber offenbar dienen ihnen Krallen an den Hinterbeinen als Enterhaken, um sich am Zielort zu verankern. Mitunter purzelten die Ameisen auch noch einige Meter nach unten, bevor sie Halt fanden und anfingen, den Baum zu erklimmen. Die gekennzeichneten Individuen kehrten typischerweise innerhalb von zehn Minuten nach dem Fall zu demselben Ast zurück – oftmals spazierten sie nahe ihrer ursprünglichen Absturzstelle vorbei.

Manipulierte Cephalotes-atratus-Ameisen | Um zu überprüfen, ob das gerichtete Flugverhalten der Cephalotes atratus-Ameisen von ihrer Fähigkeit abhängt, den Baumstamm während des Falls visuell zu lokalisieren, manipulierten die Forscher einige Individuen: Während sie bei den Kontrolltieren (a) nur weiße Farbe oben auf dem Kopf auftrugen, bepinselten sie bei den "blinden" Probanden (b) auch die Augen. Der abgebildete Maßstab entspricht einem Millimeter.
Einige Ameisen verlassen sich auf visuelle Reize, um ihr Nest nach der Jagd wieder zu finden. Aus diesem Grund prüften die Wissenschaftler, ob das gerichtete Flugverhalten der Insekten von ihrer Fähigkeit abhängt, den Baumstamm während des Falls zu lokalisieren. Und tatsächlich: Blinde Exemplare, deren Augen mit weißer Farbe bedeckt waren, landeten mit zehn Prozent wesentlich seltener auf dem Heimatbaum als ihre sehenden Artgenossinnen (84,5 Prozent).

Zudem fand das Forscherteam anhand von Filmaufnahmen heraus: Im Gegensatz zu fliegenden Eichhörnchen, die horizontal über weite Entfernungen gleiten können, fallen die Ameisen mit einer relativ hohen Geschwindigkeit von durchschnittlich 4,3 Metern pro Sekunde und erreichen den Baum in einem Winkel von ungefähr 75 Grad. Folglich prallen sie oftmals am Stamm ab, doch vollziehen sie dann einfach eine 180-Grad-Drehung und versuchen es erneut – gewöhnlich mit Erfolg.

Wie die Tiere so schnell ihre Richtung ändern können, ist noch rätselhaft. Sie besitzen lange, leicht abgeflachte Hinterbeine, die ihnen in Kombination mit Bewegungen des Hinterleibs womöglich eine Neuorientierung in der Luft erlauben. Zusätzlich weisen sie einen ungewöhnlich abgeplatteten Kopf mit "Krempen" auf, die als Steuerruder dienen könnten, spekulieren die Forscher.

Größenvergleich von Cephalotes-Ameisen | Wie die Fallstudien der Forscher enthüllten, sind die meisten Angehörigen des Cephalotini-Stammes Flugkünstler. Das Foto zeigt die kleinste Cephalotes-Art C. maculatus (rechts) und die größte C. atratus (links) im Vergleich.
Übrigens: Die Angehörigen von C. atratus sind nicht die einzigen akrobatisch begabten Insekten. Als die Wissenschaftler Individuen von etwa sechzig baumbewohnenden Ameisenarten von Zweigen schubsten, zeigten 25 Spezies aus fünf verschiedenen Gattungen Formen des "Fliegens". Doch nur in zwei Gruppen scheint es die Regel zu sein: beim Cephalotini-Stamm und bei den langen, zylindrischen, Wespen-ähnlichen Ameisen der Unterfamilie Pseudomyrmecinae. "Die Arten der Gattung Cephalotes sind aber bei weitem die besten Gleiter", schwärmt Yanoviak.

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