Denisova-Genom: Fast wie wir - aber nur fast
Es ist eine paradoxe Situation: Von keiner ausgestorbenen Menschenform haben wir weniger Funde als von den "Denisovanern". Zwei Zähne und ein Fingerknöchelchen ist alles, was Forscher bislang an fossilen Überresten bargen. Die Überbleibsel wurden im Jahr 2008 in einer Höhle im südsibirischen Altai-Gebirge entdeckt und bald darauf einem zuvor unbekannten Verwandten der Neandertaler zugeschrieben. Viel mehr als vermuten, dass er äußerlich dem Neandertaler ähnelte, einen vergleichbaren Lebensstil pflegte und wohl große Teile Asiens besiedelte, kann man nicht.
Gleichzeitig gibt es keine andere archaische Menschenvariante, von der wir eine genauere Kenntnis des Genoms haben. Denn Genetiker des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, die auch schon an der Entzifferung des Neandertalergenoms mitwirkten, haben nun das Erbgut des rätselhaften Denisova-Menschen in einer Detailgenauigkeit ausgelesen, wie man sie sonst nur für modernes Erbgut kennt [1].
Möglich machte dies zum einen der phänomenal gute Erhaltungszustand der rund 30 000 bis 50 000 Jahre alten DNA im Fingerknöchelchen: Sie ist anders als andere alte DNA nur äußerst gering mit dem Erbgut von Mikroorganismen kontaminiert. Zum anderen entwickelte das Team um Svante Pääbo eine neue Sequenziermethode, bei der der DNA-Doppelstrang in zwei Einzelstränge aufgespalten wird, die dann einzeln abgeschrieben und erfasst werden. "Wir bekommen so zehn Mal mehr lesbare Sequenzen aus einer Probe als mit der alten Methode", meint Erstautor Matthias Meyer. So musste man nicht einmal mehr den kostbaren Knochen anfassen, sagt der Wissenschaftler. Man beschränkte sich auf eingelagerte Proben aus einer früheren Studie, bei der das Denisova-Erbgut vorläufig ausgelesen wurde.
Von der Kenntnis der Erbguts erhoffen sich die Forscher Antworten auf zwei zentrale Fragen: Wer waren die Denisova-Menschen? Und viel wichtiger noch: Was macht den (modernen) Menschen zum modernen Menschen?
Wann ist ein Mensch ein Mensch?
Denn das Erbgut einer so nah verwandten Art hält uns gewissermaßen einen Spiegel vor, berichten die Forscher – besonders dort wo sich Unterschiede eingeschlichen haben: Wenn Denisovaner eine archaische Variante tragen, wo alle heutigen Menschen die moderne besitzen, dann scheint die Evolution gerade diese Genvariante bevorzugt zu haben. Warum? Mutmaßlich weil sie uns einen entscheidenden Vorteil brachte, etwa bei der Gehirnentwicklung.
Über hunderttausend solcher genetischer Veränderungen haben die Forscher bereits herausgesucht. 260 davon seien "besonders heiße Kandidaten", sagt Meyer. An diesen Stellen würden etwa Proteine kodiert. Leider lässt sich bislang nur in den wenigsten Fällen sagen, wofür diese Erbfaktoren gut sind.
Einer ersten – noch oberflächlichen – Einschätzung der Forscher zufolge handelt es sich bei einigen tatsächlich um altbekannte Mitspieler beim Synapsenwachstum. Andere bringen Neurowissenschaftler mit Autismus und Schizophrenie in Verbindung.
Auch bestimmte Aspekte der Haut- und Augenphysiologie scheinen sich in der jüngsten Menschheitsgeschichte verändert zu haben, schreiben die Autoren. So hatte bereits ein anderes Forscherteam auf Grundlage des 2011 veröffentlichten Vorabgenoms entdeckt, dass die Denisova-Menschen Gene trugen, die bei heutigen Menschen mit dunklen Augen und dunkler Haut einhergehen.
Insgesamt dürfte die genetische Vielfalt der Denisovaner jedoch eher kümmerlich gewesen sein, fanden die Forscher heraus. Sie stammten wohl sämtlich von einer kleinen Gruppe von Gründern ab, die dann vergleichsweise schnell expandierte. Die Diversität ihres Genoms scheint mit dieser rasanten Expansion nicht Schritt gehalten zu haben, was im Gegenzug die Gemeinschaft als Ganzes weniger robust und dafür anfällig gegenüber schädlichen Mutationen machte.
Ein Umweg half den Forschern übrigens dabei, die genetische Vielfalt einer ganzen Population aus nur einem einzigen Gen herauszulesen: Dank der Genauigkeit der Sequenzierung konnten sie den väterlichen und den mütterlichen Beitrag zum Erbgut des einstigen Fingerknochenbesitzers trennen. Und aus dem Grad der Unterschiedlichkeit – der so genannten Heterozygosität – lässt sich dann auf die Vielfalt zurückschließen. Auf unmittelbare Inzucht in seiner Eltern- und Großelterngeneration ging die Ähnlichkeit im Vater- und Muttergenom nicht zurück, demnach scheint bei den Denisova-Menschen insgesamt nur eine sehr geringen Varianzbreite aufgetreten zu sein.
Kreuzung an der Kreuzung
Die Ergebnisse des Leipziger Teams bestätigen darüber hinaus frühere Befunde zur Ménage-à-trois von modernem Mensch, Neandertaler und Denisovanern. Zusätzlich zu den Einsprengseln von Neandertaler-DNA, die alle Nichtafrikaner besitzen, tragen Papuas und australische Ureinwohner einige Prozent archaischen Genmaterials, das – wie nun die Analysen von Pääbo und Kollegen bestätigen – einen Denisova-Ursprung hat.
Vermutlich irgendwo im Süden Asiens müssen ihre Ahnen den Denisovanern begegnet sein. Heutige Festlandasiaten hingegen haben keine solche Historie. Ihr Genom enthält zwar mehr Neandertalererbgut als bislang gedacht, aber den Denisovanern scheinen ihre Vorfahren nicht über den Weg gelaufen zu sein. Beide Populationen – die festlandasiatische und die Neuguineas – dürften im Umkehrschluss auf getrennte Expansionszüge zurückgehen. Die frühere der beiden führte wohl an den asiatischen Küsten entlang und endete vielleicht schon vor 60 000 Jahren in Australien.
Aber stimmen diese – ausschließlich auf komplexen statistischen Berechnungen beruhenden – Aussagen überhaupt? Zuletzt hatten Forscher daran Zweifel gesät und waren dabei auf größeren Widerhall in den Medien gestoßen: Der Genmix kann auch auf ältere Unterschiede zurückgehen, rechneten Anders Eriksson und Andrea Manica von der University of Cambridge vor [2].
Zweifel an der Vermischungsthese
Ihr Argument: Zwei zwar nah verwandten, aber getrennt voneinander existierende Vorläuferpopulationen von Homo sapiens und neanderthalensis in Afrika könnten den statistischen Befund ebenfalls erklären – zumindest rein rechnerisch. Aus der einen hätten sich dann die heutigen Afrikaner entwickelt, aus der anderen erst die Neandertaler und später alle Nicht-Afrikaner, die dann nur vermeintlich eingekreuztes Neandertalererbgut tragen würden. Vor vielleicht rund 800 000 Jahren lebten die letzten gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Neandertaler.
Der Einwand komme jedoch anderthalb Jahre zu spät, heißt es irritiert aus den Reihen der Forscherteams um Pääbo und dem Harvard-Genetiker David Reich, der ebenfalls maßgeblich die Entzifferung der alten DNA vorangetrieben hatte. Denn zum einen verkompliziert sich das anzunehmende Szenario auf Grund der Denisova-Vermischungen ins Unplausible – nun müsste man nämlich ganze drei getrennte Ausgangspopulationen und entsprechende Wanderwege annehmen.
Zum anderen haben zwei Studien zwischenzeitlich die Spuren der Kreuzung im Erbgut genauer in Augenschein genommen [3, 4]. Dabei zeigte sich unter anderem, dass die archaische DNA im Menschengenom in verhältnismäßig großen zusammenhängenden Stücken auftaucht. Wären die altertümlichen Anteile hingegen so alt wie von Eriksson und Manica angenommen, müssten sie durch Jahrhunderttausende genetischer Rekombination längst in kleine Stückchen zerstückelt worden sein. Tatsächlich lässt sich anhand dieser Eigenschaft der grobe Zeitpunkt einer Vermischung ermitteln: Vermutlich gelangte die Neandertaler-DNA zwischen 47 000 und 65 000 Jahren vor heute ins Erbgut von Homo sapiens, berechneten Pääbo und Reich. Ein Zeitpunkt, der sich nur mit einem amourösen Miteinander der beiden Gruppen erklären lässt. Es scheint darüber hinaus nicht das einzige gewesen zu sein.
Mit der aktuellen Veröffentlichung des vollständigen Denisova-Genoms ist es allerdings beileibe nicht getan. "Höchste Priorität hat es jetzt, Neandertaler-Daten in der gleichen Qualität zu bekommen", sagt Meyer. Über diesen Zweig unserer Verwandtschaft sei einfach mehr bekannt, daher könne man auch besser die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Erbgut bewerten. Leider ist die Reinheit der Proben deutlich geringer, was für die Wissenschaftler einiges an Mehraufwand bedeuten wird.
Und nicht zuletzt wollen die Leipziger Forscher auch die Denisova-Erbgutsequenzen in öffentlichen Datenbanken ihren Kollegen zugänglich machen. Ein Heer von Genetikern wird in den kommenden Jahren das Erbgut der Menschenart durchkämmen. "Der wahre Wert dieser Entzifferung wird sich eigentlich erst nach Abschluss dieser Untersuchungen zeigen", meint Meyer.
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