Persönlichkeit: Faszination des Fürchtens
Plötzlich ein Geräusch. Der Fernseher. Er zeigt einen Brunnen mitten im Wald. Eine bleiche Mädchengestalt klettert aus der Öffnung, das Gesicht hinter strähnigen Haaren verborgen, barfuß, das Nachthemd nass und schmutzig. Sie bewegt sich unnatürlich. Das Bild flackert. Stockend und zugleich rasend schnell kommt die Kreatur immer näher. Der junge Mann weicht keuchend vom Fernseher zurück – da taucht ihr Kopf durch den Bildschirm. Sie kriecht auf ihn zu …
Für die einen sind solch schaurige Szenen wie im Film "Ring" unerträglicher Horror. Andere wiederum durchleben das Entsetzen mit Genuss – wenn sich eine Gänsehaut einstellt und der Schreck durch alle Glieder fährt, fühlen sie sich erst richtig gut unterhalten. Was reizt sie daran?
Auf der Jagd nach dem Thrill
Sich freiwillig seinen Ängsten auszusetzen – ob durch einen Gruselfilm, ein spannendes Buch oder während einer Geisterbahnfahrt –, folgt der gleichen Motivation, die uns auch Extremsportarten betreiben und in den Abenteuerurlaub fahren lässt: Wir suchen nach Stimulation. Der "Thrill", wie Psychologen das Gefühlsgemisch aus Angst und Lust nennen, lockt den Menschen schon seit Langem – von den Schaukämpfen der Antike über einst auf Jahrmärkten präsentierte "Monstrositäten" bis hin zu den Scharen unbeteiligter Schaulustiger bei schweren Unfällen und Katastrophen. Als harmlose Varianten fahren wir dafür Achterbahn, ergötzen uns an ekligen Mutproben im Fernsehen oder retten per Spielkonsole die Welt vor Außerirdischen.
Eine große Rolle für die positive Bewertung extremer Situationen spielt der Botenstoff Dopamin, der an Lernprozessen beteiligt ist und zum Belohnungssystem des Gehirns gehört. Der Neurotransmitter wird bei befriedigenden Erfahrungen wie Essen oder Sex ausgeschüttet – grundsätzlich lassen aber auch neue und riskante Erlebnisse den Dopaminspiegel steigen. Möglicherweise wurden auf diese Weise unsere Vorfahren für die riskante, aber überlebenswichtige Jagd mit Glücksgefühlen belohnt. Rauschmittel verstärken den euphorisierenden Effekt von Dopamin, und genau wie sie können auch aufreibende Aktivitäten zum Suchtobjekt werden.
Besonders für Menschen in einer sicherheitsorientierten Gesellschaft fällt unter Stimulation auch der Eindruck von Gefahr. Als Kontrast zum oft gleichförmigen Alltag suchen sie deshalb den Nervenkitzel scheinbar bedrohlicher Situationen. Im Gegensatz zur echten Angst gehört zum lustvollen Erleben des Thrills allerdings auch eine gewisse Sicherheit, das Abenteuer unbeschadet zu überstehen. Ende der 1950er Jahre prägte der ungarische Psychoanalytiker Michael Balint für diese Empfindung den Begriff der Angstlust [1]. Er beschrieb, dass wir vor allem ein Wechselbad der Gefühle – ein Auf und Ab zwischen Anspannung und Entspannung – als positiv empfinden. Ursache dafür sind ihm zufolge Erfahrungen in der Kindheit, bei denen wir uns von der Mutter entfernen und anschließend erleichtert in ihren Schutz zurückkehren.
Reizsucher oder Risikovermeider?
Doch warum suchen manche Menschen den Nervenkitzel, während andere ihn ausdrücklich meiden? In den 1960er Jahren beschrieb der amerikanische Psychologe Marvin Zuckerman verschiedene Verhaltensweisen, die er dem Persönlichkeitsmerkmal "Sensation Seeking" zuordnete, und schuf damit die Grundlage für weitere Forschungsarbeiten [2]. Er definierte diesen Charakterzug als "das Bedürfnis nach abwechslungsreichen, neuen, komplexen Eindrücken und Erfahrungen und der dazugehörigen Bereitschaft, (…) Risiken dafür in Kauf zu nehmen".
Heute geht man oft davon aus, dass jeder Mensch ein optimales Niveau der Erregung hat. Personen, bei denen dieses relativ hoch ist, vermeiden zusätzliche Stimulation, wogegen solche mit niedrigem Level eher einen Hang zu besonders intensiven Reizen haben und dafür immer neue Quellen finden müssen, weil sich ihre Aufregung durch Wiederholungen schneller abnutzt.
Nach Zuckerman gliedert sich das Sensation Seeking in vier Kategorien: das Bedürfnis nach Nervenkitzel und Abenteuer (Extremsport, riskantes Fahren), das Bedürfnis nach Erfahrungen (Reisen, Drogenkonsum) sowie Enthemmung (wilde Partys, sexuelle Abenteuer) und die Anfälligkeit für Langeweile. Eine Vorliebe für Schauergeschichten gehört demnach zum ersten Aspekt dieses Persönlichkeitsmerkmals.
Um Personen in "High Sensation Seeker" und "Low Sensation Seeker" einzuteilen, entwickelte Zuckerman einen Fragebogen mit 40 Elementen – die "Sensation Seeking Scale" (SSS). Anhand von Aussagen wie "Ich würde gerne einmal von einem hohen Sprungturm springen" oder "Ich erkunde gerne eine fremde Stadt, auch wenn ich mich verirren könnte" soll der Test wiedergeben, wie stark jemand zur Sensationslust neigt.
Psychologen verwenden diese Skala bis heute – und seit Ende der 1970er wurde sie überraschenderweise nur wenig verändert. Dabei beschreiben Sätze wie "Ich könnte mir vorstellen, als 'Jet-Setter' in der ganzen Welt Vergnügungen zu suchen" heute angesichts vieler Fernreisen vermutlich nicht mehr das Begehren eines Reizsuchers. Allgemein kritisieren auch einige Forscher, dass viel eher Faktoren wie Alter, Geschlecht und sozialer Status viele der Aussagen beeinflussen – zum Beispiel, ob man gerne Schi fahren möchte.
Marcus Roth, Professor für differentielle Psychologie an der Universität Duisburg-Essen, arbeitet deshalb an neuen Ansätzen: "Dass man gerne Künstler oder Homosexuelle kennen lernen würde, galt in den Siebzigern vielleicht als extrem, sagt heute aber wenig über Sensation Seeking aus. Wir haben eine neue Skala entwickelt, die ab Anfang nächsten Jahres in Deutschland angewendet werden kann." Anstatt nach konkreten Verhaltensweisen zu fragen, misst das "Need Inventory of Sensation Seeking" (NISS), wie sehr jemand den Zustand der Aufregung mag [3].
"Wie dieser Zustand letztendlich erreicht wird, ist unwichtig", erklärt Roth. "Wenn man dagegen neutral fragt, kann man das Ergebnis auf mehr Verhaltensweisen anwenden als nur auf solche, die ich als Forscher 'Sensation Seekern' zuschreibe." Elemente dieses neuen Fragebogens sind zum Beispiel "Ich mag Situationen, in denen vor Aufregung mein Herz klopft" und "Ich kann es genießen, wenn eine Weile einfach nichts passiert". Im Gegensatz zur vorherigen Methode folgen die Antworten darin außerdem nicht nach dem Entweder-oder-Prinzip, sondern bewerten die Elemente aufsteigend von "fast nie" bis "fast immer".
Hinweise des Körpers
Geht es um die biologischen Ursachen für die Ausprägung von Sensation Seeking, bringen Naturwissenschaftler nun zunehmend Licht ins Dunkel. Vor allem die unterschiedliche Bewertung von Reizen im Gehirn ist für sie interessant. Mit Hilfe von funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) konnte man feststellen, dass im Gehirn von Sensation Seekern der ersten Kategorie (Nervenkitzel und Abenteuer) das belohnende Gefühl eines Erlebnisses ein damit verbundenes Risiko aussticht – anders als bei weniger abenteuerlustigen Testpersonen [4].
Sogar am Herzschlag unterschiedlich reizbedürftiger Menschen lassen sich Unterschiede feststellen: Der Körper reagiert auf bedrohliche Situationen mit einer Stressreaktion, wozu unter anderem auch ein erhöhter Puls gehört. "Besonders aussagekräftig ist die Reaktion auf neue Stimuli von mittlerer Intensität", erklärt Roth [5]. Während bei Personen, die Risiken eher vermeiden, die Herzfrequenz steigt, nimmt sie bei Sensation Seekern ab.
Doch wie sieht es eigentlich mit unseren genetischen Anlagen aus? Anhaltspunkte für eine Prädisposition zum Sensation Seeker findet man in Verbindung mit der bereits erwähnten Dopaminantwort. Es scheint, dass eine schlechte Weiterleitung des Dopaminsignals reizsuchendes Verhalten begünstigt – vermutlich weil das Glücksgefühl weniger stark ausfällt oder man stärkere Stimulation braucht, um es auszulösen. Offensichtlich spielt einer der zugehörigen Rezeptoren eine zentrale Rolle: Das Gen für den Dopamin-D4-Rezeptor (D4DR) kommt in verschiedenen Formen vor. Einige Studien zeigen, dass eine bestimmte Version bei Sensation Seekern gehäuft auftritt [6]. Ein Allel des Dopaminrezeptors wiederholt sich dabei besonders oft und leitet vermutlich das Signal schlechter weiter. Noch sind sich die Wissenschaftler über die Rolle des Rezeptors aber nicht vollkommen einig.
Als unbestritten gilt hingegen der Geschlechterunterschied: Männer haben ein durchgehend höheres Sensation-Seeking-Potenzial, auch wenn der Unterschied zu den Frauen im Lauf der Zeit kleiner geworden ist. Inwieweit das vom traditionellen Rollenverständnis oder von geschlechtsspezifischen Genen beeinflusst wird, lässt sich nicht genau feststellen.
Vergleicht man dagegen die Altersgruppen, liegen Teenager risikomäßig ganz vorne. Mit zunehmendem Alter wächst nicht nur das Sicherheitsbedürfnis, es verringert sich auch die Konzentration an Monoaminoxidase B (MAO-B). Das Enzym baut Dopamin ab und könnte damit ebenfalls eine Rolle für die Reizsuche spielen, denn seine Konzentration ist bei Sensation Seekern verändert [2]. Dieser Zusammenhang ist allerdings bisher noch nicht ausreichend geklärt.
Letztendlich entscheidet wohl die Summe dieser Faktoren in Kombination mit persönlichen Interessen und Erfahrungen, wer an Halloween Fremden lieber nicht die Tür öffnet – zumal es Menschen gibt, die besser jedem Horror aus dem Weg gehen sollten. Das hat bei ihnen aber nichts mit Dopamin und Co zu tun: Sie leiden unter dem erblichen, sehr seltenen Startle-Syndrom, einem Übererregbarkeitssyndrom: Wenn sie sich erschrecken, versteift ihre komplette Muskulatur – und sie fallen augenblicklich um.
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