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Biorhythmus: Fehlgesteuert

Sie prägen das Bild des europäischen Nordens: Rentiere, die vom bunt gekleideten Volk der Samen als eine Art Vieh gehalten werden. Den wilden Hirschen könnte es allerdings bald an den Kragen gehen: Ihr Rhythmus stimmt nicht mehr mit dem der wärmeren Umwelt überein.
Vom einstigen Wildtierreichtum Nordamerikas blieb bis heute nur ein kümmerlicher Rest bestehen: Die Wandertaube und der Carolinasittich sind ausgestorben, der Grizzly überdauert gerade einmal im Norden und in den Gebirgen des Kontinents, und die millionenschweren Herden der Bisons und Gabelböcke, die einst über die Prärien zogen, schrumpften auf maximal wenige tausend Köpfe zusammen. Jagd und Lebensraumzerstörung haben ihnen ein klägliches Ende bereitet.

Rentier mit Jungem | Die Rentiere sind darauf angewiesen, an ihren Geburtsstätten ausreichend nahrhaftes Futter zu finden, um ihre Kälber großziehen zu können. Der Klimawandel macht dies schwierig.
Zumindest einen Abglanz dieser Migrationsbewegungen kann man heute noch im Gebiet zwischem dem kanadischen Yukon und Alaska beobachten: Alljährlich ziehen dort 125 000 Karibus von ihrem Winterquartier in die Küstenebene des Arctic National Wildlife Refuge in Alaska. Über 900 Kilometer muss die so genannte Porcupine-Herde wandern, um an die Geburtsstätte ihrer Kälber zu gelangen – eine der längsten Wanderungen von Landsäugetieren, die es auf der Erde noch gibt.

Womöglich droht aber auch diesem letzten großen Zug Nordamerikas wie auch anderen wilden Rentieren – wie die Karibus in Europa heißen – bald das Ende, fürchten Ökologen um Eric Post von der Pennsylvania State University in University Park. Schließlich erwärmt sich das Klima der Tundra rascher und stärker als in den meisten anderen Ökosystemen. Und das könnte den Lebensrhythmus der Hirsche gehörig durcheinanderbringen und die Überlebensrate ihrer Jungen drücken.

Schuld daran hätte das Phänomen der so genannten Desynchronisation, das bislang vor allem von Zugvögeln bekannt war: Sie leiden darunter, dass das Frühjahr im Norden mittlerweile zeitiger beginnt, die Vegetation früher im Jahr zu sprießen beginnt und deshalb auch viele Insekten ihre Larvenphase nach vorne verlegt haben. Zwar kehren auch einige Überwinterer eher aus Afrika nach Europa zurück, doch verging der Höhepunkt der Raupenzeit trotzdem meist schon ohne sie – für die Aufzucht ihrer Küken wird die Nahrung knapp.

Ein ähnliches Schicksal droht möglicherweise auch den Karibus, schließt Posts Team aus seinen Studien in Westgrönland. Nachdem sie während des Winters ausschließlich an relativ nährstoffarmen Flechten gekaut haben, die sie unter dem Schnee hervor scharren mussten, benötigen sie im Frühling gehaltvollere Kost aus den Knospen und jungen Zweigen von Weiden, frischen Gräsern und blühenden Kräutern. Nur diese Nahrung liefert ihnen die nötige Energie, die frisch geborenen Kälber mit Milch zu versorgen oder sie gegen Fressfeinde zu verteidigen. Um allerdings an ihre Protein- und Kohlehydratquellen zu gelangen, mussten die Hirsche erst vom Winter- ins Sommerquartier wandern – das Signal für den Aufbruch liefern ihnen die zunehmenden Tageslängen.

In den Weidegründen | Steigende Temperaturen in der Arktis lassen die Vegetation früher sprießen. Die Rentiere werden aber durch die Tageslängen in die Weidegründe gelockt – dann kommen sie aber meist schon zu spät.
Die Pflanzen dagegen regen sich unter dem Einfluss der Temperaturen – und da diese in der Arktis in den letzten Jahren um durchschnittlich 4,5 Grad Celsius stiegen, sprießt das Grün nun deutlich früher als noch vor dreißig Jahren: Zwischen zwei bis vier Wochen verlegten viele arktische Pflanzenarten ihren Blühbeginn nach vorne, wie Biologen bereits nachwiesen. Da die Rentiere sich jedoch weiterhin auf das Licht als Taktgeber vertrauen, erreichen sie ihre Gebärstätten erst, nachdem der Nährstoffreichtum seinen Höhepunkt überschritten hat und die entsprechenden Gehalte der Pflanzen wieder sinken.

Mit ähnlichen Unbilden mussten die Tiere jedoch auch bereits in Zeiten vor der Erderwärmung leben, schließlich schwankt der Frühlingseinzug von Jahr zu Jahr, weshalb sie Geburtenausfälle in einem zu warmen Jahr in einem späteren normalen wieder kompensieren konnten. Warf ein Äsungsareal zudem zu wenig adäquates Futter ab, zog die Herde weiter zum nächsten, der bessere Bedingungen versprach oder sich erst später entfaltete – eine kleinteilige Lebensraumvielfalt machte es möglich.

Der Klimawandel scheint aber auch dies zu beeinflussen – und die Umweltbedingungen zu vereinheitlichen, wie Post und seine Kollegen auf ihren Untersuchungsflächen vermerkten: Die Vegetationsperioden gleichen sich mehr und mehr an und laufen nahezu parallel ab; die Zeit, in der es ausreichend wertvolle Nahrung gibt, verkürzt sich: Wanderungen zwischen ehemals zeitlich gestaffelten Weidegründen werden sinnlos und kosten nur unnötig Energie. Zumindest in Westgrönland sinken deshalb in der beobachteten Herde bereits die Geburtenzahlen und steigt die Sterblichkeit der Kälber.

Die Aussichten für Karibu-Ansammlungen wie die Porcupine-Herde sind deshalb wohl erst einmal alles andere als rosig. Noch dazu will die Regierung von George W. Bush mitten in ihrem Kreißsaal im Arctic National Wildlife Refuge nach Erdöl bohren lassen, um den wachsenden Bedarf der Vereinigten Staaten zu decken – man könnte es bittere Ironie nennen.
  • Quellen
Post, E. et al.: Warming, plant phenology and the spatial dimension of trophic mismatch for large herbivores. In: Proceedings of the Royal Society B, 10.1098/rspb.2008.0463, 2008.

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