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Fehlurteile: Wann Zeugen einen Unschuldigen als Täter identifizieren

Erkennen Augenzeugen im Angeklagten den Täter wieder, stehen dessen Chancen vor Gericht schlecht. Doch die Ermittlungen selbst können das Gedächtnis von Zeugen verfälscht haben. Dafür gibt es Warnsignale.
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Charles Don Flores wartet auf seine Hinrichtung. Seit mehr als 20 Jahren sitzt er wegen Mordes im Gefängnis, nachdem eine Augenzeugin ihn vor einem Gericht in Texas als Täter identifizierte. In der ersten und zweiten Gegenüberstellung hatte sie ihn allerdings nicht erkannt. Sein Fall sei nur ein Beispiel für viele ähnliche Fehlurteile, mahnt ein Forschungsteam aus den USA. Nur die erste Gegenüberstellung zähle – danach sei das Gedächtnis kontaminiert. Im Fall von Charles Don Flores sprächen die Aussagen der Zeugin deshalb für seine Unschuld.

Über diese mögliche Kontamination will die Gruppe um den Psychologen John Wixted von der University of California, darunter die bekannte Gedächtnisforscherin Elizabeth Loftus, nun aufklären. Im Mittelpunkt steht die Gegenüberstellung, ein Verfahren, das Laien vor allem aus US-Krimiserien kennen: Die Ermittler mischen den Verdächtigen unter mehrere unbeteiligte Personen, mit denen er wesentliche Merkmale wie die ethnische Herkunft teilt. Mal stehen die Personen in einer Reihe hinter einem Einwegfenster, mal werden nur Fotos von ihnen vorgelegt. Das Opfer oder ein Augenzeuge soll sagen, ob er in einer der Personen den Täter wiedererkennt.

Schon jetzt gibt es Richtlinien für Gegenüberstellungen, um mögliche Verfälschungen zu vermeiden. Zum Beispiel sollte der Zeuge noch keine Medienberichte gesehen haben, die Hinweise auf das Aussehen des Verdächtigen geben könnten. Er muss darüber informiert werden, dass der Täter vielleicht gar nicht unter den Personen ist. Und die durchführenden Ermittler dürfen selbst nicht wissen, welche Person die verdächtige ist, um den Zeugen nicht unbewusst zu beeinflussen.

Doch selbst, wenn die Gegenüberstellung nach allen Regeln der Kunst verläuft, kann das Ergebnis falsch sein, schreiben Wixted und sein Team. »Eine Gegenüberstellung hinterlässt eine Erinnerungsspur von allen Gesichtern, auch dem der verdächtigen Person. In der Folge wird das Gedächtnis auf sein Gesicht bei der nächsten Gegenüberstellung stärker reagieren, auch wenn die Person unschuldig ist.« Je öfter der Zeuge den Verdächtigen sieht, desto größer das Risiko einer falschen Identifikation und desto mehr glaube er zugleich, sich richtig zu erinnern, was vor Gericht oft als Indiz für eine verlässliche Aussage gewertet werde. Es gebe keine Möglichkeit, das Gedächtnis wieder zu »dekontaminieren«.

Der Fall Steve Titus

1980 suchte die Polizei in Seattle nach einem Vergewaltiger. Steve Titus, ein Restaurantmanager, wurde nachts auf dem Weg nach Hause von der Polizei angehalten, weil sein Auto der Beschreibung vom Täterfahrzeug ähnelte. Das Opfer sagte bei einer ersten Gegenüberstellung lediglich: »Der sieht ihm am ähnlichsten.« Vor Gericht schien sich die Frau jedoch sicher zu sein; ihre anfängliche Unsicherheit wurde ignoriert und Titus verurteilt. Das Opfer erkannte einige Monate später den wahren Täter auf einem Foto, das im Zusammenhang mit einem anderen Fall in der Presse stand. Titus wurde frei gelassen, starb aber kurz darauf mit 35 Jahren an einem Herzinfarkt.

Das Problem ist der Wissenschaft lange bekannt. Bereits 1977 zeigte eine Studie: Wenn Versuchspersonen Fotos von vermeintlichen Kriminellen vorgelegt bekamen und diese anderthalb Stunden später aus einer Reihe von Fotos unschuldiger Personen heraussuchen sollten, verwechselten die Versuchspersonen diese Unschuldigen mehr als doppelt so oft mit den Kriminellen als neue Unschuldige, deren Bilder sie zum ersten Mal sahen. Neuere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen.

Koautorin Elizabeth Loftus ist bekannt geworden mit Experimenten, in denen sie solche falschen Erinnerungen ins Gedächtnis einpflanzte. Unter anderem geschah das bei Soldaten im Rahmen eines Überlebenstrainings: 30 Minuten lang wurden sie einem aggressiven Verhör unterzogen. Danach sollten sie über das Verhör berichten, und ein Teil bekam dabei ein Foto vorgelegt – vermeintlich von der Person, von der sie verhört wurden. Später sollten sie aus einer Bilderreihe die Person herauspicken, von der sie verhört wurden. War die richtige nicht darunter, wählte mehr als die Hälfte die Person, von der sie im Nachgang ein Foto gesehen hatten.

Auch ein schlechtes Foto kann das Gedächtnis kontaminieren

Die praktische Relevanz der Forschung untermauert die Gruppe mit Zahlen des Innocence Project, einer gemeinnützigen Organisation, die sich für die Revision von Justizirrtümern einsetzt. Demnach waren für die von ihnen gesichteten Fehlurteile, die im Nachhinein durch DNA-Tests aufgeklärt wurden, zu 70 Prozent Falschidentifikationen mitverantwortlich. In rund 57 Prozent dieser Fälle gab der Zeuge vor Gericht an, sich sicher zu sein, obwohl er das in der ersten Gegenüberstellung nicht gewesen war. Meist hatte er sogar zunächst niemanden oder jemand anderen als Täter wiedererkannt.

Bereits 2017 und 2020 hatte die Gruppe deshalb neue Richtlinien für die Befragung von Augenzeugen gefordert: »Wir müssen wiederholte Gegenüberstellungen des Zeugen und Verdächtigen verhindern.« Das gelte ebenso für eine Gegenüberstellung per Bild. »Auch ein schlechtes Foto kann das Gedächtnis kontaminieren, solange der Verdächtige darauf zu erkennen ist.« Eine zweite Gegenüberstellung sei hingegen kein Problem, wenn keine der Personen aus der ersten Runde erneut auftauche.

Viele Fehlurteile wären vermeidbar

Im Polizeibericht müsse außerdem stehen, wie sicher sich der Zeuge bei der ersten Gegenüberstellung war. Das gesamte Prozedere sollte überdies auf Video aufgezeichnet werden, damit das jeder auch im Nachhinein noch prüfen könne. Denn ist der Zeuge sich nicht sicher, sei das ein Warnsignal – egal, ob er die Sicherheit mit eigenen Worten ausdrückt oder in Prozent. Eine langsame Reaktion könnte ebenfalls ein Warnsignal sein. Studien zeigten: Eine schnelle Identifikation innerhalb von 5 bis 10 Sekunden war in der Regel korrekt. Dauerte die Entscheidung mehr als 30 Sekunden, erwies sie sich als weniger verlässlich.

Was also steht der Umsetzung der Richtlinien in der Praxis im Weg? Wixted und sein Team schreiben, das Problem liege in der weithin verbreiteten Fehlannahme, dass spätere Gegenüberstellungen ebenso viel oder sogar mehr Informationen brächten. Besonders problematisch: eine Identifikation vor Gericht. Denn diese Situation sei hochsuggestiv, da die verdächtige Person bereits auf der Anklagebank sitzt.

Der erste Test liefere den einzig relevanten Beweis und die beste Chance auf unverfälschte Erinnerungen, mahnen die Autoren um Wixted. »Wäre diese einfache Reform schon vor Jahren vorgenommen worden, wären viele Fehlurteile vermieden worden.«

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