Felix von Luschan: Jäger der geraubten Bronzen
»Aus Benin, wo die englischen Sieger riesige Kriegsbeute gemacht, kommen jetzt große Mengen altes geschnitztes Elfenbein sowie Bronzefiguren in den Handel«, schrieb Felix von Luschan im Sommer 1897 in einem Brief. Kurz zuvor hatte der Direktorialassistent am Königlichen Museum für Völkerkunde in Berlin von einem Elfenbeinhändler erfahren, dass sich rund 600 Zentner geschnitzter Elefantenstoßzähne auf dem Weg nach London befänden. Die Objekte stammten aus der Plünderung von Benin-Stadt durch britische Truppen. Außerdem erwartete Luschan (1854–1924) bereits voller Vorfreude ebenfalls erbeutete Relieftafeln und Skulpturen aus Bronze, die er zu diesem Zeitpunkt nur aus Beschreibungen kannte. Von ihnen hieß es, sie verrieten einen »altphönizischen« Einfluss.
Seit er von der Eroberung des westafrikanischen Königreichs, einer so genannten Strafexpedition, und den dort erbeuteten Kunstwerken erfahren hatte, war Luschan wie elektrisiert. Er wollte die Stücke endlich selbst begutachten. Als die Objekte schließlich in der britischen Hauptstadt auf den Markt kamen, machte sich der Anthropologe umgehend auf den Weg – und hatte einen festen Vorsatz: »Ich werde am Sonntagabend in London eintreffen, um zu sehen, was ich davon für das Königliche Museum kaufen kann.«
Luschan kaufte viel für das Museum in Berlin. Und nun, 125 Jahre später, werden die geraubten Kunstwerke aus dem Königreich Benin zurückgegeben. Die Stücke aus dem einstigen Land, das auf heute auf nigerianischem Boden lag, befinden sich nicht nur im Ethnologischen Museum in Berlin, sondern auch in den beiden Häusern der Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen in Dresden und Leipzig, im Museum am Rothenbaum in Hamburg, im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum, im Linden-Museum in Stuttgart sowie in einigen weiteren Museen. Anfang Juli 2022 unterzeichneten deutsche und nigerianische Vertreter und Vertreterinnen eine Absichtserklärung – die Objekte gehen zurück an Nigeria. Das Land entscheidet, was zurückgeht und was als Leihgabe in Deutschland verbleibt. Die weitaus größte Sammlung beherbergt das Berliner Museum. In den Besitz der Beninbronzen kam das Haus, weil ein Mann geradezu obsessiv und von einer absurden Überzeugung geleitet Beninbronzen auf dem Kunstmarkt einkaufte: Felix von Luschan.
Der deutsche Museumsmann kaufte zahlreiche Kunstwerke
Als Luschan 1897 zu seiner ersten Auktion von Beninbronzen in London ankam, war er begeistert: Die Kunstwerke übertrafen seine kühnsten Erwartungen. »Die geschnitzten Zähne sind Museums-Prachtstücke allerersten Ranges«, schrieb er angetan nach Berlin. »Und die Bronzen sind von einer Schönheit, für die ich einstweilen nur den Ausdruck rätselhaft habe.« Nun machte er sich voller Eifer daran, seinen Vorsatz in die Tat umzusetzen und in möglichst großem Stil für »sein« Museum einzukaufen. Von den 50 Stoßzähnen, die bei zwei Londoner Auktionen während des August 1897 zur Versteigerung kamen, erwarb er 13 Exemplare. Da die ihm zur Verfügung stehenden Mittel nicht ausreichten, bemühte sich Luschan um alternative Geldquellen, lieh sich sogar persönlich 5000 Goldmark von seinem Schwager, um im Geschäft zu bleiben.
Zugleich telegrafierte er von London aus eigenmächtig dem deutschen Konsul im nigerianischen Lagos, wo ebenfalls zahlreiche der erbeuteten Stücke zum Verkauf standen, und bat darum, »was immer erreichbar und ohne Rücksicht auf den Preis« zu kaufen. Der Diplomat entsprach der Bitte, wofür sich Luschan in einem weiteren Schreiben huldvoll bedankte. »Es hat uns mit großem Stolz und mit wahrer Freude erfüllt, dass es Ihrer Tatkraft und Energie gelungen ist, wenigstens einen Teil der Kriegsbeute von Benin schon an Ort und Stelle für uns zu sichern.«
Die Beninbronzen raubten Luschan den Schlaf
Wie besessen kaufte der Anthropologe auch in den darauf folgenden Jahren unablässig weitere Objekte aus Benin – stets im vollen Bewusstsein dessen, dass es sich dabei um Kriegsbeute handelte, um geraubtes Gut. Unverdrossen jagte er den Kunstwerken mit einer derartigen Obsession hinterher, dass sie ihn gelegentlich sogar um den Schlaf brachte. »Ich stehe jetzt in Verhandlungen wegen einer großen Benin-Sammlung. Dass wir alles davon kaufen, ist ausgeschlossen, weil unsere Mittel nicht reichen«, berichtete er 1889 in einem Brief an Karl von Linden (1838–1910), den Mitbegründer des heute nach ihm benannten Stuttgarter Museums für Länder- und Völkerkunde. »Einstweilen träume ich fast jede Nacht von der geplanten Erwerbung; meist glückt sie; nur wenn ich zu viel geraucht und gegessen habe, dann träume ich, dass irgendein amerikanischer Agent die ganze Sammlung en bloc entführt. So denke ich Tag und Nacht an die Sache.«
Weder ein »amerikanischer« noch irgendein anderer Agent kam Luschan in die Quere. Doch gelegentlich schnappte ihm Justus Brinckmann (1843–1915) eines der Objekte vor der Nase weg – und er umgekehrt ihm. Der Gründungsdirektor des Museums für Kunst und Gewerbe in Hamburg hatte von den traditionell guten Kontakten der Hansestadt nach Großbritannien profitiert und als Erster in Deutschland ein Kunstwerk aus Benin präsentiert. Nun entbrannte zwischen den beiden Museumsmännern ein Wettstreit darum, wer die bessere und größere Benin-Sammlung zu Stande bringen würde.
Felix von Luschan setzte sich durch. Mit enormem Einsatz und viel Geschick gelang es dem Österreicher in preußischen Diensten, die Sammlung des Berliner Hauses über die Jahre immer weiter auszubauen. »Er handelte hartnäckig, drückte erfolgreich die Preise der Händler, verkaufte auch wieder Stücke, die er in besserer Qualität aufgespürt hatte«, beschreibt Angelika Tunis sein Vorgehen – als langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin des Ethnologischen Museums Berlin eine Kennerin der Sammlung. Am Ende nannten die Berliner 580 der damals bekannten 2400 Objekte aus Benin ihr Eigen, mehr als jedes andere Museum im deutschsprachigen Raum. »Wie auf fast allen anderen Gebieten der Völkerkunde, so wird die Berliner Sammlung nun auch für Benin an erster Stelle stehen, und die großen neuen Aufgaben, die sich aus der Erforschung der Benin-Altertümer ergeben, werden nur in Berlin zur Lösung kommen können«, konstatierte so zufrieden wie zutreffend Direktorialassistent von Luschan. Einen großen Teil dieser »neuen Aufgaben« hatte er selbst übernommen. Rund 20 Jahre lang arbeitete Felix von Luschan an seinem dreibändigen Werk »Die Altertümer von Benin« aus dem Jahr 1919, in dem er alle bekannten Beninobjekte erfasste und das heute noch als Referenzwerk gilt.
Von Luschan erkannte die Beninbronzen als genuin afrikanische Kunst
Was trieb diesen Mann, sich derart ungeniert um den Erwerb von Kulturgütern zu bemühen, die ganz offensichtlich geraubt worden waren? Gewiss, Luschan war ein Kind seiner Zeit. Und in seinem Fall war es die Ära des Imperialismus, als die europäischen Mächte in ihrem Expansionismus und Kolonialismus schwelgten, ohne jede Rücksicht auf indigene Bevölkerungen in den unterworfenen Weltgegenden. Doch anders als viele seiner Anthropologenkollegen hatte Luschan die Beninbronzen als genuin afrikanische Kunst erkannt, und anders als die allermeisten seiner Zeitgenossen in Europa betrachtete er die afrikanischen Kulturen keineswegs als primitiv. Er trat wiederholt öffentlich dagegen auf, wenn Europäer von Afrikanern »immer noch als ›Wilde‹ sprechen«, wo es doch »in Afrika keine anderen Wilden gäbe als einige toll gewordene Weiße«. Luschan mahnte, es würde »manchen Kolonialregierungen sehr wohl anstehen, die einheimischen Kulturen der Afrikaner etwas höher einzuschätzen, als sie das jetzt meist tun«.
Zu einem Gegner des Kolonialismus machten ihn derartige Überlegungen freilich nicht. Im Gegenteil: Luschan stand vorbehaltlos hinter der deutschen Kolonialpolitik am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, bereitete auch höchstpersönlich angehende Kolonialbeamte, Schutztruppenoffiziere und Missionare mit landes- und kulturkundlichen Vorträgen auf ihren Dienst in Afrika vor. Schließlich waren sie es, die einen steten Fluss von Kunstschätzen aus den Kolonien garantierten. Für den Einsatz vor Ort entwickelte Luschan auch »Anleitungen zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen«.
»In den zwei Jahrzehnten, während derer Luschan am Museum für Völkerkunde die Sammlungen für Afrika und Ozeanien betreute, etablierte er das Berliner Haus zur zentralen Einrichtung für die Übernahme von Ethnografika aus den Kolonien«, sagt die Anthropologin Maria Six-Hohenbalken von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Ab 1889 verfügte das Völkerkundemuseum zu Berlin sogar offiziell über ein Vorkaufsrecht auf »Ethnografica« und »Naturalia« aus den Kolonien. Fortan waren, »alle wissenschaftlichen Sendungen aus den deutschen Schutzgebieten« an die Berliner Institution zu richten. Bei Luschans Ausscheiden als Direktor 1910 war die Afrikasammlung des Museums von rund 3500 Katalognummern im Jahr 1880 auf über 50 000 angewachsen.
»Strafexpeditionen« als Quelle für Exponate
Dass es bei der Beschaffung der Kulturgüter meist brutal zuging, war ihm durchaus bewusst. »Das Auswärtige Amt hat uns eine ganz pompöse Sammlung überwiesen, Fetische und anderes Schnitzwerk völlig neuer Art, von der Ngolo-Strafexpedition des Hauptmanns von Kandt herrührend«, schrieb er beispielsweise 1903 hocherfreut. »Dazu kommt noch, dass einer meiner gegenwärtigen Hörer, Leutnant von Arnim, sich einer neuen, großen Strafexpedition gegen die Ngolo (streng secret!!) anschließen wird. Wir können uns also auf ganz brillante Dinge gefasst machen. Die Kosten werden dabei vermutlich gleich null sein.« Wie aber korrespondieren die Worte des aufgeklärten Forschers mit dem Handeln des skrupellosen Einkäufers? Wieso nahm Felix von Luschan es in Kauf, durch Erwerb zum Nutznießer und letztlich Komplizen von Raubzügen zu werden?
Eine Antwort auf diese Fragen lautet: Rettungsanthropologie. Luschan ging wie viele seiner Kollegen davon aus, dass die so genannten Naturvölker dem Untergang geweiht seien und dem Fortschritt in Gestalt der industrialisierten Kolonialmächte zum Opfer fallen würden. Die Kulturen Afrikas gingen »raschem Untergang entgegen, schon weil der europäische Einfluss mit seinen vier S (Sklavenhandel, Schnaps, Syphilis, Schundwaren) auf sie wie zersetzendes Gift gewirkt hat und teilweise noch immer fortwirkt«, war Luschan überzeugt.
»Es ging diesen Männern schon auch darum, haben zu wollen, besitzen zu wollen, zeigen zu wollen«Maria Six-Hohenbalken, Anthropologin
Auch sein Vorgesetzter in Berlin, der Anthropologe und Museumsdirektor Adolf Bastian (1826–1905), war der Ansicht, schon bald werde das moderne Zeitalter »mit Dampfkraft und Electricitätsgeschwindigkeit« alle »ethnischen Originalitäten« vernichten. »Im Blickpunkt standen dabei jene als geschichtslos aufgefassten außereuropäischen Kulturen, die man als ›Primitive‹ in evolutionäre Nähe zu einer früheren Stufe der Menschheit rückte und daher als Schlüssel zur Rekonstruktion der menschlichen Entwicklungsgeschichte verstand«, schreibt die Anthropologin Katarina Matiasek von der Universität Wien. Doch angesichts der erschütternden Diagnose, dass die indigenen Kulturen verschwinden werden, übten weder Bastian noch Luschan Kritik am Kolonialismus, sondern legten umso mehr Wert auf die Dringlichkeit und Bedeutung der eigenen Aufgabe. Die Anthropologen müssten Zeugnisse dieser Kulturen sammeln und in die europäischen »Rettungsanstalten« schaffen, wie Bastian die Museen zu bezeichnen pflegte.
Sammelwut und Prestigestreben der deutschen Museen
Die Rettungsanthropologie war allerdings nur ein Aspekt der allgemeinen Sammelwut, mit der die anthropologisch-ethnografischen Museen der industrialisierten Welt erweitert wurden. Das Bestreben ihrer Direktoren und Beschäftigten, das eigene Haus auf das Niveau renommierter Institutionen wie des Louvre oder des British Museum zu heben oder diese sogar zu überflügeln, stellten einen nicht zu unterschätzenden Antrieb dar. »Es ging diesen Männern schon auch darum, haben zu wollen, besitzen zu wollen, zeigen zu wollen«, sagt die Anthropologin Six-Hohenbalken.
Auch die großen Häuser in Paris und London hatten ihre Bestände mit allerhand geraubtem Gut aus aller Welt gefüllt. Deutsche Museumsleiter taten es ihnen nach. Der 1854 in Hollabrunn nahe Wien geborene Felix von Luschan fiel dabei als besonders eifriger Sammler auf. »Luschan hatte seit seiner Kindheit privat anthropologische Sammlungsstücke wie archäologische Funde, Skelette, Präparate, Fotografien und wissenschaftliche Sonderdrucke zusammengetragen«, erklärt Matiasek.
Ziemlich am Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn, in den Jahren 1881 und 1882, nahm Luschan an zwei österreichischen archäologischen Expeditionen nach Lykien und Karien in Kleinasien teil. In einem Brief an seine Frau beschrieb der Expeditionsleiter Otto Benndorf (1838–1907) den 27-Jährigen. Luschan sei ein »außerordentlich vielseitiger Mensch« und »angenehmer Gesellschafter«, meinte der deutsche Archäologe. »Er sammelt alles, wie er denn alle Wissenschaften, Künste und Handwerke in sich vereinigt«, notierte Benndorf anerkennend. »Sehr in die Tiefe kann es dabei kaum gehen. Ich würde sagen, er macht immer wissenschaftliche Männchen.« Dennoch prophezeite er dem jungen Kollegen, »dass er eine sehr gute Carriere machen wird, ohne viel danach zu streben.«
Aus dem Mediziner wurde ein Archäologe
Und Felix von Luschan machte Karriere. Bereits während seines Medizinstudiums betreute er die Sammlung der Wiener Anthropologischen Gesellschaft. 1878, im Jahr seiner Promotion zum Doktor der gesamten Heilkunde, nahm er, gerade mal 24 Jahre alt, als offizieller Vertreter Österreichs an einem Anthropologenkongress teil, der anlässlich der Weltausstellung in Paris stattfand. An der Medizinischen Fakultät der Universität Wien habilitierte er sich 1882 in »Physischer Ethnographie« mit einem Vortrag über »Die physischen Eigenschaften der wichtigsten Menschenracen«, den er mit der für seine Epoche doch erstaunlichen These schloss, dass »alle Raceunterschiede nur bedingt sind durch die Verschiedenheit physikalischer Einwirkungen auf ursprünglich gleichartige Menschen«. Dieser Auffassung blieb er ein Leben lang treu. Zwei Jahre vor seinem Tod veröffentlichte Felix von Luschan ein populärwissenschaftliches Büchlein mit dem Titel »Völker, Rassen, Sprachen«. Darin fasste er die Erkenntnisse seiner lebenslangen Forschung in zehn Punkten zusammen. Allen voran: »Die gesamte Menschheit besteht nur aus einer einzigen Spezies: Homo sapiens.« Sowie: »Es gibt keine ›wilden‹ Völker, es gibt nur Völker mit einer anderen Kultur als die unsere.«
»Wenn wir feststellen, dass Schädel aus einem Unrechtskontext stammen, müssen wir eine angemessene Lösung finden«Bernhard Heeb, Kustos am Museum für Vor- und Frühgeschichte Berlin
Während seiner rund fünf Jahrzehnte dauernden Laufbahn als Wissenschaftler war Felix von Luschan als Arzt, Anthropologe, Archäologe, Ethnograf, Urgeschichtler, Linguist, Musikforscher und natürlich Museumsleiter in Personalunion tätig. Dabei machte er selten »wissenschaftliche Männchen«. Doch mit einer Beobachtung lag Otto Benndorf schon richtig: Sein Assistent sammelte tatsächlich alles. Das Wiener Weltmuseum, einst als Museum für Völkerkunde bekannt, besitzt allein von der ersten archäologischen Expedition nach Lykien 1881 insgesamt 59 Objekte, die der Arzt und Ethnograf heimgebracht hatte. Darunter Kleidungsstücke, Werkzeuge, Hufbeschläge, Gefäße aus Holz und Ton sowie Schmuckstücke. Darüber hinaus legte Luschan umfangreiche Sammlungen der lykischen Flora und Fauna an, die er den zuständigen Wiener Stellen übergab. So kündigte er dem Direktor des k. u. k. naturhistorischen Hofmuseums von der Expedition des folgenden Jahres brieflich »einige Gläser mit allerhand Getier« an. Die eingelegten Salamander, Schlangen und Skorpione lagern heute noch in den verschiedenen Sammlungen des Museums.
Luschan brachte von diversen Ausgrabungen auch archäologische Objekte mit. 1936 übergab seine Witwe Emma von Luschan (1864–1941) über 60 Stücke aus dem Nachlass ihres Mannes an das Wiener Institut für Klassische Archäologie. Darunter befanden sich zyprische Gefäße aus dem 2. Jahrtausend v. Chr., mykenische Kannen, eine korinthische Trinkschale, Lampen aus hellenistischer und römischer Zeit, ein Widderkopf aus Terrakotta sowie eine lebensgroße Hand aus Marmor. Luschan hatte die Objekte aus dem Fundzusammenhang genommen und über Jahrzehnte in der Villa Felicitas aufbewahrt, dem idyllischen Feriendomizil der Eheleute am Millstätter See in Kärnten.
Besessener Schädelvermesser
Geheiratet hatte er Emma von Hochstetter 1885. In diesem Jahr trat Luschan seinen Dienst am Museum in Berlin an. Der Posten in der deutschen Hauptstadt bot ihm Möglichkeiten, von denen er in seiner Heimat nicht hätte träumen können. Im Gegensatz zu Österreich verfügte das Deutsche Reich über Kolonien – und hatte damit Zugriff auf einen immensen Vorrat an ethnografischen Sammelobjekten. Mit seiner Frau, der Tochter des damals weltberühmten österreichischen Forschungsreisenden Ferdinand von Hochstetter (1829–1884), hatte Luschan eine aktive Unterstützerin seiner Arbeit gefunden. Sie fertigte beispielsweise die unzähligen »Typenfotografien« an: Es waren Porträt- und Profilaufnahmen jener Personen, deren Körper und Schädel sie und ihr Mann vermaßen.
Luschan hatte eine ganze Menge Schädel vermessen – auf dem Balkan, in Kleinasien oder in Nordamerika. »Frau von Luschan und ich arbeiten immer zusammen«, schrieb er 1915 während einer Vortragsreise durch die USA. »Wir können acht Stunden am Tag arbeiten und vermessen drei bis fünf Männer oder Frauen pro Stunde, könnten also täglich 30 bis 40 untersuchen.«
Die Schädel der Lebenden vermaß, jene der Toten hortete er. »Wo es ihm möglich war, versuchte er, Teile von Skeletten, vor allem Schädel, zu erwerben«, erklärt der Wiener Archäologe Hubert Szemethy. Auch hier erwies sich das Netzwerk aus Missionaren und ehemaligen Studenten im Kolonialdienst als nützlich. Seine Kontakte sandten ihm kistenweise Gebeine und Schädel. Von Luschan verfügte über eine viele tausende Stücke zählende Sammlung aus aller Welt und hatte nicht genug: »Sehr erwünscht wären uns auch Schädel aus Benin, von denen die Engländer 10 000 Stück vergraben haben sollen«, hatte er schon 1897 kurz nach dem britischen Überfall an den deutschen Konsul in Lagos geschrieben.
Toxisches Erbe?
Heute befinden sich noch knapp 5500 Schädel aus Felix von Luschans Sammlung in Berlin, genauer im dortigen Museum für Vor- und Frühgeschichte (MVF). Darunter sind einige aus archäologischem Zusammenhang, aus dem alten Ägypten oder von frühmittelalterlichen Gräberfeldern in Europa. Jene aber, die zu einem wesentlichen Teil aus den damaligen deutschen Kolonien in Afrika und dem Pazifikraum nach Berlin kamen, sind höchst problematisch. Woher die einzelnen Schädel genau stammen, wann sie unter welchen Umständen von wem in ihren Herkunftsländern für das Museum erworben wurden, ist kaum noch festzustellen.
Bernhard Heeb, Kustos am MVF, betreibt Forschungen zur Provenienz menschlicher Überreste aus kolonialem Kontext und ist daher von Berufs wegen mit der Schädelsammlung befasst. »Wenn wir feststellen, dass Schädel aus einem Unrechtskontext stammen, müssen wir eine angemessene Lösung finden«, sagte er in einem Presseinterview 2017 der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Allerdings befänden sich nach aktuellem Kenntnisstand keine solchen Schädel in der Luschan-Sammlung. Falls doch noch solche auftauchen sollten, etwa aus Exekutionen durch Kolonialherren, wären sie wohl ein noch weit toxischeres Erbe der Kolonialzeit als die Beninbronzen.
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