Fentanyl: Der billige, tödliche Rausch
Broadway, New York. Nicht dort, wo die Shows stattfinden, sondern am Rand des Stadtteils Bushwick im nördlichen Brooklyn. Die U-Bahn fährt hier oberirdisch und rattert gerade über die mehrspurige Straße ins schicke Manhattan. Eine Mülltonne ist umgekippt, langsam schiebt ein Mann einen mit Habseligkeiten vollgepackten Einkaufswagen daran vorbei. Der Eingang des »After Hours Project« findet sich unscheinbar in einer Häuserzeile. Direkt hinter der Tür führt eine Treppe in den ersten Stock hinauf. Sie endet in einem Warteraum, der aussieht wie der einer Arztpraxis. Am Empfang fragt eine Frau nach dem Namen.
Gegründet wurde das After Hours Project vor etwas mehr als 20 Jahren von Fernando Soto, einen New Yorker Soziologen, der schon in den 1990er Jahren saubere Spritzen an Drogenabhängige in der Bronx verteilte. Sein Anliegen: die Ausbreitung von HIV in einkommensschwachen Vierteln einzudämmen und Drogenkonsumierende, Sexarbeiterinnen oder Wohnungslose auch außerhalb normaler Geschäftszeiten mit Gesundheitsleistungen zu unterstützen. Noch immer ist Soto der Geschäftsführer der gemeinnützigen Organisation, die heute fast 30 Mitarbeitende hat.
Eine von ihnen ist seit vier Jahren Elena Rotov. Sie unterstützt Menschen mit HIV und Hepatitis C, koordiniert beim After Hours Project aber auch das Überdosispräventionsprogramm. Die Zahl der Menschen, die in den USA jedes Jahr an einer Überdosis sterben, steigt in letzter Zeit bedenklich an. Zählten die US-Behörden 2011 noch 41 340 Tote, waren es zehn Jahre später schon 106 699, das sind rund 292 Menschen pro Tag.
2022 haben 81 Prozent der Drogentoten in New York Fentanyl konsumiert
In New York ist die Lage besonders bedenklich. Im Jahr 2022 starben 3026 Menschen durch Drogen – zwölf Prozent mehr als im Vorjahr und ein trauriger Rekord seit Beginn der Aufzeichnung im Jahr 2000. 2022 hatten 81 Prozent der Drogentoten in New York Fentanyl konsumiert. Wie eine Studie zeigt, nehmen nur 18 Prozent der Konsumenten Fentanyl wissentlich. »Als Fentanyl auf den Markt kam, ist die Anzahl der Todesfälle messbar angestiegen«, bestätigt Rotov, die selbst eine nahestehende Person durch eine Überdosis verloren hat.
Auch in Deutschland wächst die Zahl der Drogentoten seit einigen Jahren wieder stetig an. Rund 2000 Menschen starben 2022 durch den Missbrauch illegaler Drogen, etwa neun Prozent mehr als im Vorjahr. Die meisten Todesfälle sind dabei auf Heroin und Morphin zurückzuführen. Spielt Fentanyl hier zu Lande also nur eine untergeordnete Rolle? Warum sind dann deutsche Suchtexperten und Beratungsstellen alarmiert? Und was macht Fentanyl überhaupt so unberechenbar und gefährlich?
Bis zu 100-mal stärker als Heroin
Fentanyl, ein synthetisches Opioid, ist eines der stärksten Schmerzmittel der Welt und gilt bei Narkosen oder fortgeschrittenen Krebserkrankungen als unentbehrliches Mittel. Als Injektion, Nasenspray oder Pflaster verabreicht, dämpft es unerträgliche Schmerzen und wirkt stark beruhigend.
»Hier ist es kaum noch möglich, Heroin ohne Fentanyl zu bekommen«Elena Rotov, Mitarbeitende des After Hours Project
Was in der Medizin ein Segen ist, wird in der Drogenszene allerdings zunehmend zum Fluch. Denn Fentanyl wirkt 50- bis 100-mal stärker als Heroin. Seine Dosierung ist für Menschen, die Drogen konsumieren, nur schwer zu kontrollieren – schon Mengen, die ein paar Salzkörnchen entsprechen, können tödlich sein. Manche konsumieren Fentanyl auf Grund der stark sedierenden Wirkung ganz bewusst. Andere wiederum wissen gar nicht, dass die Drogen, die sie gekauft haben, das tödliche Mittel enthalten: Drogenköche mischen ihrem Stoff immer häufiger billiges Fentanyl bei, weil sie so mehr Umsatz machen. Im Glauben, Heroin, Kokain, Crack, Methamphetamin, Ketamin oder Ecstasy zu konsumieren, nehmen Abhängige das Mittel teils unwissentlich und bringen sich damit in Lebensgefahr.
»Hier ist es kaum noch möglich, Heroin ohne Fentanyl zu bekommen«, berichtet Elena Rotov. Die Stadt New York hat inzwischen Maßnahmen ergriffen, um Überdosen vorzubeugen, unter anderem mit Fentanyltests. Zehntausende Teststreifen, mit denen sich Drogen vor dem Gebrauch auf das synthetische Opioid prüfen lassen, hat das New Yorker Gesundheitsamt bereitgestellt. Zusätzlich bietet es regelmäßig Schulungen an, in denen Menschen lernen, ihre Drogen selbst auf Fentanyl zu untersuchen. »Bei einem positiven Test können die Leute dann weniger oder langsamer konsumieren«, erklärt Elena Rotov. »Wollen sie das nicht, sollten sie zumindest dafür sorgen, dass sie nicht allein sind, wenn sie ihre Drogen konsumieren. Damit jemand da ist, der ihnen im Fall einer Überdosis helfen kann.«
Wie verbreitet ist Fentanyl in Deutschland?
Während die Fentanylkrise in den USA dramatisch ist, registrierten deutsche Behörden im Jahr 2021 lediglich 102 Todesfälle im Zusammenhang mit dem Opioid. Diese Zahl scheint vergleichsweise gering – doch die tatsächliche Lage ist unübersichtlich. Denn die in Deutschland verfügbaren Statistiken zu Drogentoten bilden womöglich nicht die Realität ab. Zwar bewertete der Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen Burkhard Blienert schon die Zahl von 1990 Drogentoten in Deutschland im Jahr 2022 als »schockierend und alarmierend«. Gleichzeitig heißt es in derselben Pressemitteilung, die Aussagekraft der Daten sei allerdings »begrenzt und fehleranfällig«. Das liege an unterschiedlichen Erfassungsmethoden in den Ländern und erschwere eine wissenschaftliche Aussage.
Um die Verbreitung von Fentanyl hier zu Lande besser einschätzen zu können, hat die Deutsche Aidshilfe im Frühjahr 2023 das vom Bundesgesundheitsministerium geförderte Projekt »Rapid Fentanyl Tests«, kurz RaFT, gestartet. In Drogenkonsumräumen (siehe »Was ist ein Drogenkonsumraum?«) in fünf Bundesländern wurde so mitgebrachtes Heroin möglichst vor dem Gebrauch auf das Opioid Fentanyl getestet.
»In Berlin scheint Fentanyl noch gar kein Thema zu sein, in Hamburg jedoch schon«Maria Kuban, Deutsche Aidshilfe
Zwischen März und August 2023 waren 5000 Tests geplant. Am Ende seien aus den 17 Konsumräumen, die sich an dem Projekt beteiligten, 2700 Testergebnisse zusammengekommen, berichtet Maria Kuban, die RaFT-Projektleiterin von der Deutschen Aidshilfe. »Die Auswertung steht noch aus, aber vereinzelt gab es positive Ergebnisse.« Zudem hätten sich regionale Schwerpunkte abgezeichnet: »In Berlin scheint Fentanyl noch gar kein Thema zu sein, in Hamburg jedoch schon. Und in einigen westdeutschen Städten.« In Hamburg ist die Zahl der Drogentoten 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 26 Prozent gestiegen – 96 Menschen starben.
Was ist ein Drogenkonsumraum?
In Drogenkonsumräumen können Menschen mitgebrachte Drogen sicher konsumieren. In dem geschützten Raum leistet geschultes Personal im Notfall Erste Hilfe und stellt steriles Spritzbesteck, Handschuhe, Tupfer oder Pflaster zur Verfügung. Es gibt Möglichkeiten, sich zu Hilfsangeboten beraten zu lassen. Der weltweit erste Konsumraum entstand in Bern in der Schweiz. Deutschlands erster Konsumraum eröffnete 1994 in Hamburg, heute gibt es hier zu Lande 31 solche Orte. 17 Konsumräume aus sieben deutschen Städten beteiligten sich an dem RaFT-Projekt der Deutschen Aidshilfe.
Dass illegal hergestelltes Fentanyl wie in Kanada Heroin vom Markt verdrängt, davon sei Deutschland allerdings weit entfernt, versichert Projektleiterin Kuban: »Zum heutigen Zeitpunkt deutet sich so eine Situation hier nicht an, es gibt keinen Grund zur Panik, was Fentanylbeimengungen angeht.« Alles halb so schlimm also? So einfach ist es laut Kuban auch wieder nicht: »Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass Drogen vor Ländergrenzen Halt machen, sondern sollten vorbereitet und wachsam sein.« Zumal es aus Händlerperspektive durchaus attraktiv sei, Fentanyl in Länder zu exportieren, in denen Heroin konsumiert wird: »Man benötigt für die gleiche Wirkung viel weniger und muss statt 100 Kilo nur noch ein Kilo schmuggeln. Dadurch öffnen sich ganz andere Vertriebswege.« Auf europäischer Ebene gab es deshalb schon das SO-PREP-Projekt, in dessen Folge sich die Länder auf synthetische Opioide vorbereiten sollten.
Perspektivisch wäre es schön, sagt Kuban, wenn Menschen, die Drogen konsumieren, auch in Deutschland einen Schnelltest mit nach Hause nehmen könnten, um ihre gekaufte Substanz vor dem Gebrauch selbst auf Beimengungen von Fentanyl zu testen. Oder wenn man ihnen oder ihren Angehörigen wie in den USA ein Gegenmittel zur Verfügung stellen würde.
Ein Nasenspray als rettendes Gegenmittel
In New York tragen Polizei und Feuerwehr das Mittel Naloxon für Notfälle schon seit Jahren mit sich. In diesem Jahr ist es in den USA noch einfacher geworden, an das Fentanyl-Gegenmittel zu kommen: Für 40 Dollar ist ein Nasenspray mit Naloxon rezeptfrei in Apotheken erhältlich. Der Wirkstoff hebt die Wirkung von Fentanyl binnen weniger Minuten auf, indem er dessen Andockstellen an den Nervenzellen im Gehirn blockiert. Im Fall einer Überdosis rettet Naloxon Leben. »Die Anwendung ist supereinfach und das Mittel hat quasi keine Nebenwirkungen«, sagt Elena Rotov vom After Hours Project. Auch bei ihnen kann man das Mittel bekommen. Sie zeigt ein Naloxon-Erste-Hilfe-Set des New Yorker Gesundheitsamts. Selbst wenn die bewusstlose Person, die man retten will, gar keine Drogen genommen hat, schade ihr das Naloxon nicht, sagt sie. »Die Hemmschwelle, es anzuwenden, ist also gering.«
Naloxon verdrängt das Opioid für 30 bis 90 Minuten von den Andockstellen. »Die Person mit der Überdosis muss daher nach der Anwendung weiter überwacht werden, falls es auf Grund einer sehr hohen Fentanyldosis zu einem Rückfall kommt, wenn die Naloxon-Wirkung nachlässt«, so Rotov. Außerdem sollte man immer auch den Notarzt rufen. Weder die Person mit der Überdosis noch die, die den Notruf gewählt hat, hätte dabei wegen der illegalen Drogen Konsequenzen zu befürchten: »Bei uns gilt das Gute-Samariter-Gesetz, das beide schützt«, so Rotov, die Naloxon-Nasenspray immer für Notfälle in der Tasche hat.
»Als man damals Rettungsringe an Brücken gehängt hat, sind ja auch nicht mehr Leute runtergesprungen«Maria Kuban, Deutsche Aidshilfe
In Deutschland ist die Lage anders: Naloxon ist hier zu Lande verschreibungspflichtig »Wir dürfen es nicht einfach so verteilen«, berichtet Kuban. Das Festhalten an der Verschreibungspflicht sei für sie kaum nachvollziehbar, so die Projektleiterin: »Naloxon hat keine Wirkung, außer die Opiate von den Rezeptoren zu lösen. Befinden sich keine Opiate im Körper, ist das Mittel wirkungslos.« Wie Rotov sagt sie, dass das Nasenspray für Laien zur Ersten Hilfe einfach anzuwenden, sicher und hochwirksam sei. Kuban wünscht sich in diesem Punkt »mehr Unterstützung von ärztlicher Seite«, um Naloxon von der Rezeptpflicht zu befreien. Vorbehalte, die Freigabe könnte einen risikofreudigen Umgang mit Drogen fördern, hält sie für Quatsch: »Dafür gibt es keine wissenschaftlichen Beweise. Als man damals Rettungsringe an Brücken gehängt hat, sind ja auch nicht mehr Leute runtergesprungen.«
Einen Nachteil hat das Gegenmittel allerdings doch: Nach der Anwendung kann es vorkommen, dass die Geretteten Entzugserscheinungen entwickeln und deshalb sofort wieder Drogen konsumieren wollen – mit der großen Gefahr einer Überdosis, sobald die Wirkung des Gegenmittels nachlässt. »Deshalb ist es sehr wichtig, nach dem Einsatz des Nasensprays einen Krankenwagen zu rufen und die Person nicht allein zu lassen«, so Kuban.
Am besten wäre natürlich, Überdosen durch Fentanyl von vornherein vorzubeugen, so dass Naloxon als Notfallmittel gar nicht erst nötig wird. Mit Tests zum Beispiel. Kuban wünscht sich, dass diese in Deutschland in Zukunft flächendeckend zur Verfügung stehen: »sowohl dort, wo das Modell als Regelversorgung weitergeführt wird, als auch in Bundesländern, in denen es keine Konsumräume gibt und Menschen auf Take-Home-Lösungen angewiesen sind.«
Die nächste Krise?
In New York City ist man längst einen Schritt weiter: Die Mitarbeitenden des After Hours Project in Brooklyn geben täglich Teststreifen aus und haben so vermutlich schon zahlreiche Menschen vor einer tödlichen Überdosis bewahrt. Sorgen bereitet dem Team allerdings die nächste Substanz: »Xylazin ist auf dem Vormarsch und in Philadelphia bereits verbreitet«, berichtet Elena Rotov und meint ein Beruhigungsmittel für Pferde, gegen das es derzeit kein Gegenmittel gibt. Die in der Szene »Tranq« genannte Droge wirkt stark sedierend und verursacht schwere Hautschäden, deshalb wird sie auch als »Zombie-Droge« bezeichnet. »Das ist sehr beängstigend«, sagt Rotov, »und nach der Opioidkrise wohl die nächste Gesundheitskrise, die uns bevorsteht.«
Was tun bei einem Drogennotfall?
- Ruhe bewahren und nach Möglichkeit weitere Menschen um Hilfe bitten;
- die hilflose Person auf keinen Fall allein lassen und versuchen, beruhigend auf die hilfsbedürftige Person einzuwirken, etwa durch ruhiges Reden, sanftes Streicheln oder einfach Körperkontakt durch Auflegen der Hand;
- Person möglichst wach halten, zum Beispiel mit nassen Tüchern im Nacken;
- für eine geschützte Umgebung sorgen, das heißt Gegenstände entfernen, an denen man sich verletzen könnte, auf die Risiken bei erneutem Substanzkonsum hinweisen und »Nachlegen« möglichst verhindern;
- betroffene Person an den Rettungsdienst übergeben und über die durchgeführten Maßnahmen berichten.
- Ist die Person nicht ansprechbar und auch nicht durch leichtes Schütteln an den Schultern zu wecken? Dann ist sie bewusstlos – unbedingt unter 112 den Rettungsdienst rufen und Sofortmaßnahmen einleiten.
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