Fischsterben in der Oder: Fischsterben an der Oder könnte sich wiederholen
Gemächlich schiebt sich die Oder bei Schwedt talwärts. Auf beiden Uferseiten begleiten saftige Wiesen den breiten Strom. Von Schilf gesäumte Altarme voller Seerosen durchziehen die Aue. Am Wasser wimmelt es vor Reihern, Seeschwalben und Möwen: Auf den ersten Blick ist der deutsch-polnische Grenzstrom im Bereich des Nationalparks Unteres Odertal wieder die Idylle, die er vor der größten ökologischen Katastrophe seiner Geschichte war.
Vor knapp einem Jahr sah es hier ganz anders aus. Dort, wo sich heute weiße Schönwetterwolken im Fluss spiegeln, erstreckte sich im August vergangenen Jahres ein dichter Teppich aus toten Fischen. Wo heute Angler in ihren Campingstühlen am Fluss dösen, zogen vor ein paar Monaten Freiwillige bei sengender Hitze in Schutzkleidung bis zur Erschöpfung stinkende Fischkadaver aus dem Wasser. Am Ende sollten es fast 400 Tonnen Fisch sein, die der Katastrophe zum Opfer fielen – nach Berechnungen des Berliner Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) rund die Hälfte des Lebens auf einem 500 Kilometer langen Abschnitt des Stroms.
Ein Jahr danach gilt die Ursache der Umweltkatastrophe als weitgehend geklärt. Ein deutscher Expertenbericht, eine Auswertung durch polnische Behörden und eine Analyse der EU-Kommission kommen zu dem Ergebnis, dass eine Massenblüte der Goldalge Prymnesium parvum der unmittelbare Auslöser des gigantischen Fisch- und Muschelsterbens war.
Die Alge wars – der Mensch ist schuld
Die Alge erzeugt bei ihrer Blüte eine für Fische und andere Wasserorganismen tödliche toxische Substanz. Ein natürlicher Vorgang ist die Algenblüte dennoch nicht. Denn damit es zu einem solchen Ereignis kommt, ist das Zusammenspiel verschiedener Faktoren nötig. Ein niedriger Wasserstand und hohe Wassertemperaturen durch einen heißen und niederschlagsarmen Sommer begünstigen das Algenwachstum ebenso wie eine hohe Nährstoffbelastung durch die Landwirtschaft.
Vor allem aber bedarf es einer hohen Salzkonzentration. Denn die Goldalge besiedelt natürlicherweise nur Brackwasser – eine Mischung aus Salz- und Süßwasser, wie es in Mündungsgebiete von Flüssen in das Meer entsteht. In das natürliche Ökosystem der Oder gehört die Goldalge nicht hinein, sie ist eine invasive Art. Die Alge konnte sich den Fluss nur deshalb als Lebensraum erobern, weil er exzessiv versalzen war, wie es EU-Umweltkommissar Virgenius Sinkevicius drastisch formuliert.
Dieser Befund ist hochpolitisch. Denn für den hohen Salzgehalt sind von den Behörden genehmigte Einleitungen salzhaltiger Abwässer aus dem südpolnischen Kohlerevier und aus der Kupferindustrie am Mittellauf des Flusses verantwortlich. Diese ökonomisch bedeutende Industrie will die nationalkonservative Regierung in Warschau aber keinesfalls mit strengeren Auflagen belasten – schon gar nicht im laufenden Wahlkampf.
Der polnische Untersuchungsbericht zur Oder-Katastrophe betont deshalb vor allem die große Bedeutung anderer Faktoren als den Salzgehalt für das Zustandekommen der giftigen Algenblüte. »Die Kumulation von Faktoren wie Nährstoffverfügbarkeit, hohe Wassertemperatur, verlangsamte Strömung, lang anhaltender Niederschlagsmangel, der zu niedrigen Wasserständen und erhöhte Leitfähigkeit führt, können potenzielle Auslöser für das Auftreten von von Massenalgenblüten, insbesondere von Prymnesium parvum sein«, heißt es darin. Auch die nationalkonservative Umweltministerin Anna Moskwa betont immer wieder: »Es geht nicht ausschließlich um den Salzgehalt.« Neuerdings wird auf polnischer Seite sogar die These eines zweiten Stamms oder einer Mutation der Goldalge vertreten, die auch ohne stark erhöhten Salzgehalt blühe.
Auf deutscher Seite wächst der Unmut über solche Versuche, die Bedeutung der Salzeinleitungen bis hart an den Rand des Zulässigen zu relativieren und damit die Bergbauindustrie aus der Schusslinie zu nehmen. Denn wissenschaftlich gibt es keinen Zweifel daran, dass das Salz die entscheidende Rolle bei der Entstehung der Algenblüte spielt. »Die Salzbelastung ist die Achillesferse der Goldalge«, stellt etwa Martin Pusch vom Berliner IGB klar. »Sobald sie auf ein Niveau heruntergefahren wird, das nicht weit entfernt ist vom natürlichen Salzgehalt der Oder, werden wir die Goldalge von einem Tag auf den anderen nicht mehr im Fluss haben.«
Der Unmut wächst, weil die Zeit drängt
Auch politisch wird der Ton schärfer. Der brandenburgische Umweltminister Axel Vogel warf der polnischen Regierung vor wenigen Tagen vor, mit der Theorie über einen weiteren Algenstamm Nebelkerzen zu zünden. Die Debatte wird auch deshalb rauer, weil die Zeit drängt. Denn die Gefahr, dass sich die Katastrophe des vergangenen Jahres schon in den nächsten Wochen wiederholen könnte, ist enorm. Die Indikatorwerte für eine hohe Salzkonzentration liegen bereits vor der erwarteten Hitzewelle im Hochsommer in diesen Tagen auf dem Niveau, das vor zehn Monaten zur Katastrophe geführt hat.
Gleiches gilt nach Wochen ohne Regen und mit steigenden Außentemperaturen für den Wasserstand und die Wassertemperatur. Das Brandenburger Landesumweltamt präsentiert den ökologischen Zustand des Flusses tagesaktuell in Form zahlreicher Diagramme, die wie Fieberkurven eines schwerkranken Patienten anmuten. Noch einmal verschärft hat sich die Lage in der vergangenen Woche als in zwei Oder-Seitenkanälen bei Gleiwitz eine halbe Tonne toter Fische geborgen werden mussten. In beiden Fällen wurde auch die Goldalge nachgewiesen.
»Sämtliche Zutaten für eine Wiederholung der Katastrophe sind vorhanden«Sascha Maier, Gewässerexperte des BUND
»Alle Alarmlichter blinken tiefrot«, sagt auch Sascha Maier. »Extremer Salzgehalt, Niedrigwasser und hohe Temperaturen: Sämtliche Zutaten für eine Wiederholung der Katastrophe sind vorhanden«, warnt der Gewässerexperte des Naturschutzverbandes BUND. »Die Zeit für Verzögerungstaktik und Ablenkungsmanöver muss vorbei sein«, sagt Maier, der auch für ein breites Bündnis aus deutschen und polnischen Naturschutzverbänden spricht, das sich unter dem Namen »Lebendige Oder« zusammengeschlossen hat. Weil man weder die Temperaturen noch den Niederschlag beeinflussen könne und die Alge sich inzwischen im Ökosystem der Oder festgesetzt habe, bleibe die Reduzierung der Salzfracht die einzige Stellschraube, um eine Wiederholung der Katastrophe noch zu verhindern. Die Naturschützer fordern deshalb als Sofortmaßnahme ein Moratorium weiterer Salzeinleitungen.
Bei Bundesumweltministerin Steffi Lemke rennen sie damit offene Türen ein. »Uns eint die Sorge, dass sich die Katastrophe wiederholen könnte und wir spüren, dass die Bevölkerung von uns erwartet, dass wir es schaffen, eine neue Katastrophe zu verhindern«, sagte sie vor einigen Tagen bei einem Treffen mit ihrer Kollegin Moskwa. Zwar sei vollkommen klar, dass keine Bergbauindustrie von heute auf morgen ihre Produktion einstellen könne, zeigte sie Verständnis für Polens Dilemma. »Aber wenn wir eine Wiederholung der Katastrophe verhindern wollen, dann ist es notwendig, dass zumindest im Sommer bei hohen Temperaturen und niedrigen Wasserständen die Einleitungen reduziert oder eingestellt werden.«
Fortschritte – aber die falschen
Bei der polnischen Regierung stößt sie mit dieser Forderung auf Beton. Auch Deutschland setzte schließlich seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wieder verstärkt auf Kohle als Energieträger, konterte Moskwa. Und während Polen nur ein Kohlekraftwerk an der Grenzoder betreibe, seien es auf deutscher Seite sieben, ließ Moskwa ihre deutsche Kollegin abblitzen. Dass aus Deutschland aber kein Salz in die Oder eingeleitet wird, ließ sie unerwähnt. Stattdessen verwies die Ministerin auf das vorbildliche Gewässermonitoring, das in Polen inzwischen aufgebaut worden sei und auf ein geplantes Milliardenprogramm zum Bau von Kläranlagen.
Tatsächlich hat es ein Jahr nach der Katastrophe auch Fortschritte gegeben. Meldeketten und der Informationsaustausch zwischen Regierungen und Behörden beider Seiten wurden überarbeitet, das Monitoring des Flusses auf Schadstoffe wurde verbessert. In den Städten und Dörfern entlang der Oder gibt es jetzt Vorräte an Schutzkleidung, Booten und anderem Material, um tote Fische nach einem neuerlichen Massensterben möglichst rasch zu bergen: Die Verbesserungen betreffen allerdings fast ausschließlich technische Vorkehrungen, um eine Katastrophe nach ihrem Eintreten möglichst gut bewältigen zu können. An den Ursachen für das Fischsterben wurde dagegen kaum etwas geändert, wie auch Lemke diplomatisch kritisiert. »Es ist gut, dass wir ein gutes Messsystem haben und dass der Katastrophenschutz verbessert wurde«, sagt sie. »Aber das Ziel muss ja sein, dass wir die Katastrophe verhindern und keinen Katastrophenschutz brauchen.«
Nicht weniger schwierig als das Ringen um eine Reduzierung der Salzbelastung ist der Versuch, dem immer noch schwer geschädigten Ökosystem des Flusses auch langfristige zu einer Erholung zu verhelfen. Dass dies möglich erscheint, zeigen die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Befischung durch die Experten des IGB vor einigen Wochen. Danach sind die Fischbestände zwar gegenwärtig viel niedriger als in den Vorjahren. Aber keine der vielen in dem Fluss lebenden Arten ist offenbar komplett ausgerottet worden.
Der nächste Konflikt steht bevor
Um dem Grenzstrom dauerhaft eine Chance zur Erholung zu geben, sind nach Überzeugung der allermeisten Wissenschaftler, Politiker und Umweltverbände nun vor allem zwei Dinge nötig. Es gelte zum einen, die möglichst großflächige Renaturierung des Flusses und seiner Auen rasch voranzubringen. Dazu müssen beispielsweise weitere Altarme wieder mit dem Flussbett verbunden und strömungsarme Flachwasserzonen als Kinderstube für die Fische geschaffen werden. Denn dass überhaupt Fische die Algenblüte im vergangenen Jahr überlebt haben, liegt nach Meinung der Experten vor allem daran, dass sie solche Rückzugsräume wenigstens in Ansätzen hatten.
Ebenso wichtig wie Renaturierung ist den Experten zufolge zum anderen der Verzicht auf eine weitere Schädigung des schwer angeschlagenen Ökosystems. Die droht allerdings akut durch den weiteren Ausbau des Flusses. Trotz eines gerichtlich in höchster Instanz nach Klagen von Naturschützern verfügten Stopps werden Ausbaggerungen und Buhnenbau derzeit auf polnischer Seite fortgesetzt, um das Befahren des Flusses mit großen Schiffen zu erleichtern. Auch Deutschland hat sich in einem 2015 geschlossenen deutsch-polnischen Regierungsabkommen dazu verpflichtet, die bessere Schiffbarkeit durch »Unterhaltungsmaßnahmen« auf deutscher Seite sicherzustellen.
Während Polen auf Vertragstreue besteht und den Beginn von Ausbauarbeiten auch auf deutscher Seite anmahnt, versucht Lemke, hier auf die Bremse zu treten. Das Abkommen sei 2015 in einer Zeit geschlossen worden, als die rasanten Auswirkungen des Klimawandels auf das Flussökosystem noch nicht so deutlich gewesen seien, argumentiert sie. Zudem habe die Katastrophe im vergangenen Jahr die Ausgangslage grundlegend verändert. »Wir brauchen eine Pause, in der die Gesundung eines katastrophal geschädigten Ökosystems im Vordergrund stehen sollte«, fordert Lemke.
Ihre polnische Kollegin konterte, das Abkommen sehe nicht vor, dass es aus Gründen des Umweltschutzes ausgesetzt werden könne. Der Widerstand der polnischen Regierung gegen einen Ausbaustopp ist Lemke also sicher. Ob sie allerdings auch Rückendeckung aus der eigenen Koalition dafür hat, ist dagegen ungewiss. Denn zuständig für die Bundeswasserstraße Oder ist nicht Lemke, sondern FDP-Verkehrsminister Volker Wissing. Er hält sich in der Debatte bislang bedeckt.
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