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Corona-Pandemie: »Flächendeckende Schulschließungen nur als allerletztes Mittel«

»Mit steigenden Infektionszahlen wird es auch mehr Fälle an Schulen geben«, sagt Epidemiologe Hajo Zeeb. Im Interview erklärt er, warum er trotzdem dagegen ist, Schulen wieder komplett zu schließen.
Schulkinder mit Mund-Nasen-Schutz

Seit einigen Wochen steigen die Covid-19-Fallzahlen in Deutschland wieder deutlich an. Während sich zu Anfang der Pandemie eher ältere Menschen mit dem Coronavirus infiziert haben, sind nun vor allem Jüngere betroffen. Mit Beginn des neuen Schuljahres kam es bereits zu einigen Ausbrüchen an Schulen und Kitas. Massentests und Quarantäne für mehrere hundert Kinder, deren Familien sowie das Lehr- und Betreuungspersonal waren die Folge. Manche Schulen mussten vorerst wieder schließen. »Schülerinnen und Schüler sind prinzipiell empfänglich für eine Infektion mit Sars-CoV-2 und können andere infizieren«, schreibt das Robert Koch-Institut in seiner aktuellen Empfehlung zu Präventionsmaßnahmen in Schulen. Wäre es also besser, Schulen flächendeckend wieder zu schließen? Nein, meint Epidemiologe Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung in Bremen. Im Interview nennt er Gründe – und erklärt, was beim Schulbetrieb zu Pandemiezeiten wichtig ist.

»Spektrum.de«: Im neuesten Papier des RKI heißt es, »komplette, präventive oder reaktive Schulschließungen« seien zu vermeiden. Stimmen Sie dem zu?

Hajo Zeeb | Der Epidemiologe Hajo Zeeb arbeitet am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen.

Hajo Zeeb: Grundsätzlich ja. Gerade das Wort »komplett« ist hier wichtig. Zu Beginn der Pandemie haben wir ja genauso gehandelt. Da mussten die Schulen dann ad hoc auf digitales Lernen umstellen. Das hat zu einer Menge Problemen und Kollateralschäden geführt. Gleichzeitig ist die Wirkung von Schulschließungen auf das Infektionsgeschehen nur bedingt nachweisbar. Sie sind wahrscheinlich nicht das effektivste Mittel.

Auch wenn die Fallzahlen weiter ansteigen?

Ja. Flächendeckende Schulschließungen sollten wirklich das allerletzte Mittel sein. Da gibt es andere Sachen, die vorher gemacht werden können. Auch in Risikogebieten werden wir nicht in allen Schulen Infektionsfälle haben. Man muss das also schon differenziert sehen. Wenn Schulen ein gutes Hygienekonzept haben und von keinen Fällen berichten, gibt es keinen Grund, sie zu schließen.

Laut einer aktuellen Publikation haben sich bis Ende August weniger als ein Prozent aller Ausbrüche im Land an Schulen ereignet. Denken Sie, der Anteil wird in Zukunft steigen?

Zunächst muss man unterscheiden zwischen Infektionsfällen und Ausbrüchen. Ein Ausbruch bedeutet, es sind mindestens zwei Personen an einer Schule infiziert. Solche Ereignisse nehmen zwar ein bisschen zu, sind aber eher die Ausnahme. Im Moment sind es eher Einzelfälle – zumindest beobachten wir das hier in Bremen so. Ich denke schon, dass es in Zukunft mehr Ausbrüche geben wird. Einzelne Schulen werden immer mal wieder vorübergehend schließen müssen, einfach weil sie erst mal klären müssen, was vor Ort los ist. Mit steigenden Infektionszahlen wird es – wie überall sonst – auch mehr Fälle an Schulen geben. Dass es dort zu einer enormen Häufung kommt, erwarte ich aber nicht. Die Schulen sind – zumindest bisher – nicht der Treiber der Pandemie.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Wie viele Ausbrüche an Schulen hat es denn bisher deutschlandweit gegeben?

In der Publikation, die Sie eben erwähnten, waren 48 Ausbrüche angegeben. Genauere Zahlen dazu habe ich nicht. Solche Erhebungen laufen immer auf Länderebene und müssen dann zusammengeführt werden.

Über wen kommt das Virus denn in die Schulen?

Bisher ist es häufig so gewesen, dass die Infektion über Freizeitaktivitäten der Schüler oder aus den Familien, etwa durch Familienfeiern, hereingetragen wurde.

Wie gut ließen sich die Ausbrüche bisher kontrollieren?

Wenn im sozialen Umfeld der Schüler Fälle bekannt waren und diese vom Gesundheitsamt an die Schule gemeldet wurden, konnte diese sofort reagieren, etwa Testungen durchführen und bestimmte Personen oder Klassen in Quarantäne schicken. So ist es oft gelungen, weitere Ansteckungen zu vermeiden. Das hat aber nicht immer funktioniert. An der Heinrich-Hertz-Schule in Hamburg gab es zum Beispiel mehr als 30 Fälle.

»Die Schulen sind – zumindest bisher – nicht der Treiber der Pandemie«
Hajo Zeeb

An ebenjener Schule sowie einer in Gießen gab es offenbar Infektionsketten innerhalb der Schule. Virologen, zum Beispiel Christian Drosten, sagen, sie haben dies erwartet. Sie auch?

Ja klar. Das passiert, wenn der erste Fall – der so genannte Indexfall – nicht frühzeitig erkannt und wenn nicht darauf reagiert wird. Dann kann auch eine Ausbreitung innerhalb der Schule stattfinden. Ich erwarte auch, dass das weiterhin passiert. Davon muss man ausgehen. Aber meine Wahrnehmung ist: Die Schulen stellen sich dementsprechend auf. Sowohl beim Lehrpersonal als auch unter den Schülern wird eine große Aufmerksamkeit generiert. Man ist sehr vorsichtig.

Laut Studien haben Kinder ebenso viele Viren im Rachen wie Erwachsene. Übertragen sie das Virus nun genauso häufig oder nicht?

Es gibt inzwischen umfangreiche neue Daten aus Indien, die zeigen, dass Kinder unter 14 Jahren das Virus auch – und vor allem – an Gleichaltrige übertragen. Das ist ja genau das, was wir an Schulen haben: viele Kinder gleichen Alters. Da findet die Übertragung also wahrscheinlich genauso statt wie unter Erwachsenen. Sie werden nur nicht so krank.

»Das Infektionsrisiko von Schülern, Schülerinnen und Schulpersonal lässt sich durch geeignete Maßnahmen minimieren, aber nicht auf null reduzieren«, schreibt das RKI. Wie lassen sich Lehrer und Kinder trotzdem bestmöglich schützen?

Vorsicht ist das A und O. Vor allem, wenn Erkrankungssymptome auffallen. Die Konzepte, die jetzt vorliegen, sehen vor, dass die Klassen bestmöglich voneinander getrennt werden, möglichst auch auf dem Schulhof – da wird es schon schwieriger, gerade bei älteren Schülern. Aber wenn es gelingt, diese Kohortenkonzepte gut umzusetzen, hat die Schulleitung sehr genaue Informationen. Sie kann Verdachtsfälle dann gut eingrenzen und entsprechend reagieren. Allerdings: Sobald der Unterricht zu Ende ist, gehen die Kinder in ihre Freizeit- und Familienumgebung, wo sie sich ebenfalls infizieren und andere anstecken können. Da hat die Schule natürlich keine Chance mehr, bestimmte Gruppen auseinanderzuhalten. Ihr bleibt nur die Möglichkeit, die allgemeinen Regeln immer wieder intensiv mit Schülerinnen und Schülern – und auch den Eltern – zu besprechen.

In Kitas war Singen verboten. Auch wer laut spricht, kann das Virus weiterverbreiten. Wie sollten Unterricht, Kita-Bespaßung und Pausen also gestaltet sein?

Kita-Kinder sind nun mal Kita-Kinder und machen das, was sie wollen. Sie können mal ruhig sein, aber sicherlich nicht den ganzen Tag. Ich denke, man muss da auch mit Augenmaß herangehen. Man sollte vielleicht insgesamt weniger auf Singspiele setzen, und wenn man singen will, auch mal nach draußen gehen und zum Beispiel bei einem Spaziergang singen. Das Ziel ist, die Umstände so zu gestalten, dass das Risiko so gut wie möglich verringert wird. Aber eine Kita ohne Singen, ohne dass die Kinder auch mal rumschreien – das ist aus meiner Sicht nicht möglich und wird dem Konzept auch nicht mehr gerecht. Gerade im Bereich Kita und Kinder muss noch viel diskutiert werden. Man darf nicht nur das Infektionsrisiko im Auge behalten. Wenn man das Leben von Kindern kreativ gestalten will, spielen auch viele andere Dinge eine Rolle, etwa ihre psychische Gesundheit und die Bildungschancen.

Was sagen Sie zum Thema Maskenpflicht?

Das ist ein schwieriges Thema. Masken schränken die Qualität der Interaktion im Unterricht doch erheblich ein. Andererseits können ältere Schüler offenbar ganz gut damit umgehen. Und wir haben auch gesehen, dass weiterführende Schulen eher das Problem sind als beispielsweise Grundschulen, in denen die Infektionszahlen wesentlich niedriger sind. Mehrere Unterrichtsstunden mit Maske – das kann man schon machen. Es ist aber schwierig, vor allem, wenn man dabei auch noch reden soll. Das führt dazu, dass die Maske feucht wird. Gerade im Winter, wo Kinder halt auch mal einen Schnupfen haben. Trotzdem wird das wahrscheinlich eine Maßnahme sein, die man umsetzen wird. In manchen Bundesländern ist die Maske in der Schule ja ohnehin schon Pflicht.

Zum Stichwort Schnupfen: Sollten Kinder mit Erkältungssymptomen nicht ohnehin zu Hause bleiben? Leeren sich die Klassenzimmer dann bald von selbst? Die Kinder können sich ja auch erkälten, wenn – trotz winterlicher Temperaturen – vorschriftsgemäß gelüftet wird.

Ja, das ist schon ein Problem. Eine normale Erkältung ruft meist kein Fieber und diesen starken Husten hervor. Trotzdem ist es für den Laien schwierig, zwischen einer Erkältung und Covid-19 zu unterscheiden. Das obliegt der Einschätzung und der Vorsicht der Eltern, die im Zweifel zügig einen Arzt hinzuziehen sollten. Wenn man unsicher ist, rate ich dazu, erst mal zu Hause zu bleiben, bis man das Testergebnis hat. Schnelltests werden uns da in Zukunft sicherlich helfen.

Sollte an Schulen mehr getestet werden – oder sollten gar Massentests durchgeführt werden?

Das könnte schon sinnvoll sein, aber ich befürchte, dass die Kapazitäten nicht ausreichen werden. Auch die Schnelltests werden nicht in dem Maß zur Verfügung stehen, wie man sie bräuchte, um ganze Schulen regelmäßig zu testen.

Was halten Sie von der Idee, die Winterferien zu verlängern?

Ich denke nicht, dass das sinnvoll ist. Eine Woche zusätzliche Ferien würde uns zwar eine kleine Atempause verschaffen, auf Dauer ist das jedoch keine Lösung. Man kann das ja nicht unbegrenzt hinausschieben. Denn wenn man die Ferien über mehrere Wochen verlängert, hätte man wieder die Situation, dass die Kinder zu Hause sind und die Eltern Schwierigkeiten haben, ihren Alltag zu organisieren. Das entstehende Durcheinander steht einem sehr kleinen Zeitgewinn gegenüber. Ich bin bisher nicht überzeugt davon, dass sich die Maßnahme lohnen würde.

Ist es angemessen, Lehrkräfte – die ja in Deutschland im Schnitt eher älter sind – einer großen Gruppe Kinder ungeschützt auszusetzen?

Das ist schwer zu beurteilen. Die allgemeinen Empfehlungen, möglichst wenig Kontakte zu haben und Gruppen zu meiden, ist in der Situation der Lehrkräfte nicht umzusetzen. Es ist klar, dass viele Lehrer und Lehrerinnen dann für sich selbst abwägen: Nehme ich das Risiko in Kauf? Oder darf ich meine Schüler überhaupt nicht mehr sehen? Darunter leiden beide Seiten. Die Lehrkräfte bedauern ja auch, dass sie mit ihren Schülern nicht so arbeiten können, wie sie es gerne möchten. Für solche, die ein erhöhtes Risiko haben, müssen also entsprechende Lösungen gefunden werden.

Welche?

An vielen Stellen machen die Schulen weiterhin digitale Angebote. Hybride Modelle sind denkbar. Es ist ganz klar, dass ein paar Lehrkräfte für den Präsenzunterricht ausfallen werden. Aber es wäre schon schade, wenn sich ein bedeutender Anteil der Lehrer dauerhaft krankmeldet, weil er zu einer Risikogruppe gehört. Vielleicht muss man vor dem Hintergrund dessen, was man inzwischen über Covid-19 weiß, auch noch einmal neu überlegen. Wer ist wirklich stark gefährdet und muss geschützt werden? Vielleicht sind das gar nicht alle, von denen man das bisher dachte. Es wäre gut, eine klare Handreichung für die Lehrkräfte und die Schulleitung zu haben.

Sie selbst sind ja in Bremen an einem wissenschaftlichen Projekt zur Überwachung des Corona-Infektionsgeschehens an Schulen und Kitas beteiligt. Was wird da gemacht?

In erster Linie beraten wir die Behörden. Gemeinsam mit dem Gesundheitsamt erstellen wir regelmäßig Berichte zum Geschehen an den Schulen und nehmen eine wissenschaftliche Einordnung vor. Wir geben Hinweise, machen Vorschläge und fassen relevante Studien zusammen. Wir haben auch überlegt, eine eigene Studie durchzuführen, etwa große Reihentestungen zu machen. In einer etwas ruhigeren Phase hat das Gesundheitsamt das an zwei Schulen gemacht. Das Personal ist aber momentan außer Stande, Tausende von Schülern regelmäßig – ohne Anlass – zu testen. Zudem ist fraglich, wie sinnvoll das ist. Wenn wir eine ganze Schule testen, werden wir dort wahrscheinlich immer ein oder zwei Fälle finden. Das ist ein Wahnsinnsaufwand mit fraglichem Ertrag. Darum haben wir uns dagegen entschieden.

Was können wir aus den bisherigen Beobachtungen für die nächsten Monate lernen?

Das Thema Lüften wird in den Wintermonaten natürlich schwieriger. In vielen Schulen ist das Öffnen der Fenster die einzige Möglichkeit. Man sollte aber verstärkt darüber nachdenken, in Lüftungsanlagen zu investieren. So wie ich das mitbekommen habe, können solche Anlagen die Aerosole gut filtern und führen zu einer deutlichen Verminderung der Viruskonzentration in der Luft. Lüftungsanlagen zu beschaffen sollte man den Schulen also ermöglichen. Ich denke, bei all diesen Themen ist es wichtig, alle Seiten zu hören. Schulverantwortliche, Gesundheitsamt und Elternvertreter sollten sich zusammensetzen und zu einer gemeinsamen Lösung kommen. Das ist nicht immer einfach und zum Teil neu – etwa, dass das Gesundheitsamt mitmischt. Bisher hatte man wenig Anknüpfungspunkte, und plötzlich muss man eng zusammenarbeiten, da müssen sich alle erst mal zusammenraufen. Es muss auch nicht alles von einem Tag auf den anderen geschehen und immer sofort in einer neuen Maßnahme resultieren. Das führt zu mehr Verwirrung, als es letztlich bringt. Es gibt bereits Stufenpläne, die besagen, wann die Situation wie einzuschätzen ist. Damit zu arbeiten, halte ich für sehr sinnvoll.

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