Flug LANSA 508: Die Frau, die aus 3000 Metern stürzte
Nur etwa eine Stunde brauchte man mit der viermotorigen Turboprop-Maschine für die 500 Kilometer zwischen Lima und der Stadt Pucallpa im Amazonasgebiet. Die gleiche Strecke per Bus oder Auto, einmal quer über die Anden, hätte die Reisenden Tage gekostet. Entsprechend groß war bei vielen die Erleichterung, doch noch einen Flug ergattert zu haben. Es war kurz vor Weihnachten, der 24. Dezember 1971, um die Mittagszeit.
Stunden zuvor hatten sich die Passagiere noch durch das Chaos in der Abfertigungshalle des Flughafens Jorge Chávez gedrängt. Mittendrin und sich mit Ellenbogen den Weg zum Abflugschalter bahnend der Regisseur Werner Herzog mit seinem Filmteam. Er war damals in Peru in der Vorbereitungsphase für seinen Film »Aguirre, der Zorn Gottes« (1972), in dem ein spanischer Konquistador, gespielt von Klaus Kinski, sich auf der Suche nach dem sagenumwobenen Goldland Eldorado durch den Amazonas kämpft. Doch zuerst musste sich Herzog mit der Airline-Mitarbeiterin abmühen. »Ich habe damals 20 Dollar irgendwie an den Schalter gelegt, und die sagte zu uns, ihr seid drauf, ihr seid alle drauf.«
Herzog hatte sich einen Platz auf jener Unglücksmaschine erkauft, die heute vor 50 Jahren, rund 25 Minuten nach dem Start, in der Luft auseinanderbrach und mit 92 Menschen an Bord über dichtem Urwald abstürzte.
»Dann plötzlich um 11 Uhr hieß es, der Flug fällt doch aus«, erzählte der deutsche Meisterregisseur 27 Jahre später in seiner eigenen Dokumentation zu dem Unglück. Wegen Reparaturen hatte sich der Zeitplan verschoben, die Fluglinie entschied sich, die südliche Route nach Cusco ausfallen zu lassen und nur den Pucallpa-Flug nach Norden durchzuführen. Herzog blieb am Boden.
LANSA hatte von drei Maschinen zwei verloren
Doch Juliane Koepcke, eine deutsch-peruanische Abiturientin, freute sich, dass es nun Richtung Pucallpa gehen sollte. Zusammen mit ihrer Mutter hatte sie sich einen der begehrten Plätze in der Unglücksmaschine gesichert. »Wir waren einerseits froh, dass wir diesen Flug noch bekommen hatten«, erzählt sie Herzog knapp drei Jahrzehnte später, »andererseits besorgt und beunruhigt, weil LANSA eine Linie war, die keinen besonders guten Ruf mehr hatte.« Auch Werner Herzog war das bewusst, er hatte sie gewählt, »weil es die billigste war«.
Die peruanische LANSA (Lineas Aéreas Nacionales S.A.) flog seit 1964 vor allem touristische Ziele im Land an. Von ihren drei Maschinen hatte sie in diesen wenigen Jahren schon zwei durch Abstürze verloren. Koepckes Vater hatte seiner Frau und Tochter eindringlich davon abgeraten, mit LANSA zu fliegen, doch die beiden Frauen wollten so schnell wie möglich ins Amazonasgebiet, um, wie Juliane Koepcke erzählt, »mit meinem Vater wenigstens Silvester noch verbringen zu können«. Ihre Eltern waren international bekannte Zoologen, die seit mehr als 20 Jahren in Peru lebten und forschten. Drei Jahre vor dem Unglück hatten sie im Tieflandregenwald Zentralperus die kleine Forschungsstation Panguana gegründet, das Ziel der Reise der beiden Frauen.
In Herzogs Film fährt die Kamera von außen durch die Glastüren der Abflughalle des Flughafens Lima hinein und eröffnet den Blick auf eine Schicksalsgemeinschaft. Denn Herzog und Koepcke trennte vor 50 Jahren nur wenig Glück voneinander. »Ich erinnere mich noch an den Jubel all dieser Passagiere«, erzählt Herzog in seiner Doku, für die er Juliane Koepcke noch einmal an den Schauplatz des Unglücks brachte, »dicht gedrängt alles, auf einmal: ›Wir 92, wir kommen mit, wir schaffen es an Weihnachten nach Hause‹.« Doch als der LANSA-Flug 508 kurz darauf in eine dichte Gewitterfront geriet, verwandelte sich der Jubel in die Schreie, an die sich Koepcke deutlich erinnert. Sie erzählt Herzog davon auf einem Platz mit derselben Nummer sitzend wie damals beim Unglück: 19F, Fensterplatz in der vorletzten Reihe. »Es war wirklich beängstigend, die Wolken strichen geradezu um das Flugzeug, wie lebendige Wesen, es war pechschwarz, pausenlos von Blitzen erhellt.«
»Ein grelles, blendend weißes Licht auf der Tragfläche«
In ihrem 2011 erschienenen Buch »Als ich vom Himmel fiel« beschreibt Koepcke die »unsichtbare Macht«, die an dem Flugzeug rüttelte, »als sei es ein Spielzeug«. Aus den Gepäckablagen, die damals nicht wie heute geschlossen waren, ergoss sich ein »wahrer Regen aus Taschen, Blumen, Paketen, Spielzeug, verpackten Geschenken, Jacken und Kleidern«. Dann sah Koepcke »ein unwahrscheinlich grelles, blendend weißes Licht auf der rechten Tragfläche«. Möglicherweise war es ein Blitz, der in einen der Motoren der rechten Tragfläche einschlug, vielleicht auch eine Explosion in dem durch die Turbulenzen überlasteten Flugzeug.
»Jetzt ist alles aus«, soll Koepckes Mutter neben ihr noch gesagt haben, dann fiel das Flugzeug in einen Sturzflug. »Was ich niemals vergessen werde, waren die Geräusche«, erzählt Koepcke von ihren traumatischen Erlebnissen in einem Podcast-Beitrag Jahrzehnte später, »das irrsinnige Kreischen der Leute in höchster Todesangst zusammen mit dem Brausen der abstürzenden Maschine und dem Dröhnen der Motoren, es füllte meine Ohren total aus.« Medienberichten zufolge verriet der später gefundene Flugschreiber den Ermittlern, dass die Maschine in etwa 3000 Meter Höhe auseinanderbrach. Auf Werner Herzog geht die Formulierung zurück, sagt Koepcke, dass nicht sie das Flugzeug verließ, sondern das Flugzeug sie. Alles um sie herum war vom einen auf den anderen Augenblick nicht mehr da.
»Ich war plötzlich draußen, außerhalb der Maschine und befand mich in der Luft im freien Fall«, sagt sie. »Ich hing mit dem Kopf nach unten, festgegurtet an der Sitzbank und sah den Wald sich unter mir drehen.« Der Gurt habe ihr den Magen zugedrückt und sie habe keine Luft bekommen, während der Wind in ihren Ohren sauste. »Ich sehe den Wald noch unter mir, grasgrün wie Brokkoli«, beschreibt sie das grüne Meer des Dschungels, auf das sie kopfüber zuraste. Kurz darauf muss sie ohnmächtig geworden sein. An den Aufprall auf das dichte Blätterdach des Urwaldes erinnert sie sich nicht.
Koepcke erwacht neben ihrer Sitzbank
Es sind Erinnerungsfetzen, Bruchstücke des Unglücks, die sich aus den Interviews ergeben, die Koepcke auf ihrem Weg der Erinnerungsbewältigung gab. Es sind bemerkenswerte Aussagen eines Menschen, der durch dieses Unglück nicht nur seine Mutter verlor, sondern auch sein bisheriges Leben. Juliane Koepcke, damals gerade 17 Jahre alt, hatte tags zuvor noch ihren Schulabschluss gefeiert. Ein Foto zeigt sie als kleine, zierliche Frau neben einem recht bulligen Klassenkameraden. Eine modische Hochsteckfrisur umrahmt dabei ein offenes, junges Gesicht. Der Kontrast zu dem Gesichtsausdruck der Mitte 40-Jährigen in Herzogs Reportage ist enorm. »Ich bin ein sehr behütetes Mädchen gewesen«, doch durch das Unglück sei sie »schlagartig erwachsen geworden«, erzählt sie im Podcast.
Etwa 20 Stunden nach dem Unglück erwachte Koepcke neben ihrer Sitzbank liegend. Völlig allein und ohne dass sich im dichten Blätterwerk irgendein Zeichen des Absturzes erkennen ließ. »Der Urwald scheint das Flugzeug samt Passagieren einfach verschluckt zu haben«, schreibt Koepcke in ihrem Buch. Tatsächlich hatten sich die Trümmerteile der LANSA-Maschine über eine Strecke von 15 Kilometern dichten Waldes verteilt. Auch geht man davon aus, dass bis zu zwölf Personen den Absturz überlebt hatten. Mehrere der 91 Leichen, die man rund zwei Wochen später fand, wiesen geringe Verwesungsspuren auf, so dass man davon ausgeht, dass die Menschen wohl nach dem Absturz durch ihre Verletzungen bewegungsunfähig waren, wahrscheinlich aber noch tagelang lebten.
Hätten sie gerettet werden können, wenn die Rettungsteams schneller vor Ort gewesen wären? Die Suchflugzeuge waren zehn Tage erfolglos über dem gewaltigen Gebiet gekreist, das von den Anden bis ins Tiefland reichte. Anfang Januar wurde die Suchaktion sogar abgebrochen. Koepckes Vater, der später die Leiche seiner Frau Maria identifizieren musste, ging lange Zeit davon aus, dass sie zu den Überlebenden gehört habe. Einen Umstand, den die Behörden seiner Meinung nach zu vertuschen versuchten. Vor allem weil die sterblichen Überreste seiner Frau bei der Überführung nach Deutschland vertauscht wurden und die Leiche, die er identifiziert hatte, verschwand.
Bäume mit den Habseligkeiten der Opfer geschmückt
Als Wrackteile später doch noch entdeckt wurden, »war es ein dramatisches, erschütterndes Erlebnis«, sagt der Leiter der größten Suchaktion in der peruanischen Luftfahrtgeschichte, Juan Zaplana Ramirez, in Herzogs Dokumentarfilm. »Da sahen wir Bäume voll behängt mit Stücken aus dem Besitz der Reisenden. Koffer hatten sich in der Luft geöffnet, und die Geschenke hingen in den Zweigen wie bei Christbäumen.« Auch viele der Leichen sollen in Bäumen gefunden worden sein.
Koepcke hatte bei der Katastrophe ihre Brille verloren und ihr linkes Auge war zudem zugeschwollen. Doch vor allem durch die Geräusche, die Vogelstimmen nahm sie wahr, dass sie sich in einem Dschungel befand, der dem Panguanas ähnelte. Später stellte sich heraus, dass die Absturzstelle tatsächlich nur etwa 50 Kilometer entfernt von der Forschungsstation ihrer Eltern liegt. Der Umstand, dass Juliane Koepcke schon als Kind ihre Eltern in den Dschungel begleitet und zuletzt anderthalb Jahre in Panguana gelebt hatte, rettete ihr wohl das Leben. Denn nachdem sie weder Tote noch Überlebende der Katastrophe fand noch andere Trümmerteile bemerkte, beschloss sie, dem kleinen Rinnsal einer Quelle zu folgen. Ihr Vater hatte ihr eingeschärft, sollte sie sich jemals im Dschungel verlaufen, müsse sie fließendes Wasser suchen und diesem folgen, da dieses früher oder später auf schiffbare Flüsse und damit zu menschlichen Siedlungen führen würde.
Sie war viel schwerer verletzt, als es ihr im ersten Moment klar sein konnte. Koepcke litt an einer starken Gehirnerschütterung, hatte ein gebrochenes Schlüsselbein und zwei mehrere Zentimeter tiefe Fleischwunden, die aber wohl auf Grund des Schocks nicht bluteten. Sie aß bis auf eine Tüte Bonbons, die sie an der Absturzstelle gefunden hatte, nichts, trank aber viel Wasser. An einem Bach entlang gelangte sie so zu einem Fluss, auf dem sie sich teilweise treiben lassen konnte.
Mit einer Sandale durch den Urwald
Für Koepcke ist der Dschungel nie eine »grüne Hölle« gewesen. Viele Menschen würden die Gefahren des Urwaldes grundsätzlich falsch einschätzen, erklärt sie in Herzogs Dokumentation. Wer dort in Flüssen wate, müsse sich vor Stechrochen in Acht nehmen. Sie seien »viel gefährlicher als die Giftschlangen, Jaguare, Vogelspinnen, vor denen die Leute normalerweise Angst haben«. Sie trug nur noch eine weiße, halbgeschlossene Sandale, mit der sie sich vorsichtig durch das trübe Wasser tastete.
»Es war wie ein Engel, der auf mich zukam«, beschreibt Koepcke ihre Rettung. Tags zuvor hatte sie am Flussufer einen verlassenen Unterstand erspäht und sich apathisch darin niedergelassen. Für die indigenen Kautschuksammler war der Anblick des blonden Mädchens mit den durch den Unfall blutunterlaufenden Augen zuerst ein erschreckendes Erlebnis. Sie erzählten, wie sie dachten, Yacumama gegenüberzustehen, einer mythischen Wassergöttin und einem Hybridwesen aus Delfin und blonder Frau.
Das war am 3. Januar 1972, elf Tage nach dem Absturz. Die Männer versorgten ihre Wunden und brachten sie zu einer Krankenstation, später wurde sie in die Missionsstation Yarinacocha gebracht, wo sie mit ihrem Vater zusammentraf. Gleichzeitig nahmen private und staatliche Flugzeuge wieder die Suche auf. Nun, da sie wussten, wo die Maschine ungefähr abgestürzt sein musste, wurden sie bald fündig.
Wie konnte sie den Sturz überleben?
Es gibt unterschiedliche Erklärungsansätze, wie Juliane Koepcke den Sturz aus 3000 Meter Höhe überleben konnte. Am wahrscheinlichsten ist laut Koepcke eine Kombination aus mehreren davon. So könnten die starken Aufwinde während des Sturms die Fallgeschwindigkeit abgebremst haben; auch könnte die Dreiersitzbank, an der sie hing, wie ein Fallschirm gewirkt haben. Koepcke, die selbst Biologin geworden ist, erklärt das mit dem Vergleich des Trudelns eines Ahornsamens. Schließlich könnte das dichte Lianengewirr an ihrer Absturzstelle den Fall abgefedert haben. »Wahrscheinlich hat es sogar dafür gesorgt, dass der Dreiersitz wieder unter mich geriet und ich dann so wie in einem Boot durch die Lianen und Baumäste durchfiel und relativ sanft auf dem Urwaldboden landete«, schreibt Koepcke.
»Damals«, so Koepcke in ihrem Buch, »rettete mir der Wald das Leben.« Heute hat die promovierte Biologin und ehemalige stellvertretende Direktorin der Zoologischen Sammlung in München die Forschungsstation ihrer Eltern zu einem erfolgreichen Naturschutzprojekt ausgebaut. Sich für Panguana, für den Schutz des Urwaldes, zu engagieren, der ihr damals das »Leben zurückgab« – wie es im Untertitel ihres Buchs heißt –, rückte für sie vor allem nach ihrer Filmreise mit Werner Herzog in den Vordergrund. Herzog nannte seinen Film »Schwingen der Hoffnung«. So heißt auch das Denkmal in Pucallpa, das den Menschen von Flug 508 gewidmet ist, die vor 50 Jahren nicht nach Hause kamen.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.