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Pharmaforschung: Fluor auf dem Vormarsch

Fluorierte Pharmazeutika haben viele Vorteile, doch bisher konnte man sie kaum zielgerichtet herstellen. Jetzt beginnen Chemiker, diese Lücke mit einer Reihe neuer Fluorierungsreaktionen zu schließen. Sie versprechen spezifischere, effektivere Wirkstoffe - und sogar neue Chancen für gescheiterte Medikamente.
Medikament oder Placebo?

Rohypnol hat es, Atorvastatin ebenfalls und das Antibiotikum Ciprofloxacin verfügt ebenfalls darüber: ein Fluoratom in der Molekülstruktur. Diese und viele weitere Substanzen stehen für einen Trend, der die Welt der Medikamente derzeit grundlegend verändert und der nun auch beim Verbraucher anzukommen beginnt: Die systematische Fluorierung von Wirkstoffen. "Dies ist ein bedeutender Wandel für die pharmazeutische Industrie", erklärt der Chemiker Graham Sandford von der Durham University. "Etwa dreißig Prozent aller aktuellen Wirkstoffe enthalten inzwischen Fluor."

Sandford selbst forscht ebenfalls an Verfahren, das Element in komplexe chemische Verbindungen einzubauen. Doch die Fluorchemie fristete lange Zeit ein Schattendasein in der medizinischen Chemie, so der Wissenschaftler. "Es mangelte einfach an guten Reaktionsmitteln. Viele Fluorierungsmittel sind sehr schwer zu handhaben, weil sie sehr aggressiv sind und andere funktionelle Gruppen im Molekül angreifen."

Beliebt, aber schwer zu bekommen

Dabei sind fluorierte Wirkstoffe durchaus begehrt – sie haben nämlich eine Reihe wünschenswerter Eigenschaften, die sie gerade für die pharmazeutische Forschung extrem interessant machen. "Fluorierte Verbindungen sind fantastisch, um die Eigenschaften von Wirkstoffen und Leitstrukturen präzise zu kontrollieren", meint auch Agnieszka Bronowska, die am Heidelberg Institute for Theoretical Studies erforscht, wie die Eigenschaften der Halogene Fluor, Chlor, Brom und Jod die Bindung von Wirkstoffkandidaten an ihre Zielmoleküle beeinflussen. "Fluor ist nicht viel größer als Wasserstoff in der gleichen Position, aber deutlich fettlöslicher. Deswegen dringen fluorierte Verbindungen leichter durch Zellmembranen und die Blut-Hirn-Schranke."

Ciprofloxacin | Das Antibiotikum Ciprofloxacin enthält ein Fluoratom – typisch für die gesamte Stoffklasse der Fluorchinolone.

Hinzu kommt, dass viele Enzyme in ihrem aktiven Zentrum wasserabweisende Bindungstaschen haben – Strukturen, in die fluorierte Teile eines Wirkstoffes dank ihrer ebenfalls wasserabweisenden Natur perfekt hineinpassen, zum Beispiel die Trifluormethylgruppe, die ansonsten der Methylgruppe klassischer organischer Verbindungen ähnelt.

Bisher allerdings hat sich die synthetische organische Chemie an Fluorierungen komplexer chemischer Strukturen kaum heran getraut. Klassische Reaktionen analog zu Chlor und Brom, mit denen Chemiker ihre Wirkstoffkandidaten routinemäßig bestücken, scheiterten an der weitaus höheren Reaktivität des Fluors und seiner Verbindungen, ganz abgesehen davon, dass das Gas giftig und korrosiv ist, ebenso wie der oft dabei entstehende Fluorwasserstoff. Deswegen ließen sich bisher die Leitsubstanzen der Pharmaforschung sowie deren Vorstufen nur auf Umwegen fluorieren.

Für die systematische Erforschung von neuen Medikamenten waren fluorierte Verbindungen deswegen bisher nur schlecht zugänglich. Die Suche nach neuen Wirkstoffen geschieht mit Hilfe großer Substanzbibliotheken aus hunderten oder tausenden Verbindungen, die auf einer Grundstruktur basieren, und die meist automatisiert auf interessante biologische Effekte getestet werden.

Fluor in die Substanzbibliotheken!

Um diese Bibliotheken zu bekommen, nutzen Chemiker Kreuzkupplungsreaktionen, bei denen vorfabrizierte Bausteine zu einem größeren Gerüst zusammengeführt werden – diese Vorstufen stellen Chemiker in vielen verschiedenen Varianten mit unterschiedlichen funktionalisierten Gruppen her, so dass man am Ende viele unterschiedliche Substanzen mit dem gleichen Grundgerüst, aber unterschiedlichen Anhängseln hat. Um jedoch diese Vorstufen in fluorierter Form zu erhalten, mussten die Synthetiker bisher die fluorierten Grundstoffe kaufen und von diesen ausgehend jeden einzelnen unterschiedlichen Baustein neu zusammensetzen.

Doch für die Wirkstoffforschung wäre es viel praktischer, zuerst die komplexen Strukturen, die Leitsubstanzen, zu bauen, und anschließend selektiv Fluor an verschiedenen Stellen einzuführen, um die unterschiedlichen Varianten schnell testen zu können. Dazu benötigt man Protokolle, in solchen komplexen Molekülen gezielt einzelne Wasserstoffe gegen Fluor austauschen zu können – das muss unter sehr milden Bedingungen geschehen, um nicht andere empfindliche Bestandteile des Molekülgerüsts zu zerstören.

Die Rückkehr von DDT in neuem Gewand?

Diese Lücke haben organische Chemiker nun zu füllen begonnen. "Es sind definitiv die Bedürfnisse der pharmazeutischen Industrie, die das Feld vorantreiben", bestätigt auch Sandford. "Es herrscht in der Branche inzwischen die Wahrnehmung vor, dass wir mehr verschiedene Fluorierungsreaktionen brauchen, um diese Substanzen herzustellen. Und viele Chemiker von außerhalb der Fluorchemie wenden ihre Methoden nun auf dieses Feld an." Entsprechend sahen die letzten Jahre eine ganze Liste wesentlicher Fortschritte bei den Reaktionen, die ein oder mehrere Fluoratome in komplexe Kohlenstoffgerüste einführen – das nun in Science veröffentlichte Verfahren[1] von Wissenschaftlern um Surya Prakash von der University of Southern California, die das Gas Fluoroform als Fluorierungsmittel verwenden, ist nur das jüngste Beispiel dieses Trends.

Die Suche konzentriert sich nun auf einfache, kostengünstige und selektive Methoden, Fluor mit hoher Ausbeute in komplexe organische Moleküle einzubringen. Erste Erfolge gibt es bereits, sagt Sandford: "Eine Reaktion zur Fluorierung mit Fluorgas, den mein Kollege Richard Chambers 1993 entdeckte, nutzt einer unserer Industriepartner nun, um im großen Maßstab den Vorläufer für ein Mittel gegen Pilzbefall herzustellen."

Neben neuen Wirkstoffen könnte die reichhaltige neue Fluorchemie auch längst verworfene Ansätze erneut interessant machen, denn die neuen Fluorierungsreaktionen eröffnen auch Perspektiven für altbekannte Verbindungen – dem ausgemusterten Pestizid DDT zum Beispiel könnte diese Art der Chemie einen zweiten Frühling bescheren. 2011 stellte das Team um Prakash eine Reaktion vor, die fluorierte Varianten von DDT erzeugt[2], die nicht nur biologisch abbaubar, sondern womöglich wirksamer ist als das Original.

Neues Leben für alte Wirkstoffe

In den Archiven der Industrie lagern unzählige potenziell interessante Stoffe, die sich in früheren Tests als untauglich erwiesen haben, deren Defizite jedoch möglicherweise mit Hilfe von neuen Fluorierungsreaktionen behebbar sind. Das betrifft nicht nur Verbindungen, die durch Einbau von Fluor stärker fettlöslich gemacht werden können, sondern auch solche, die der Körper bisher zu schnell abgebaut hat. Viele dieser Stoffe, erklärt Sandford, werden vom Organismus schnell mit Sauerstoffatomen versehen, so dass der Körper sie leichter ausscheiden kann. Baut man nun ein Fluoratom an der richtigen Stelle ein, könne der Stoff wesentlich länger im Organismus wirken. "Viele Medikamente werden auf diese Weise oxidiert, deswegen gibt es viele Möglichkeiten, aussichtsreiche Leitsubstanzen durch Fluorierung zu optimieren."

Noch allerdings ist der Werkzeugkasten der Fluorchemiker trotz der jüngsten Fortschritte nicht vollständig. Viele Protokolle sind noch nicht selektiv genug, und auch die Aggressivität vieler Fluorverbindungen ist nach wie vor ein Problem. Eine wichtige Stoßrichtung der Forschung ist, diese unhandlichen Stoffe durch weniger flüchtige, weniger reaktive Verbindungen zu ersetzen, eine weitere, die Selektivität der Reaktionen zu erhöhen und geeignete Katalysatoren zu finden, wie sie für viele andere kommerziell relevante Synthesen bereits existieren.

Außerdem suchen Chemiker weiter nach Möglichkeiten, die Fluorchemie umweltfreundlicher zu machen – denn komplizierte Chemie ist schmutzige Chemie. Viele der Reaktionen erfordern heute noch vier oder fünf Schritte bis zum fertig fluorierten Produkt. Forscher möchten solche Reaktionen in Zukunft in einem Schritt durchführen und so den Verbrauch an Chemikalien, Ressourcen und Energie minimieren. Die Fluorchemie wird in Zukunft eine zentrale Rolle in der pharmazeutischen Forschung spielen, sind Experten überzeugt, aber der Weg dorthin ist noch weit und voller Hindernisse. "Fluorchemie ist immer noch ein sehr schwieriges Feld", sagt Sandford zum Abschluss.

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