Fluorchemie: Stahlkugeln statt Giftgas
Fluorierte Substanzen sind heute in der Technik allgegenwärtig – doch ihre Herstellung kann tödlich enden. Um das Element Fluor in die Molekülstrukturen einzubringen, braucht es Fluorwasserstoff (HF), ein extrem giftiges Gas, mit dem selbst viele Chemikerinnen und Chemiker nicht arbeiten wollen. Fachleute um Véronique Gouverneur und Michael A. Hayward, beide an der University of Oxford, haben nun einen Weg gefunden, die Hochrisikosubstanz zu umgehen. Sie nutzten stattdessen das Mineral Flussspat. Das ist eigentlich viel zu unreaktiv dafür, doch wie das Team im Fachmagazin »Science« berichtet, löst eine einfache technische Vorrichtung das Problem: Stahlkugeln und eine Rüttelmaschine.
Der Ansatz der beiden Forschungsgruppen ist eher ungewöhnlich. In den meisten Fällen vollführt man chemische Reaktionen in Lösung; um das Geschehen in Gang zu setzen, heizt man die Lösung in der Regel auf die gewünschte Temperatur auf, bestrahlt sie mit Licht entsprechender Wellenlänge oder setzt sie elektrischem Strom aus. Doch in diesem Fall kommt die Energie für die Umsetzung von den Stößen der Stahlkugeln in einer Kugelmühle. Die setzen das Fluor aus dem Mineral Flussspat (Kalziumfluorid, CaF2) in eine für chemische Reaktionen nutzbare, aber wenig gefährliche Form um.
Brachiale Methoden
Bisher sind Chemiker und Chemikerinnen auf eine brachiale Methode angewiesen, denn Flussspat reagiert nicht mit organischen Stoffen. Es löst sich in Wasser nur sehr schlecht und in organischen Lösungsmitteln überhaupt nicht. Deswegen wandelt man CaF2 mit konzentrierter Schwefelsäure bei 300 Grad Celsius in Fluorwasserstoff um. Mit dem hochreaktiven Gas stellt man gezielt kleine, fluorhaltige Reagenzien her. Diese nutzt man schließlich, um Fluoratome in die gewünschten Moleküle einzubauen.
Die große Mühe macht man sich, weil fluorhaltige Stoffe eine Reihe vorteilhafter Eigenschaften haben. Deswegen tauchen sie in vielen Anwendungen auf, zum Beispiel in Medikamenten, Beschichtungen für zahlreiche Gebrauchsgegenstände oder Anlagenbauteile in den verschiedensten Industrien.
Der Weg zu solchen fluorierten Substanzen ist dank der Entwicklung der beiden Arbeitsgruppen nun deutlich kürzer. Sie zerrieben Flussspat zusammen mit Kaliumhydrogenphosphat (K2HPO4) in einer Kugelmühle. Das Vorgehen ist recht simpel: Man gibt das Pulver der beiden Reaktionspartner zusammen mit einer Edelstahlkugel in ein Edelstahlgefäß und stellt das Ganze für mehrere Stunden in eine automatische Rüttelmaschine. Durch die mechanische Aktivierung verbinden sich beiden Salze zu einer Mischung aus zwei Substanzen, welche die Fachleute als »aktivierten Flussspat« bezeichnen.
50 verschiedene Substanzen hergestellt
Mit der neuen Salzmischung – die Produkte tragen die Formeln K3(HPO4)F und K2–xCay(PO3F)a(PO4)b, sind also gemischte Fluoridsalze mit nicht klar definierter Zusammensetzung – lassen sich mehr als 50 Fluorchemikalien herstellen, wie die beiden Arbeitsgruppen berichten. Die Fluoratome ließen sich nicht nur an Kohlenstoffatome, sondern auch an Schwefelatome knüpfen. So stellten die Forschungsgruppen in jeweils einem Schritt etliche Fluorierungsreagenzien, Bausteine für die Synthese von Medikamenten und weiteren Stoffen sowie biologisch aktive Substanzen her.
Das Interesse an mechanokatalytischen Reaktionen, wie sie die Teams aus Oxford angewandt haben, steigt seit einiger Zeit. Vor allem für die Synthese von Nanopartikeln oder Komponenten für Festkörperbatterien ist diese Form der Katalyse in den letzten Jahren in den Fokus gerückt. Man verspricht sich davon in erster Linie weniger Lösungsmittelverbrauch und weniger Reinigungsstufen. Ob sich die Technik in den Maßstab übertragen lässt, wie er in der chemischen Industrie benötigt wird, muss sich noch zeigen. Zwar werden Kugelmühlen in verschiedenen Industriezweigen in großem Stil angewandt, etwa im Bergbau, doch für chemische Reaktionen müssen sie spezielle Bedingungen erfüllen.
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