Kriminaltechnik: Warum Handschriften so schwer zu fälschen sind
Es war eines der spektakulärsten Gerichtsverfahren der Nachkriegsgeschichte. Nicht nur, weil es die Justiz von 1986 bis 2000 in Atem hielt, sondern auch wegen der zahlreichen Wendungen: Es geht um den Fall Weimar. Am Morgen des 4. August 1986, einem Montag, spielen die Schwestern Karola und Melanie Weimar zu Hause in ihrem Sandkasten im hessischen Philippsthal. Kurz darauf verschwinden die Fünf- und die Siebenjährige spurlos. Drei Tage später findet man ihre Leichen. Die Mutter der Mädchen gerät schon bald ins Visier der Ermittler, nachdem sie sich zunehmend in Widersprüche verstrickt. Sie belastet jedoch einen anderen: Der Vater der Kinder habe die beiden erstickt. Ab da ist das Interesse der Medien riesig, und das ganze Land rätselt: War er es – oder sie? Die Lösung brachte unter anderem ein Stück Papier. Die Mutter Monika Weimar übergab der Polizei zwei anonyme Schreiben, die ihren Mann belasteten. Doch die Eigenheiten ihrer Handschrift offenbarten: Sie selbst hatte die Briefe verfasst, um den Verdacht auf ihren Mann zu lenken. Das Gericht verurteilte sie zu lebenslanger Haft.
Unsere Handschrift verändert sich im Lauf des Lebens, ist im Erwachsenenalter dann aber weitgehend stabil – und fast unverwechselbar. Das macht man sich vor Gericht zu Nutze. Neben Fingerabdrücken und DNA-Spuren kann nämlich auch Handgeschriebenes Täter überführen. Speziell geschulte Kriminaltechniker analysieren jeden Federstrich aufs Genaueste. Diese Sachverständigen sind oft Polizisten oder Psychologen und legen nach einer mindestens dreijährigen Ausbildung eine Abschlussprüfung beim Bundeskriminalamt ab. Auf ihrem Schreibtisch landet dann viel Verschiedenes, von gefälschten Testamenten über manipulierte Schecks bis hin zu Bauanleitungen für Bomben. Auch Erpresserbriefe werden tatsächlich immer noch häufig von Hand geschrieben, berichtet Benedikt Armbruster, Schriftsachverständiger beim Hessischen Landeskriminalamt.
»Der Druckrhythmus ist ein entscheidendes Merkmal für uns«
Benedikt Armbruster, Schriftsachverständiger
Bei der forensischen Handschriftenanalyse werden immer mindestens zwei Schriftstücke miteinander verglichen. Denn ein Schriftstück allein erlaubt kaum eine Aussage über den Verfasser. Weder kann man von der Handschrift ableiten, ob es sich beim Urheber um einen Mann oder eine Frau handelt, noch, ob die Person alt oder jung ist, und schon gar nicht lassen sich Unsicherheit, psychopathische Züge oder andere Charaktermerkmale herauslesen. »Den forensischen Schriftvergleich darf man nicht mit der Graphologie verwechseln. Graphologen machen das fragwürdige Versprechen, aus der Handschrift die Persönlichkeit des Verfassers ablesen zu können«, erläutert Benedikt Armbruster. »Wir bestimmen hingegen, ob verschiedene Schriftstücke denselben Urheber haben.«
Bevor der Gutachter die Handschrift unter die Lupe nimmt, gibt es eine Reihe von technischen Voruntersuchungen. Dabei treten häufig Details zu Tage, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind. Das Schriftstück wird zunächst verschiedenen Lichtquellen ausgesetzt und unter einem Mikroskop betrachtet – etwa, um die Art des Papiers näher zu bestimmen. So ergibt sich ein dreidimensionales Bild.
Darauf ist zu erkennen, wie fest der Verfasser auf den Stift gedrückt hat. »Der Druckrhythmus ist ein entscheidendes Merkmal für uns. Wenn wir unsere Unterschrift unter ein Dokument setzen, tun wir das mit einem charakteristischen Druckverlauf, der sich schwer nachahmen lässt«, erklärt Benedikt Armbruster. »Versucht ein Fälscher, die Schrift optisch genau zu imitieren, geht das meist zu Lasten der Geschwindigkeit. Der Druck auf das Schreibgerät ist dann auffällig monoton, oder der Stift wird häufiger abgesetzt.«
Unter dem Mikroskop lässt sich zudem erkennen, ob das Geschriebene zunächst mit Bleistift vorgeschrieben wurde. Eine beliebte Fälschungsmethode bei Unterschriften ist nämlich das Abpausen. Beim Pausen beispielsweise im Gegenlicht am Fenster entstehen zwar keine Vorzeichnungsspuren, allerdings ist hier die Strichführung meist zu gleichförmig. Unsere eigene Unterschrift schreiben wir selbstbewusst, schnell und mit Schwung. Verräterisch ist auch, wenn die fragliche Unterschrift sich perfekt mit einem anderen Exemplar deckt. Denn wir unterschreiben nie genau gleich. Bei der elektrostatischen Oberflächenprüfung können außerdem feine Rillen sichtbar gemacht werden.
»So konnten wir beispielsweise schon einmal einen Täter überführen, der einen Erpresserbrief verfasst, aber offenbar auf einem vorherigen Blockblatt seine Telefonnummer notiert hatte. Die Durchdruckspur führte die Ermittler direkt zu ihm«, erzählt Armbruster. Die strahlentechnische Untersuchung arbeitet mit Lumineszenzen. Unter speziellem Licht sind zum Beispiel Unterschiede in der Tinte sichtbar, etwa wenn auf einem Scheck mit einem anderen Stift ein paar Nullen hinzugefügt wurden. Außerdem werden kleinste Schriftmerkmale erkennbar, beispielsweise Vor- und Rückschläge – winzige Überbleibsel einer Handbewegung.
»Ein Merkmal für sich ist im Grunde bedeutungslos. Was zählt, ist das Gesamtbild, das sich bei der Analyse ergibt«
Benedikt Armbruster, Schriftsachverständiger
Erst dann beginnt die eigentliche schriftvergleichende Untersuchung. Der Sachverständige schaut sich dabei das Schriftbild ganz genau an: Ist die Schrift nach links oder rechts gekippt? Wie hoch und wie breit fallen die Buchstaben aus? Wie groß ist der Abstand zwischen den Wörtern? Wurde das große »I« von oben nach unten oder von unten nach oben gezeichnet? In welchem Winkel stehen die Linien zueinander? Welche Lettern sind miteinander verbunden, welche nicht? Verlaufen die Zeilen gerade, oder steigen sie leicht an? Wie wurde der Platz auf dem Papier genutzt?
Besonders aufschlussreich sind persönliche Eigenheiten, die selten vorkommen: etwa ein charakteristischer Schnörkel am Buchstaben »S«, der von der Standardschrift abweicht, die wir in der Schule lernen. »Ein Merkmal für sich ist im Grunde bedeutungslos. Was zählt, ist das Gesamtbild, das sich bei der Analyse ergibt«, stellt Benedikt Armbruster klar. Auf dieser Grundlage fertigen er und seine Kollegen Gutachten an, die sie zusätzlich mit einer Wahrscheinlichkeitsangabe versehen: Wie sicher stammen die Texte vom selben Verfasser – oder eben nicht?
Forscher um Jodi Sita von der Australian Catholic University überprüften 2002, wie oft Experten dabei wirklich richtigliegen. Um geeignetes Untersuchungsmaterial herzustellen, gaben zehn Personen über zwölf Monate immer wieder Proben ihrer eigenen Unterschrift ab. Davon wurden drei nach dem Zufallsprinzip ausgesucht. 25 Freiwillige sollten nun versuchen, die Signaturen dieser zehn Personen zu fälschen. Sie hatten unbegrenzt Zeit zum Üben und gaben am Ende jeweils zwei Exemplare ab – unter anderem die, die ihnen ihrer Meinung nach am besten gelungen war.
Sachverständige täuschen sich in höchstens jedem 20. Fall
Dann kamen die eigentlichen Versuchspersonen zum Zuge: 17 forensische Schriftsachverständige, die in australischen und neuseeländischen Kriminalbehörden arbeiteten, sollten die insgesamt 150 Unterschriften auf ihre Echtheit überprüfen. Zusätzlich wurden auch 13 Studierende, die über keine Expertise auf dem Gebiet verfügten, vor die gleiche Aufgabe gestellt. Sie alle erhielten Bogen mit den echten Unterschriften sowie weiteren Versionen der gleichen Unterschrift, die entweder vom selben Urheber oder von einem der 25 Fälscher stammten. Für jedes der fraglichen Autogramme sollten die Probanden angeben, ob sie es für echt oder gefälscht hielten oder sich nicht sicher waren.
Das Ergebnis: Die Laien irrten sich bei jeder fünften Unterschrift. Die Sachverständigen hingegen lagen nur in 3,4 Prozent der Fälle daneben. Außerdem gaben sie signifikant häufiger an, zu keinem abschließenden Urteil kommen zu können. Und das, obwohl auch die Laien darüber aufgeklärt wurden, dass eine falsche Bestimmung zur Verhaftung eines Unschuldigen führen könnte. Unschlüssig waren sich die Experten vor allem bei den echten Unterschriften. Fälschungen erkannten sie meist als solche.
»Die Handschrift ist kein sicheres biometrisches Merkmal, denn sie ändert sich im Lauf der Jahre«
Petra Halder-Sinn, Psychologin
»Nicht jeder handschriftlich verfasste Text lässt sich eindeutig einem Urheber zuordnen«, sagt Petra Halder-Sinn. Sie war bis 2009 Professorin für Psychologische Diagnostik an der Justus-Liebig-Universität Gießen und arbeitet als Gutachterin für Schriftvergleich. »Die Handschrift ist kein sicheres biometrisches Merkmal, denn sie ändert sich im Lauf der Jahre, sie ist abhängig vom Gesundheitszustand des Schreibers, und sie kann auch absichtlich verstellt und verändert werden.«
2008 untersuchten Wissenschaftler, wie gut Schriftsachverständige erkennen können, ob jemand seine Schrift verstellt hat. Dafür legten sie ihnen eine natürliche, eine leicht verstellte Unterschrift sowie eine Fälschung durch eine andere Person vor. Sachverständigen gelang es hier doppelt so oft wie Laien, Fälschungen von Verfremdungen zu unterscheiden.
Allerdings wurden hier lediglich acht Sachverständige getestet, und die verstellte Schrift wich nur subtil vom Original ab. In echten Fällen, etwa bei Drohbriefen, verfremden die Verfasser ihre Schrift oft möglichst stark. »Dann wird beispielsweise absichtlich nur in Großbuchstaben geschrieben«, erklärt Benedikt Armbruster. »Gibt es einen Verdächtigen, bitten wir denjenigen deshalb, den Text einmal in Großbuchstaben für uns zu schreiben, und vergleichen die Schriften miteinander.«
In der Praxis sei es häufig möglich zu bestimmen, dass es sich nicht um eine authentische Schreibleistung handelt, sagt Petra Halder-Sinn. »Wer den Text geschrieben hat, ist allerdings schwieriger herauszufinden.« Denn dafür braucht es nicht nur Expertise, sondern auch passendes Vergleichsmaterial. Bestes Beispiel: die vermeintlichen Hitler-Tagebücher.
Warum Sachverständige die Handschrift in den Hitler-Tagebüchern für echt hielten
Das deutsche Wochenmagazin »Stern« kaufte in den 1980er Jahren für mehr als neun Millionen D-Mark Schriftstücke, die man für Adolf Hitlers geheime Chroniken hielt. Die Redaktion veröffentlichte regelmäßig Auszüge daraus, bis es zum peinlichen Eklat kam: alles ein großer Schwindel. Dabei hatten zuvor mehrere Schriftsachverständige aus Deutschland, der Schweiz und den USA die Echtheit der Dokumente bescheinigt.
Der Grund: Der Fälscher, Konrad Kujau, hatte schon Jahre zuvor immer wieder kleinere Schriftstücke in Umlauf gebracht, die angeblich von Hitler stammten. Als dann die Tagebücher untersucht werden sollten, zog man diese Schriftstücke aus den Museen als Vergleichsmaterial heran. So kamen die Gutachter natürlich zu dem Ergebnis, dass der gleiche Urheber dahintersteckte: Sie verglichen Fälschungen mit Fälschungen.
Das war aber nicht der alleinige Grund für den Irrtum der Sachverständigen. »Die Hitler-Tagebücher wurden auch deshalb falsch eingeschätzt, weil sie in der altdeutschen Sütterlinschrift gefertigt waren. Die Sachverständigen aus dem Ausland hatten keine Erfahrung mit dieser Schrift und übersahen Schreibfehler, die nur in der Sütterlinschrift vorkommen können und die Hitler nie gemacht hätte«, erläutert Petra Halder-Sinn.
Weil die Welt näher zusammenrückt, müssen sich Sachverständige zunehmend auch mit Schrifteigenheiten anderer Kulturen auseinandersetzen. So gibt es Gegenden, wo vorwiegend mit dem Vornamen unterzeichnet wird oder statt mit Buchstaben mit grafischen Symbolen. Dass die Handschrift im Zuge der Digitalisierung ihren Wert für die Strafverfolgung verlieren wird, erwartet Benedikt Armbruster allerdings nicht: »Wir werden in Zukunft aber bestimmt verstärkt mit IT-Experten zusammenarbeiten.«
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