Organoide: Anfänge des Lebens im Labor simuliert
Wissenschaftler haben embryoähnliche Zellstrukturen generiert, die ein entscheidendes, aber immer noch weitgehend rätselhaftes Stadium der menschlichen Entwicklung nachahmen: die Gastrulation.
In diesem frühen Entwicklungsstadium legen die Zellen den Bauplan des Körpers in dreidimensionaler Form an. Künstliche Strukturen aus Stammzellen, die diesen Prozess nachahmen, bezeichnen Forscher als Gastruloide. Die nun jüngst entwickelten Gastruloide aus menschlichen Zellen bildeten ein rudimentäres Herz-Kreislauf- und Nervensystem aus, aber sie sind nicht in der Lage, ein Gehirn oder andere Zelltypen aufzubauen, die zu einem lebensfähigen Fötus führen würden.
In der Vergangenheit haben Forscherinnen und Forscher immer komplexere Zellstrukturen geschaffen, um die Embryonalentwicklung im Labor präziser nachzuahmen und genauer zu untersuchen. Die neueste Methode zur Herstellung solcher Strukturen, die nun in »Nature« veröffentlicht wurde, könnte helfen, die Ursachen von Fehlgeburten und frühen Entwicklungsstörungen wie angeborenen Herzfehlern oder der Spaltbildung der Wirbelsäule (Spina bifida) zu ergründen.
Mit einem solchen Zellmodell ließen sich auch genetische Ursachen oder die Rolle von Umweltfaktoren bei solchen Störungen besser nachvollziehen, sagt Fu Jianping, Bioingenieur an der University of Michigan in Ann Arbor. »Dieses Ziel ist nun in greifbare Nähe gerückt.«
Die Forschung an künstlichen Zellstrukturen würde zudem ethische Bedenken ausräumen, die im Zusammenhang mit menschlichen Embryonen bestehen. Allerdings nähern sich die künstlichen Zellstrukturen immer mehr lebensähnlichen Organismen. Und auch das könnte die Grenzen der Ethik überschreiten, sagen Wissenschaftler.
Frühe Baustelle am Körper
Menschliche Embryonen machen in der dritten Woche einen entscheidenden Entwicklungssprung: die Gastrulation. Dann nämlich beginnt sich das weitgehend homogene Zellknäuel zu differenzieren und spezifische Merkmale von Körperteilen auszubilden. Dazu verlagert der Embryo seine Zellen und legt einen Körperplan entlang seiner Längsachse an, der so genannten kraniokaudalen Achse – quasi ein Bauplan von Kopf bis Schwanz.
Dieses Entwicklungsstadium haben Wissenschaftler noch nie in Echtzeit beobachtet. Das liegt zum Teil daran, dass es in vielen Ländern untersagt ist, Embryonen mehr als 14 Tage nach der Empfängnis zu Forschungszwecken im Labor zu züchten.
Im vergangenen Jahr haben mehrere Forschergruppen nun embryonale Stammzellkulturen geschaffen, die dieses frühe Entwicklungsstadium nachahmen. Das jüngste Modell dieser Art stammt von den Entwicklungsbiologen Naomi Moris und Alfonso Martinez Arias von der University of Cambridge und ihren niederländischen Kollegen. Das Modell zeigt erstmals, wie sich der Bauplan des Körpers etwa 18 bis 21 Tage nach der Empfängnis entfaltet.
Wie Naomi Moris erklärt, sei es besonders spannend gewesen, die symmetrische Bildung der Zelltaschen entlang der kraniokaudalen Achse zu beobachten. Eine Genanalyse zeigte, dass diese Zellen später Muskeln ausbilden – im Rumpf, entlang der Rückenwirbel, im Herz und in anderen Organen.
An dem neuen Embryonenmodell, davon ist Moris überzeugt, ließe sich nachvollziehen, wie Zellstrukturen entstehen und wo ihnen Fehler unterlaufen. Denn genau an diesem Zeitpunkt der menschlichen Entwicklung liegt die Ursache für viele Krankheiten wie der Skoliose, einer Verkrümmung der Wirbelsäule. »Diese wichtigen Ergebnisse helfen uns, die kritischen Mechanismen der menschlichen Körperentstehung zu verstehen«, sagt Li Tianqing, Entwicklungsbiologe am Institute of Primate Translational Medicine im chinesischen Yunnan. Er arbeitet ebenfalls an embryoähnlichen Zellstrukturen.
Turbo für die Zellentwicklung
Für die Entwicklung des neuen Modells, das aus menschlichen Zellen besteht, konnte das Team um Moris auf frühere Arbeiten zurückgreifen. In den letzten fünf Jahren stellten die Forscher Gastruloide aus embryonalen Stammzellen der Maus her. Für die jetzige Studie hat die Gruppe allein zwei Jahre gebraucht, um die richtigen Bedingungen auszuarbeiten, sagt Martinez Arias. Sie fanden heraus, dass eine Kolonie von rund 400 Zellen ein funktionstüchtiges Organoid ausbilden kann. Besonders wichtig war die Erkenntnis, dass eine Chemikalie namens Chiron die Zellentwicklung beschleunigte.
Für gewöhnlich begannen die Zellen von selbst, 3-D-Strukturen herzustellen – und den Prozess der Gastrulation nachzuahmen, erklärt Moris. Sie hat inzwischen hunderte menschlicher Gastruloide erzeugt. In fast 70 Prozent der Fälle seien sie funktionstüchtig gewesen. »Es ist eigentlich ein einfacher Prozess. Und die meiste Arbeit machen die Zellen selbst«, sagt sie. Obwohl die Zellkulturen bestimmte Schlüsselmerkmale eines 21 Tage alten Embryos aufweisen, erreichen die Gastruloide dieses Stadium bereits nach 72 Stunden. Sie leben jedoch nicht länger als vier Tage. Dann, erklärt Moris, fallen sie in sich zusammen.
Laut Fu ist das Modell ausbaufähig und könnte noch viel frühere Entwicklungsphasen nachahmen. Er schätzt, dass in fünf bis zehn Jahren künstliche Zellen auch eine Plazenta imitieren könnten. Vielleicht ließen sich auch Gastruloide mit schlagenden Herzen erzeugen. In der Gebärmutter beginnt das Herz eines Embryos nach etwa 22 Tagen zu schlagen. Und obwohl die Zellstrukturen noch keine Teile für die Entwicklung des Gehirns entwickelt haben, geht Alfonso Martinez Arias davon aus, dass auch das, also das Wachstum eines rudimentären Denkorgans, möglich sein müsste – indem ein bestimmtes Molekularsignal blockiert wird.
Solche Experimente würden allerdings weit reichende ethische Probleme aufwerfen. Was wäre, wenn sich diese Organoide zu lebensfähigen Föten entwickeln könnten? »Wir müssen vorsichtig sein, dass wir nicht anfangen, menschliche Embryonen zu erzeugen«, sagt Fu. Martinez Arias stimmt seinem Kollegen zu. Dieses Ziel wäre unethisch und unbesonnen. Aber wäre es überhaupt machbar? »Nein, nicht kurzfristig«, sagt Martinez Arias.
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