Neandertaler-DNA: Forscher lesen das Erbgut im Höhlenboden
Weshalb verschwanden die Neandertaler bald nach der Ankunft des anatomisch modernen Menschen aus Europa? Wie groß war eigentlich das Gebiet, in dem ihre geheimnisvollen Verwandten, die Denisova-Menschen, lebten? Gab es vielleicht noch andere Frühmenschengruppen, von denen die Wissenschaft nichts weiß? Mit Antworten auf solche Fragen tun sich Forscher schwer – aus einem einfachen Grund: Es gibt viel zu wenige Überreste der damaligen Menschen. Von den sibirischen Denisovanern beispielsweise, die im Jahr 2010 anhand ihres Erbguts als weitere Frühmenschenart identifiziert wurden, hatten Forscher lange nur ein Stück Fingerknochen sowie zwei Backenzähne zur Verfügung, alle in einer Höhle im Altai-Gebirge nicht weit von der Grenze zwischen Russland und Kasachstan.
Mehr Funde werden dringend benötigt. Dass es sich dabei nicht unbedingt um Knochen oder Zähne handeln muss, berichten Matthias Meyer und Viviane Slon mit ihren Kollegen in der Zeitschrift »Science«. Denn den Forschern des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig ist es gelungen, das Erbgut der Frühmenschen direkt aus dem Untergrund der Höhlen zu gewinnen.
»Mit dieser Entdeckung stoßen wir die Tür zu ganz neuen Forschungsmöglichkeiten weit auf«, sagt Meyer. Und denkt dabei weit über die Heimat der Denisova-Menschen und das Verschwinden der Neandertaler hinaus. Dabei war er anfangs gar nicht so optimistisch: »Die Suche nach altem menschlichem Erbgut in den Sedimenten ähnelt der Suche nach Stecknadeln in Heuhaufen.« Der Untergrund wimmelt vor Mikroorganismen, die ihre DNA im Boden hinterlassen, und was an Erbgut längst verstorbener Säugetiere vorhanden ist, zersetzt sich normalerweise mehr oder minder rasch. Zudem ist der Mensch nur eines von vielen Tieren – vom Höhlenbären bis zur Maus –, die ihr Erbgut in den Boden brachten.
Trotzdem ließ Meyer diese Möglichkeit im Rahmen einer Masterarbeit untersuchen. Und staunte über die durchaus Erfolg versprechenden Ergebnisse. Anscheinend überlebt das Erbgut von Menschen und Tieren im Boden besser als gedacht. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit hat Viviane Slon diese Überraschung dann genauer untersucht.
Die DNA steckt im Sand
Es zeigte sich rasch, dass viele unterschiedliche Komponenten des Bodens, wie zum Beispiel Lehm, das Erbgut vergleichsweise gut festhalten. »Das wiederum könnte der Grund sein, weshalb sich die Erbsubstanz in solchen Sedimenten recht gut hält«, überlegt Matthias Meyer. Schwimmt das Erbgut frei in Wasser, wird es rasch in seine Bestandteile zerlegt. Heftet die DNA sich dagegen an eine feste Oberfläche, ist sie viel stabiler. Im Labor nutzen die Forscher diese Tatsache schon lange und mischen die DNA mit Siliziumdioxidkügelchen. Nachdem das Erbgut sich von selbst an diesen Feststoff geheftet hat, ist es sehr viel stabiler als vorher. Siliziumdioxid aber ist nichts anderes als ein wesentlicher Bestandteil von Sand. Und Sand wiederum lagert sich häufig am Boden von Höhlen ab.
Zwischen 14 000 und mehr als einer halben Million Jahre alt waren die 85 recht unterschiedlichen Bodenproben, die das Team aus insgesamt sieben Fundstätten gewann, allesamt Höhlen, die für die Aktivitäten von Frühmenschen einschlägig bekannt sind. Die Fundorte lagen in Spanien, Frankreich, Belgien, Kroatien und Russland. Bei ihrer Untersuchung konzentrierte sich Viviane Slon dann ausschließlich auf DNA von Neandertalern und Denisova-Menschen. »So konnten wir uns sicher sein, dass ein möglicher Fund wirklich alt ist und nicht etwa von einer Verunreinigung in heutiger Zeit stammt«, erklärt Meyer.
Zusätzlich überprüften die Forscher ihre Proben aber auch noch mit Hilfe einer natürlichen Reaktion: In der Natur wandelt sich einer der vier Bausteine der DNA, das Cytosin, sehr langsam in einen anderen Baustein namens Uracil um. Finden die Forscher also diese Umwandlung, können sie sicher sein, altes Erbgut isoliert zu haben.
Slon betrachte außerdem ausschließlich Erbgut, das in den Mitochondrien menschlicher Zellen enthalten ist und das in größerer Menge vorliegt als das Erbgut, das in den Zellkernen sitzt. Aber auch die mitochondriale DNA (mtDNA) geht in der Flut des Erbguts der Mikroorganismen unter. Daher warf Viviane Slon auf ihrem Fischzug passende Köder für die mtDNA von 242 verschiedenen Arten aus – für Erbgut von Elefanten, Wölfen, Hamstern bis hin zu Delfinen. Dann schaute sie, wo etwas hängen blieb.
Molekularer Fischzug auf Erbgutstückchen
Der Erfolg dieses molekularen Fischzugs ist verblüffend: In fast allen Proben, die jünger als 120 000 Jahre alt waren, entdeckten die Forscher das Erbgut von Säugetieren. Selbst bei den älteren Proben lag die Trefferquote immerhin noch bei mehr als 40 Prozent, was sich mit den Erfahrungen deckt, die Paläogenetiker wie Matthias Meyer gemacht haben, wenn sie in alten Knochen nach Erbgut suchten: Auch gut geschützt wird die DNA mit der Zeit in immer kleinere Stücke zerlegt. Bis dann irgendwann die Fragmente so klein sind, dass die Forscher mit ihnen nicht mehr viel anfangen können. Als Matthias Meyer Ende 2013 aus einem 430 000 Jahre alten Oberschenkelknochen eines Homo heidelbergensis das Mitochondrien-Erbgut gewann, näherte er sich bereits der Grenze des technisch Machbaren.
Einen erheblichen Einfluss auf die Haltbarkeit des Erbguts haben auch die Umwelt und das Klima. Je feuchter und wärmer Fossilen lagern, umso schneller nagt der Zahn der Zeit am darin steckenden Erbgut. Am besten und längsten bleibt die DNA daher in kühleren Gefilden und vor allem im Dauerfrostboden wie zum Beispiel in Sibirien erhalten. Trotzdem fanden die Forscher auch in Bodenproben, die jahrelang bei normalen Raumtemperaturen in einem Labor lagen, noch reichlich Säugetiererbgut. »Diese DNA hatte vorher bereits einige zehntausend Jahre überstanden, die vergleichsweise kurze zusätzliche Zeit im Labor machte dann nicht mehr viel aus«, erklärt Meyer.
Recht gut erhalten ist natürlich auch das Erbgut der Neandertaler und Denisova-Menschen, die im Leipziger Max-Planck-Institut in den vergangenen Jahren analysiert wurden und mehr als einmal spektakuläre Frühmenschendaten lieferten. Spätestens seit Spezialisten der Kriminalpolizei die DNA von Tatverdächtigen aus früheren Fällen versehentlich in spätere Untersuchungen mit ganz anderen Beteiligten verschleppten und so ungewollt falsche Fährten legten, argwöhnen Fachkollegen und Laien gleichermaßen, ob Forschern an Unis und anderen Instituten nicht ähnliche Fehler passieren könnten.
Steht ein »kleiner Goldrausch« für Frühmenschenforscher bevor?
»Ausschließen kann man das nie«, erklärt Michael Hofreiter, der an der Universität Potsdam das Erbgut längst verendeter Tiere unter die Lupe nimmt. Der Spezialist für Mammuts, Höhlenbären und Co. hat bis 2009 selbst in Leipzig geforscht, bevor er nach einer Professur im englischen York seit 2013 in Brandenburg evolutionäre adaptive Genomik lehrt. Er arbeitet mit sehr ähnlichen Methoden und kennt die Forschung und die Sicherheitsmaßnahmen der Leipziger Kollegen sehr gut.
Ein Querschnitt durch die Tierwelt
So kennzeichnen die Forscher ihre Erbgutproben mit einem molekularbiologischen Barcode. »Taucht dieser Kode bei späteren Analysen nicht wieder auf, ist eine Kontamination mit DNA aus diesen früheren Experimenten praktisch ausgeschlossen«, erklärt Michael Hofreiter. Obendrein verändert sich das Mitochondrien-Erbgut sehr rasch. Daher finden sich auch zwischen nahen Verwandten fast immer Unterschiede in der mtDNA. »Findet sich das exakt gleiche Mitochondrien-Erbgut in späteren Analysen wieder, schrillen bei den Forschern sofort alle Alarmglocken«, weiß der Potsdamer Paläobiologe. Das könnte dann eine Kontamination mit DNA aus früheren Arbeiten sein. Da Paläogenetiker noch weitere, unabhängige Möglichkeiten für Kontrollen nutzen, können sie solche Verwechslungen sehr gut ausschließen.
Dass die Methode anscheinend funktioniert, zeigt auch der Beifang, den Slon aus den Bodenproben zog: Die Forscher fanden einen guten Querschnitt durch die damalige Tierwelt von Hirschen über Pferden bis zu Rindern. Entdeckten sie DNA aus der Elefantenfamilie, deutete die genaue Untersuchung auf Wollhaarmammuts hin, die damals tatsächlich in der Umgebung der Fundstätten lebten – und deren Knochen die Forscher immer wieder in solchen Höhlen finden. Dieser Zusammenhang gilt auch für andere Arten: Identifizierten die Forscher die DNA einer bestimmten Art, waren häufig bereits Knochen dieser Tiere in der gleichen Fundstätte gefunden worden. Das Erbgut aus den Bodenproben scheint also zuverlässige Ergebnisse zu liefern.
Die Knochen oder Zähne von Frühmenschen aber finden Archäologen nur sehr selten in solchen Höhlen. Sie stellen allenfalls einen winzigen Bruchteil der gefundenen Relikte von Tieren dar. Und wieder liefern die Analysen des Erbguts aus den Bodenproben ähnliche Ergebnisse, menschliche DNA finden die Forscher nur sehr selten. Immerhin aber entdeckten sie in vier der sieben untersuchten Höhlen das Erbgut aus den Mitochondrien von Neandertalern. Dabei hatten die Forscher in der Trou-Al'Wesse-Höhle in Belgien von den Herstellern und Nutzern der dort durchaus entdeckten Steinklingen und anderer Werkzeuge bisher nicht die geringste Spur in Form von Knochen oder Zähnen gefunden. Das Erbgut der Denisova-Menschen dagegen entdeckten die EVA-Forscher nur in einer einzigen Höhle: Genau in der Denisova-Höhle, die dieser Menschengruppe ihren Namen gegeben hat und in der die Denisovaner bisher ausschließlich nachgewiesen wurden.
Menschen-DNA aus Hyänenkot?
Auffällig häufig fanden die Forscher in den Proben das Erbgut der längst ausgestorbenen Höhlenhyänen. In 70 Prozent der Proben, in denen sie Säugetier-DNA fanden, steckte auch das Erbgut dieser Tiere, die damals in der Umgebung der sieben Höhlen jagten und vermutlich unter anderem Aas fraßen. »Das könnte auch ein Hinweis auf die Herkunft der gefundenen Frühmenschen-DNA sein«, vermutet Matthias Meyer. Die Tiere könnten die Körper verstorbener Frühmenschen gefressen haben. Und da sich in den Exkrementen von Tieren auch das Erbgut aus ihrer Nahrung findet, haben die Hyänen so vielleicht Neandertaler-Erbgut in Höhlen verteilt. Natürlich aber könnten Denisova-Menschen und Neandertaler ihr Erbgut auch direkt hinterlassen haben. Die DNA eines Menschen taucht schließlich ebenfalls in seinem Urin und seinem Schweiß auf. Und liefert so heute noch einen Nachweis, wo sich dieser Mensch einst aufgehalten hat.
Mit der Suche nach DNA in den Höhlensedimenten umgeht man womöglich zudem das Problem, dass die wertvollen Knochenfunde zur Erbgutgewinnung jedes Mal angebohrt werden müssen, was die seltenen Stücke in Mitleidenschaft zieht. Bodenproben sind dagegen in vielen Höhlen und an anderen Stellen, an denen Frühmenschen zu Gange waren, problemlos zu haben. Matthias Meyer spekuliert bereits über einen »kleinen Goldrausch für Frühmenschenforscher«. Unter Umständen lernt man so, wer genau in einer Höhle über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg gelebt hat: Behauptete ein einziger Familienverband dieses Zuhause? Wechselten sich Gruppen unterschiedlicher Herkunft ab?
Und nicht nur für die Frühmenschenforschung könnten goldene Zeiten anbrechen, auch Paläobiologen erhoffen sich von der DNA in Bodenproben neue Erkenntnisse: Welche Tiere und Pflanzen lebten auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit in einer bestimmten Region? Wer behauptete sich, als es wieder wärmer wurde? Und wer verschwand? Die spektakulären Antworten darauf könnten sich in ganz unspektakulärem Sand verbergen.
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