Biologie 2009: Fortschritt durch Feinschliff
Im Jahr von Schweinegrippe und Wirtschaftskrise blieben spektakuläre biomedizinische Entdeckungen scheinbar Mangelware. Dabei haben Forscher in aller Stille die Sensationen vergangener Saisons vertieft, um sie auch einmal praktisch umzusetzen.
Die wissenschaftlichen Topthemen eines Jahres zu küren, ist ebenso interessant wie albern, auch im Bereich "Medizin 2009". Zwar drängelte ein einziges alle anderen Themen aus dem Rampenlicht: "Schweingrippe" – wenn nicht gerade das Getöse über "Wirtschaftskrise" noch lauter war. Derweil aber haben Biologen und Mediziner in den vergangenen zwölf Monaten wissenschaftlich durchaus Neuland freigelegt und – oft unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung – emsig daran gearbeitet, ältere Entdeckungen praxistauglich zu machen.
Mikro-Medizin
Überhaupt: Neben dem 200. Geburtagstag des großen Evolutionsforschers verblassten ein wenig die anderen Jahrestage wie etwa der 75. Geburtstag der Affenforscherin Jane Goodall, der 150. Todestag des Universalisten Alexander von Humboldt oder der 90. Geburtstag des "Flossenmenschen und Herr der Haie", Hans Hass.
Belebte Erde
Eindrucksvoll war ebenfalls, was in diesem Jahr von der prähistorischen Weltherrschaft der Pilze, den Tarntricks von Pflanzen oder der auch Asteroideneinschläge achselzuckend wegsteckenden Robustheit von Mikroben bekannt wurde. Auch das vielleicht hässlichste Wesen auf oder eher unter der Erde machte wieder von sich reden: Des Nacktmulls Hirn braucht erstaunlich wenig Sauerstoff.
Zurück zum Thema Gesundheit und Krankheit über die Breitband-Schnittstelle zwischen Biologie und Medizin – dem Immunsystem von Mensch, Tier und Pflanze: Letzteres unterstützt der regulierte Abwehrwall vor den Stomata-Öffnungen der Blätter – sie schließen sich, sobald Mikroben bedrohlich werde. In den Atemwegen der Menschheit passen dafür feine Härchen auf und warnen uns vor Giftstoffen. Unsere Milz – eine weitere Erkenntnis des Jahres 2009 – fungiert als Aushilfsimmunorgan und produziert Monozyten-Abwehrzellen, wenn andere Verteidiger des Körpers ausfallen. Verzichtbar, wie lange vermutet, ist die Milz also genauso wenig wie der Blinddarmfortsatz bei vielen Säugetieren.
Gegen den Krebs: Aufklärung und Keule
Am liebsten sähen auch Krebsforscher, wenn man die tödliche Entartung der Zellen schon verhindern könnte, bevor sie geschieht. So wünschenswert, so schwierig ist aber im Detail herauszufinden, warum welcher Krebs entsteht. Fortschritte gab es dabei durchaus: Zu den verschiedensten bekannten genetischen und äußeren Risikofaktoren gesellen sich seit diesem Jahr endgültig bestimmte Retroviren und auch bestimmte Stammzellen – beide lösen nachweislich Prostatakrebs aus, genetische Defekte müssen dafür nicht vorliegen. Solches Detailwissen macht auch Hoffnung: Nur ein enttarnter Feind kann wirkungsvoll bekämpft werden. Die beteiligten Forscher hoffen nun, antiretrovirale Medikament, die sich gegen HIV bewähren, einmal auch gegen den Krebs der Vorsteherdrüsen einsetzen zu können.
Wie viele andere Ansätze muss auch dieser im kommenden Jahr intensiver untersucht werden – man kann gar nicht genug über die Details des aus dem Ruder gelaufenen Zellgeschehens verstehen, um erfolgreich gegenzusteuern. So mussten zum Beispiel verfrühte Hoffnungen gedämpft werden, die frühere Tierversuche mit einem Wirkstoff gegen Glioblastome, einem Hirntumor, geweckt hatten: In Patienten wirkte dieses neue Medikament, ein Integrin-Inhibitor, merkwürdig schwach oder gar nicht. Und in niedriger Dosis tat es sogar das Gegenteil von dem, für das es die Onkologen vorgesehen hatten: Statt das Wachstum von Blutgefäßen zu Tumoren zu unterbinden, knipste es einen Wachstumsfaktor an, der die Krebszellen besser an die Nährstoff- und Sauerstoffversorgung anschloss. Die unerwartete Janusköpfigkeit des Wirkstoffes war in Mäusen vorher übersehen worden.
Zu einer ähnlich lehrreichen Enttäuschung gerieten Studien über die Ursachen von Neuroblastomen, einer besonders fatale Krebserkrankung, an der gerade junge Kinder leiden. Klar war, dass eine bestimmte Kinase in den kleinen Patienten häufig falsch funktioniert; zudem häufen sich im Erbgut von Betroffenen Mutationen in einem Gen, welches den Universal-Regulator N-Myc in den Zellen daraufhin häufiger produziert, als es den Zellen gut tut: Sie entarten. Das muss irgendwie zusammenhängen, hatten Forscher gedacht und wollten ursprünglich schlicht die Kinase ausschalten, um die überschießende Aktivität zu bremsen. Tatsächlich zeigte sich bei einem genauen Blick aber, dass auch völlig inaktive Kinasen an das überaktive N-Myc binden und es stabilisieren – es kann nun noch länger verschiedene Gene überaktivieren. Das offenbar wichtigste der von N-Myc regulierten Gene ist dabei ausgerechnet jenes für die Proteinkinase, die an N-Myc bindet: Ein Teufelskreis beginnt, der allein durch das Abschalten des einen Enzyms nicht durchbrochen werden kann.
Insgesamt müssen Menschen mit der Diagnose Krebs nicht mehr ganz düster in die Zukunft blicken: Auch wenn die neuen Ansätze der Tumorbekämpfung und Früherkennung noch einige Zeit brauchen werden, um in der Praxis eingesetzt zu werden, bewähren sich schon heute die Ideen der Vergangenheit. So führt zum Beispiel eine deutlich verbesserte Prävention und Früherkennung dazu, dass in Europa immer mehr Patienten von Krebs geheilt werden, wie eine groß angelegte Langzeitanalyse belegt. Nicht verwunderlich, dass immer verfeinerte Methoden der Krebs-Früherkennung darauf warten, sich auch im Alltag zu bewähren. Zwei Beispiel aus den vergangenen Monaten: Sensorenchips auf Nanobasis, die deutlich empfindlicher auf Pikogramm-Mengen von Tumorproteinen im Blut ansprechen, sowie ähnliche Sensoren, der in der ausgeatmeten Luft Hinweise auf eine Lungenkrebserkrankung erkennen.
Kleine Helfer und große Worte
In der Krebsforschung deuten Nanomaterialien, auf Chips oder in Tumorzellen erhitzt, also schon jetzt ihre Nützlichkeit auch in der Praxis an. Eine angenehme Entwicklung des vergangenen Jahres – waren doch bislang zu viele Versprechungen der Nanoforschung von keiner medizinisch relevanten und praxistauglichen Anwendungsinnovationen begleitet. Der Prozess sollte aber ohnehin wachsam angegangen werden: Zu wenig geklärt ist noch die Rolle, die Nanopartikel in Atemluft oder dem Allerweltseinsatz auch beim Auslösen verschiedener Krankheiten spielen. Dennoch bewähren sie sich auch heute schon als wirksame Verbündete nicht nur – siehe oben – gegen Krebs, sondern etwa auch in der Stammzelltherapie.
Generell arbeitete die Stammzellforschung in diesem Jahr eher am Feinschliff – Sensationen der Vorjahre, wie die Entdeckung der induzierten pluripotenen Stammzellen (iPS), blieben aus. Währenddessen perfektionierten Wissenschaftler in mehreren Schritten das Protokoll, mit dem die iP-Stammzellen produziert werden, nutzten verschiedene Körperzellen auch des Menschen zur Rückprogrammierung und therapierten zuvor sogar die genetischen Defekte der Spenderzelle. Viele Schwierigkeiten sind dabei überwunden – und ein paar noch unerkannte aufgetaucht. Um solche Probleme zu erkennen – und wohl der Aufmerksamkeit wegen – haben Forscher 2009 zudem gezeigt, dass aus rückprogrammierten Körperzellen einer Maus ebenfalls ein lebensfähiger Klon entstehen kann.
Und damit zum Schluss doch noch zu den besonders lauten, vielleicht auch besonders um Aufmerksamkeit heischenden Schlagzeilen des Jahres. Dabei ereignete sich mit dem ersten Auftreten des Virus-Subtypus "Influenza A(H1N1)2009" im Frühjahr in Mexiko rein wissenschaftlich kaum Spektakuläres. Der Auslöser der "Neuen" oder "Schweine-"Grippe – ein naher Verwandter des Erregers der verheerenden Spanischen Grippepandemie von 1918 – bekam zunächst zu Recht deshalb viel Aufmerksamkeit, weil er ansteckender zu sein schien und insgesamt häufiger auch jüngere, nicht geschwächte Menschen tötete. Zwar ist im Augenblick eine völlige Entwarnung verfrüht, schon weil tatsächlich gelegentlich gerade junge Menschen an der Erkrankung schwer leiden und sterben können. Am Ende dieses Jahres aber vermuten Ärzte sogar schon leise, dass das Schweinegrippe-Virus von 2009 positive Folgen haben kann, weil es die normale saisonale Grippe offenbar verdrängt und insgesamt seltener einen schweren Krankheitsverlauf auslöst.
Sicher ist, dass das Virus unser Allgemeinwissen über die Produktion von Impfstoffen, die Beigabe von "Adjuvantien" zu effektiven, aber riskanteren Vakzinen und die tiefere Bedeutung des Wortes "Pandemie-Warnstufe" aufgefrischt hat. Hoffentlich bleiben uns die relative H1N1-Harmlosigkeit und das neu erworbene Wissen erhalten.
Verschwinden darf dagegen gerne auch die Wirtschaftskrise. Doch halt: Statistisch gesehen, so haben Forscher im April herausgefunden, sorgen ökonomische Krisenzeiten dafür, dass Menschen insgesamt länger leben. Genießen Sie die gewonnene Zeit!
Mikro-Medizin
Beispielhaft zeigt das zum Beispiel die Forschung an "mikroRNA". Die lange unterschätzten Verwandten der bekannten Boten- oder Transfer-RNA ist noch vor Jahren völlig übersehen worden, weil kaum jemand die Funktion der kurzen Nukleotidketten hinterfragte oder gar überprüfte. Das änderte sich zwar nicht erst, seit ein Nobelpreis vor drei Jahren die Entdeckung der RNA-Interferenz auszeichnete, die ohne kleine, früher für funktionslosen Abfall gehaltene Kleinst-RNA undenkbar wäre. Aber erst dieses Jahr löste eine Lawine biologischer und medizinischer Forschungsergebnissen aus der Welt der mikroRNA aus: Insekten beispielsweise nutzen sie als Abwehrwaffe gegen Krankheitserreger, während eine andere miRNA im Gewebe von Mäusen für Herzinfarkte verantwortlich sein könnte. Wird diese RNA an ihrem Tun gehindert, könnte das Patienten helfen – genauso wie die Blockade einer miRNA in der Leber, die das Hepatitis-C-Virus zu stoppen scheint. Zusammengefasst: Unnütze Nukleotidketten dürfte es in lebenden Zellen kaum zu geben.
Apropos Nobelpreise: Wie immer schon gab es auch in diesem Jahr keinen Nobelpreis für Biologie, und wie altbewährt haben sich die das weite Feld der Biologie beackernde Wissenschaftler gerächt, indem sie gleich zwei andere Nobelpreise einheimsten – jene für Chemie und Medizin. Ausgezeichnet wurde dabei eine Forschungsleistungen mit enormer medizinische Bedeutung (die Entdeckung des lebensverlängernden Schutzkappenprinzips des Erbgutes) sowie eine bahnbrechende biochemische Pionierearbeit (die Strukturaufklärung der zellulären Eiweißfabriken). Klassische Chemiker sind dennoch nicht ganz glücklich – und hoffen auf das Jahr 1 nach dem Darwinjahr 2009.
Überhaupt: Neben dem 200. Geburtagstag des großen Evolutionsforschers verblassten ein wenig die anderen Jahrestage wie etwa der 75. Geburtstag der Affenforscherin Jane Goodall, der 150. Todestag des Universalisten Alexander von Humboldt oder der 90. Geburtstag des "Flossenmenschen und Herr der Haie", Hans Hass.
Belebte Erde
Übersehen wie echte Chemiker von Nobelpreiskomitees werden gelegentlich auch die manchmal wenig weltbewegenden, aber durchaus netten Erkenntnisse klassischer Biologen. Wahllos selektiert daher die schönsten Geschichten aus Tier- und Pflanzenwelt des Jahres – beginnend mit den bestorganisierten Staatsgründern der Welt, den Ameisen: Ihre Frauennation – soviel zum Thema Organisation – bedecken Kontinente, entscheiden rational , bekämpfen ökologische Gefahren, retten gemeinschaftlich bedrohte Schmetterlinge, kooperieren überhaupt erfolgreich mit allerlei Fremden, lieben den Duft der Heimat und können – wenn das nicht reicht – an Magnetfeldlinien entlang zu ihr zurückfinden.
Eindrucksvoll war ebenfalls, was in diesem Jahr von der prähistorischen Weltherrschaft der Pilze, den Tarntricks von Pflanzen oder der auch Asteroideneinschläge achselzuckend wegsteckenden Robustheit von Mikroben bekannt wurde. Auch das vielleicht hässlichste Wesen auf oder eher unter der Erde machte wieder von sich reden: Des Nacktmulls Hirn braucht erstaunlich wenig Sauerstoff.
Zurück zum Thema Gesundheit und Krankheit über die Breitband-Schnittstelle zwischen Biologie und Medizin – dem Immunsystem von Mensch, Tier und Pflanze: Letzteres unterstützt der regulierte Abwehrwall vor den Stomata-Öffnungen der Blätter – sie schließen sich, sobald Mikroben bedrohlich werde. In den Atemwegen der Menschheit passen dafür feine Härchen auf und warnen uns vor Giftstoffen. Unsere Milz – eine weitere Erkenntnis des Jahres 2009 – fungiert als Aushilfsimmunorgan und produziert Monozyten-Abwehrzellen, wenn andere Verteidiger des Körpers ausfallen. Verzichtbar, wie lange vermutet, ist die Milz also genauso wenig wie der Blinddarmfortsatz bei vielen Säugetieren.
Besonders in Stresssituationen braucht das Immunsystem ohnehin Hilfe – zum Beispiel auch gegen eigentlich harmlose Darmbakterien. Vor allem bei stark belasteten Menschen werden diese rasch zu einer Gesundheitsgefahr. Eigentlich nicht erst wissenschaftlich nachgewiesen werden musste, dass auch das "Komasaufen" von Jugendlichen dem Immunsystem abträglich ist. Überraschender wirkt da schon die Bestätigung einer seit längerem kursierenden Theorie, dass stark Betrunkene seltener auf dem OP-Tisch sterben. Nicht zu viel trinken wirkt allerdings präventiv: Vor allem stark Betrunkene landen überhaupt erst in einem OP, in dem sie sterben könnten.
Gegen den Krebs: Aufklärung und Keule
Am liebsten sähen auch Krebsforscher, wenn man die tödliche Entartung der Zellen schon verhindern könnte, bevor sie geschieht. So wünschenswert, so schwierig ist aber im Detail herauszufinden, warum welcher Krebs entsteht. Fortschritte gab es dabei durchaus: Zu den verschiedensten bekannten genetischen und äußeren Risikofaktoren gesellen sich seit diesem Jahr endgültig bestimmte Retroviren und auch bestimmte Stammzellen – beide lösen nachweislich Prostatakrebs aus, genetische Defekte müssen dafür nicht vorliegen. Solches Detailwissen macht auch Hoffnung: Nur ein enttarnter Feind kann wirkungsvoll bekämpft werden. Die beteiligten Forscher hoffen nun, antiretrovirale Medikament, die sich gegen HIV bewähren, einmal auch gegen den Krebs der Vorsteherdrüsen einsetzen zu können.
Wie viele andere Ansätze muss auch dieser im kommenden Jahr intensiver untersucht werden – man kann gar nicht genug über die Details des aus dem Ruder gelaufenen Zellgeschehens verstehen, um erfolgreich gegenzusteuern. So mussten zum Beispiel verfrühte Hoffnungen gedämpft werden, die frühere Tierversuche mit einem Wirkstoff gegen Glioblastome, einem Hirntumor, geweckt hatten: In Patienten wirkte dieses neue Medikament, ein Integrin-Inhibitor, merkwürdig schwach oder gar nicht. Und in niedriger Dosis tat es sogar das Gegenteil von dem, für das es die Onkologen vorgesehen hatten: Statt das Wachstum von Blutgefäßen zu Tumoren zu unterbinden, knipste es einen Wachstumsfaktor an, der die Krebszellen besser an die Nährstoff- und Sauerstoffversorgung anschloss. Die unerwartete Janusköpfigkeit des Wirkstoffes war in Mäusen vorher übersehen worden.
Zu einer ähnlich lehrreichen Enttäuschung gerieten Studien über die Ursachen von Neuroblastomen, einer besonders fatale Krebserkrankung, an der gerade junge Kinder leiden. Klar war, dass eine bestimmte Kinase in den kleinen Patienten häufig falsch funktioniert; zudem häufen sich im Erbgut von Betroffenen Mutationen in einem Gen, welches den Universal-Regulator N-Myc in den Zellen daraufhin häufiger produziert, als es den Zellen gut tut: Sie entarten. Das muss irgendwie zusammenhängen, hatten Forscher gedacht und wollten ursprünglich schlicht die Kinase ausschalten, um die überschießende Aktivität zu bremsen. Tatsächlich zeigte sich bei einem genauen Blick aber, dass auch völlig inaktive Kinasen an das überaktive N-Myc binden und es stabilisieren – es kann nun noch länger verschiedene Gene überaktivieren. Das offenbar wichtigste der von N-Myc regulierten Gene ist dabei ausgerechnet jenes für die Proteinkinase, die an N-Myc bindet: Ein Teufelskreis beginnt, der allein durch das Abschalten des einen Enzyms nicht durchbrochen werden kann.
In beiden Fällen sind Forscher trotz des Ausbleibens schneller Erfolge ein paar Sprossen auf der Erkenntnisleiter geklettert. Aber während sie die ersten Ideen für neue Medikamente ad acta legen mussten, haben andere Kollegen mögliche Therapieformen gegen Krebs viel versprechend weiterentwickelt. Statt dem feinen Florett der Biomedizin bietet sich seit diesem Jahr mehr auch rohe, aber gezielte physische Gewalt an, um Tumorzellen buchstäblich zu zerreißen oder zerschmelzen. Problematisch bleibt hierbei noch, die auf die Tumoren gemünzte Gewalt nicht versehentlich auch auf benachbartes, gesundes Gewebe zu lenken. Das könnte klappen, indem stark vibrierende Scheiben auf den Tumoren fixiert werden, die schon durch sehr schwache äußere Magnetfelder angestoßen werden – oder auch durch die tödliche Kombination von Nanoröhrchen, mit denen die Tumorzellen zunächst gespikt werden, und Wärmestrahlung, die dann vor allem diese Nanoröhrchen stark erhitzt und den Krebs ausglüht.
Insgesamt müssen Menschen mit der Diagnose Krebs nicht mehr ganz düster in die Zukunft blicken: Auch wenn die neuen Ansätze der Tumorbekämpfung und Früherkennung noch einige Zeit brauchen werden, um in der Praxis eingesetzt zu werden, bewähren sich schon heute die Ideen der Vergangenheit. So führt zum Beispiel eine deutlich verbesserte Prävention und Früherkennung dazu, dass in Europa immer mehr Patienten von Krebs geheilt werden, wie eine groß angelegte Langzeitanalyse belegt. Nicht verwunderlich, dass immer verfeinerte Methoden der Krebs-Früherkennung darauf warten, sich auch im Alltag zu bewähren. Zwei Beispiel aus den vergangenen Monaten: Sensorenchips auf Nanobasis, die deutlich empfindlicher auf Pikogramm-Mengen von Tumorproteinen im Blut ansprechen, sowie ähnliche Sensoren, der in der ausgeatmeten Luft Hinweise auf eine Lungenkrebserkrankung erkennen.
Kleine Helfer und große Worte
In der Krebsforschung deuten Nanomaterialien, auf Chips oder in Tumorzellen erhitzt, also schon jetzt ihre Nützlichkeit auch in der Praxis an. Eine angenehme Entwicklung des vergangenen Jahres – waren doch bislang zu viele Versprechungen der Nanoforschung von keiner medizinisch relevanten und praxistauglichen Anwendungsinnovationen begleitet. Der Prozess sollte aber ohnehin wachsam angegangen werden: Zu wenig geklärt ist noch die Rolle, die Nanopartikel in Atemluft oder dem Allerweltseinsatz auch beim Auslösen verschiedener Krankheiten spielen. Dennoch bewähren sie sich auch heute schon als wirksame Verbündete nicht nur – siehe oben – gegen Krebs, sondern etwa auch in der Stammzelltherapie.
Generell arbeitete die Stammzellforschung in diesem Jahr eher am Feinschliff – Sensationen der Vorjahre, wie die Entdeckung der induzierten pluripotenen Stammzellen (iPS), blieben aus. Währenddessen perfektionierten Wissenschaftler in mehreren Schritten das Protokoll, mit dem die iP-Stammzellen produziert werden, nutzten verschiedene Körperzellen auch des Menschen zur Rückprogrammierung und therapierten zuvor sogar die genetischen Defekte der Spenderzelle. Viele Schwierigkeiten sind dabei überwunden – und ein paar noch unerkannte aufgetaucht. Um solche Probleme zu erkennen – und wohl der Aufmerksamkeit wegen – haben Forscher 2009 zudem gezeigt, dass aus rückprogrammierten Körperzellen einer Maus ebenfalls ein lebensfähiger Klon entstehen kann.
Und damit zum Schluss doch noch zu den besonders lauten, vielleicht auch besonders um Aufmerksamkeit heischenden Schlagzeilen des Jahres. Dabei ereignete sich mit dem ersten Auftreten des Virus-Subtypus "Influenza A(H1N1)2009" im Frühjahr in Mexiko rein wissenschaftlich kaum Spektakuläres. Der Auslöser der "Neuen" oder "Schweine-"Grippe – ein naher Verwandter des Erregers der verheerenden Spanischen Grippepandemie von 1918 – bekam zunächst zu Recht deshalb viel Aufmerksamkeit, weil er ansteckender zu sein schien und insgesamt häufiger auch jüngere, nicht geschwächte Menschen tötete. Zwar ist im Augenblick eine völlige Entwarnung verfrüht, schon weil tatsächlich gelegentlich gerade junge Menschen an der Erkrankung schwer leiden und sterben können. Am Ende dieses Jahres aber vermuten Ärzte sogar schon leise, dass das Schweinegrippe-Virus von 2009 positive Folgen haben kann, weil es die normale saisonale Grippe offenbar verdrängt und insgesamt seltener einen schweren Krankheitsverlauf auslöst.
Sicher ist, dass das Virus unser Allgemeinwissen über die Produktion von Impfstoffen, die Beigabe von "Adjuvantien" zu effektiven, aber riskanteren Vakzinen und die tiefere Bedeutung des Wortes "Pandemie-Warnstufe" aufgefrischt hat. Hoffentlich bleiben uns die relative H1N1-Harmlosigkeit und das neu erworbene Wissen erhalten.
Verschwinden darf dagegen gerne auch die Wirtschaftskrise. Doch halt: Statistisch gesehen, so haben Forscher im April herausgefunden, sorgen ökonomische Krisenzeiten dafür, dass Menschen insgesamt länger leben. Genießen Sie die gewonnene Zeit!
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