Fossil »Lucy«: Ein Fund wie Donnerhall

Manchmal, aber nur manchmal, stößt man bei Feldforschungen auf Fossilien, die so außergewöhnlich sind, dass sie unser Wissen über die Entstehung und Entwicklung eines ganzen Stammbaums über den Haufen werfen. Genau solch eine Entdeckung machte einer von uns (Johanson) vor gut 50 Jahren auf einer Expedition in der Region Afar in Äthiopien. Am 24. November 1974 war Johanson gemeinsam mit dem Studenten Tom Gray auf die Suche nach Fossilien gegangen. Sie wollten Überreste von Homininen finden, Vorfahren von modernen Menschen aufspüren. Die Augen fest auf den Boden gerichtet, erblickte Johanson ein Stück Ellenbogenknochen. Dessen Form wirkte menschenartig. Der Paläoanthropologe sah den Hang hinauf und erspähte weitere Knochenfragmente, die in der Mittagssonne schimmerten. In den folgenden Wochen, Monaten und Jahren barg das Expeditionsteam die Knochen, die aus dem Hang gewaschen worden waren, analysierte sie und stellte fest: Johanson hatte ein einzigartiges Teilskelett gefunden. Es waren die Überreste eines frühen Menschenvorfahren, der vor etwa 3,2 Millionen Jahren gelebt hatte.
Die Forscher bestimmten die Knochenstücke als neue Art namens Australopithecus afarensis. Als Fundnummer vergaben sie die Bezeichnung A. L. 288-1, abgekürzt für »Afar Locality 288«. An jener Stelle war das bis dahin früheste Fossil eines Homininen zum Vorschein gekommen – jener Gruppe, zu der sämtliche Vertreter der Gattungen Australopithecus und Homo gehörten. Besser bekannt ist A. L. 288-1 unter dem Spitznamen Lucy. Ihre Entdeckung lieferte den Anlass, bestimmte Stationen in der Evolutionsgeschichte des Menschen komplett zu überdenken. Wann nahm die Menschheit ihren Anfang? Wie eng waren diese längst verschwundenen Mitglieder der Menschenfamilie miteinander verwandt? Und wie eng mit uns? An Lucys Skelett ließen sich affenähnliche und menschenartige Merkmale ausmachen. Ihre Spezies musste demnach eine Schlüsselstelle in unserem Stammbaum eingenommen haben. Sie könnte die Vorfahrin aller nachfolgenden Vor- und Urmenschen gewesen sein, also auch der Angehörigen unserer Gattung Homo.
Es wäre allerdings problematisch, eine These von diesem Kaliber auf nur einem einzigen fossilen Individuum aufzubauen. Und tatsächlich haben Fachleute in dem halben Jahrhundert seit Lucys Entdeckung zahlreiche weitere Exemplare von A. afarensis geborgen. Derartige Funde ermöglichten es uns, bemerkenswert detaillierte Kenntnisse über diese Spezies zu sammeln. Darüber, wo sie einst umherstreifte, wie sie lebte, wie sich die einzelnen Individuen voneinander unterschieden und wie lange die Art existierte.
Inzwischen wissen wir auch, wer Lucys Vorgänger waren und wer ihre Zeitgenossen. Das ist vielleicht die bedeutendste Erkenntnis auf dem Gebiet der Humanevolution seit Lucys Entdeckung: dass in unserer Vorgeschichte mehrere menschliche Arten gleichzeitig auf der Erde umherstreiften. Einer von uns (Haile-Selassie) hat Überreste ebenjener Homininen aufgespürt, die zur selben Zeit und in derselben Region wie A. afarensis lebten. Diese Mitglieder der Menschenfamilie bildeten das Umfeld, in dem sich Lucys Spezies entwickelte – und aus der wir hervorgegangen sein könnten.

Altes Wissen über frühe Vormenschen
Lucy hat die Paläoanthropologie grundlegend verändert. Das liegt an dem Zeitpunkt ihrer Entdeckung und dem damaligen Stand der Wissenschaft. Anfang der 1970er Jahre stammten die ältesten bekannten homininen Fossilien aus Südafrika und zählten zu einer Art namens Australopithecus africanus. Ihr Alter lag bei ungefähr zwei bis zweieinhalb Millionen Jahren. Alle Überreste, die als jünger eingestuft wurden, unterteilte man in zwei Gruppen: in »robuste« Australopithecinen mit ihren riesigen Backenzähnen und kräftigen Kiefern sowie in »grazile« Australopithecinen, zu denen auch unsere Gattung Homo gehören sollte. Obwohl Fachleute A. africanus zu den grazilen Vertretern rechneten, ähnelten seine Knochen eigentlich keiner Spezies der beiden Gruppen.
Dennoch hatten wir nur diesen einen Homininen, der ausreichend gut dokumentiert und zugleich alt genug war, um als Vorläufer der jüngeren Australopithecinen in Frage zu kommen. Zwar gab es einige ältere Knochensplitter aus Ostafrika, die waren aber zu wenig, um sie irgendeiner Art zuzuschreiben. Daher beruhten die Stammbäume der Paläoanthropologen damals auf A. africanus – dem einen Urahn der Gattung Homo und der »robusten« Australopithecinen. Um diese These zu bekräftigen, waren jedoch mehr gut erhaltene Fossilien nötig. Vor allem solche, deren Alter weiter zurückreichte als drei Millionen Jahre.
Im Frühjahr 1972 reiste Johanson mit dem französischen Geologen Maurice Taieb (1935–2021) nach Äthiopien – mit dem Ziel, solche Fossilien aus der Menschenfamilie zu entdecken, die älter als drei Millionen Jahre sein würden. Taieb führte Johanson in die Region Afar im Nordosten Äthiopiens. Dort hatte der Franzose bereits Überreste von Schweinen und Elefanten gefunden, die offenbar aus jener Zeit stammten, die Johanson im Visier hatte. Vielleicht schlummerten dort ja nicht nur Teile von Tieren im Boden, sondern auch solche von Homininen.
Zunächst erkundete die Forschergruppe in der Region verschiedene Fundplätze, konzentrierte sich aber schließlich auf einen Ort namens Hadar. Die Knochen, die sie dort vorfand, konnte sie diversen Lebewesen zuweisen: Nagern, Elefanten, Nashörnern, Flusspferden, Affen, Antilopen, Pferden und Fleischfressern. Vor Millionen von Jahren bot Hadar also einer großen Vielfalt an Tieren ein geeignetes Habitat. Die Gegend erschien somit viel versprechend für die Suche nach frühen Menschenvorfahren. Johanson war jedenfalls klar, dass – sollte er Fossilien von Homininen finden – sie alle bisherigen Erkenntnisse über die Menschwerdung in Frage stellen könnten.

Als das Expeditionsteam im darauffolgenden Jahr nach Hadar kam, machte Johanson eine aufregende Entdeckung. Er fand ein fossiles Kniegelenk, ungefähr 3,4 Millionen Jahre alt. Die Anatomie der Knochen legte nahe, dass sie einst einem Homininen gehörten – und zwar einem, der wie wir aufrecht ging. Die Forscher hatten den richtigen Riecher gehabt: In Hadar hatten einst Hominine gelebt. Johanson vermutete, dass das Kniegelenk von einem Australopithecinen stammte. Doch mit dem Wenigen, was er bis dahin gefunden hatte, konnte er nicht feststellen, ob es zu einem A. africanus oder einer neuen Art gehörte. Was das Team dringend brauchte, waren Funde von Schädelfragmenten oder Zähnen, also von Skelettteilen, die eindeutige Merkmale zur Unterscheidung fossiler Säugetierarten boten. Es blieb nur zu hoffen, dass in der nächsten Feldkampagne aussagekräftige Knochenreste auftauchen würden.
»Lucy in the Sky with Diamonds«
An jenem denkwürdigen Novembertag im Jahr 1974 ging die Hoffnung – und auch ein Traum – in Erfüllung. Von Lucy hatten Schädelfragmente sowie der Unterkiefer mit Zähnen die Jahrmillionen überdauert, ebenso Teile der Arm- und Beinknochen, Fragmente des Beckens, der Wirbelsäule und der Rippen. Insgesamt 47 Knochen zählten die Forscher. Damit waren unfassbare 40 Prozent des Skeletts eines einzigen Individuums erhalten geblieben. Die Überreste versprachen völlig neue Einblicke in die Vergangenheit des Menschen.
Im Camp feierte das Expeditionsteam die Entdeckung. Dabei säuselte aus dem Kassettenrekorder der Beatles-Song »Lucy in the Sky with Diamonds«. Das Lied wurde zum Taufpaten für das Skelett, das bald schon als Sensationsfund galt. Niemand hatte bis dahin etwas Vergleichbares gefunden. Lucy muss sehr klein gewesen sein. Aus ihrem 30 Zentimeter langen Oberschenkelknochen ergab sich, dass sie nur etwa einen Meter groß und zirka 30 Kilogramm schwer war. Die Gebeine verrieten noch mehr: Wie man es von vielen anderen Tieren kannte, war für die frühen Homininen ebenfalls anzunehmen, dass auf Grund eines Sexualdimorphismus die männlichen Vertreter viel größer als die weiblichen waren. Ausgehend davon war Lucy viel zu klein, um ein Männchen zu sein. Zudem bezeugten ihre durchgebrochenen Weisheitszähne, dass sie ausgewachsen war. Auch waren die Wachstumsfugen ihrer Langknochen geschlossen.
Anhand des Skeletts ließ sich zudem Lucys Bewegungsweise rekonstruieren. Johanson und seine Kollegen untersuchten dazu die Knochenreste von Knie, Hüfte und Knöchel; und sie führten biomechanische Studien durch. Ihr Ergebnis: Lucy ging aufrecht – für Charles Darwin noch ein untrügliches Merkmal des Menschen – und das in einer uns ähnlichen Gangart. Nicht alle Fachkollegen stimmten dem zu. Ihrer Meinung nach lief Lucy mit eingeknickten Knien und gebeugter Hüfte, so wie sich Schimpansen gelegentlich auf zwei Beine aufrichten und lostapsen.
Die Debatte endete 1978. Damals waren Forscher in Laetoli in Tansania auf Fußspuren gestoßen, die Homininen vor 3,7 Millionen Jahren in noch weicher Vulkanasche hinterlassen hatten. Einige Abdrücke waren hervorragend erhalten und zeigten alle Merkmale eines modernen menschlichen Fußabdrucks. Wer durch die Asche in Laetoli geschritten war, lief also nicht wie ein Schimpanse, sondern wie ein Homo sapiens. Weil sich überdies in Laetoli Zähne und Kieferteile von Homininen gefunden haben, die solchen aus Hadar ähnelten, lag es nahe anzunehmen, dass Lucys Art einst auch in Laetoli umhergestapft war.
Einige Merkmale verorten Lucy klar in die Gattung der Australopithecinen. Dazu gehören ein fliehendes Kinn, ein stark vorspringender Kieferbereich, eine sehr niedrige Stirn und ein geringes Hirnvolumen. Manche Details ihrer Anatomie lassen sie allerdings primitiver erscheinen als andere Arten dieser Gattung. So war einer ihrer vorderen Backenzähne oval geformt und besaß nur einen einzigen Höcker, wie man es von Affen kennt. Auch ihre Beine waren verhältnismäßig kurz; möglicherweise handelte es sich um ein evolutionäres Überbleibsel, weil sich ihre Vorläufer vornehmlich in Bäumen aufhielten. Zudem fanden sich zwar nur Bruchstücke ihres Schädels, doch das Wenige lässt auf ein Gehirnvolumen von 388 Kubikzentimetern schließen. Das ist sehr klein im Vergleich zum modernen menschlichen Gehirn, das im Durchschnitt 1400 Kubikzentimeter groß ist. Lucys Gehirn rückte sie eher in die Nähe eines heutigen Schimpansen. Das bestätigte aber, was Fachleute zuvor schon angenommen hatten: Der aufrechte Gang hatte sich herausgebildet, bevor die Homininen größere Gehirne entwickelten.
Weil so viele Teile ihres Skeletts erhalten waren, lieferte Lucy eine Flut an neuen Daten. Trotzdem stellte sie nur ein einziges Individuum dar. Um mehr über A. afarensis herauszufinden, mussten wir weitere Exemplare finden. Deshalb setzten wir unsere Feldforschungen in Hadar und an anderen Fundplätzen in der Region fort – und wurden belohnt. Eine Fülle neuer Fossilien formte Stück für Stück ein immer präziseres Bild von A. afarensis.
Fund einer ganzen Sippe von Australopithecinen
Nur ein Jahr, nachdem das Hadar-Team Lucys Überreste in »Afar Locality 288« aufgelesen hatte, entdeckte es an der nah gelegenen Fundstelle »Afar Locality 333« mehr als 200 weitere Fossilien von Homininen. Sie waren aus einer einzigen Gesteinsschicht herausgebröckelt. Der Fund ließ sich auf ein Alter von gut 3,2 Millionen Jahren datieren und umfasste Knochen von männlichen und weiblichen Erwachsenen sowie Überreste von Säuglingen und Jugendlichen. Es waren mindestens 17 Individuen, die vermutlich alle miteinander verwandt waren. Diese Australopithecinen waren bald bekannt als »Erste Familie«.
Die vielen Homininenfossilien aus Hadar zusammen mit den Funden aus Tansania ergaben inzwischen genug Material, um die Schädelform von Lucys Art zu rekonstruieren und so ihren Platz im menschlichen Stammbaum zu bestimmen. Johanson und seine Kollegen machten sich also an eine umfassende Studie, verglichen alle damals bekannten Australopithecus-Spezies miteinander und kamen 1978 zu dem Schluss, dass zwar einige Zahn- und Schädelmerkmale denen anderer Australopithecinen ähneln, die Fossilien aus Hadar und Laetoli jedoch in ihrer Gesamtheit eine eigene Art darstellen: Australopithecus afarensis. Außerdem war für das Forscherteam klar, dass nicht A. africanus der letzte gemeinsame Vorfahre aller späteren Homininen war – einschließlich der Gattung Homo und der robusten Australopithecinen –, sondern A. afarensis diese Stellung im Stammbaum eingenommen hatte.

Nicht alle Fachkollegen stimmten zu. Wie konnte A. afarensis zum Vorläufer auserkoren werden, wenn die Fossilfunde im Zeitraum von vor drei bis vor zwei Millionen Jahren derart spärlich gesät sind? Um unsere These zu erhärten, waren also erneut weitere Fossilien nötig.
Inzwischen liegen solche Belege vor. Im Jahr 1985 entdeckten Forscher im Norden Kenias einen 2,5 Millionen Jahre alten Schädel. Das wegen seiner dunklen Färbung auch »Black Skull« genannte Fossil rechneten Paläoanthropologen den robusten Australopithecinen zu. Es erhielt die wissenschaftliche Bezeichnung Paranthropus aethiopicus. Dieser Vormensch verfügte über einen kräftigen Kauapparat mit großen Schneide- und Backenzähnen. Das Gebiss ähnelte den Zähnen eines weiteren robusten Australopithecinen, der als Nussknacker-Mensch bekannt ist. Dabei handelt es sich um die Art Paranthropus boisei, die vor 1,8 Millionen Jahren existierte. Der »Schwarze Schädel« hat zudem einige Merkmale mit A. afarensis gemeinsam, beispielsweise das weit vorstehende Untergesicht. Bringt man die drei Arten zusammen, dann muss A. afarensis ein Vorläufer von P. aethiopicus gewesen sein, der wiederum P. boisei vorangegangen ist.
Vormenschen mit beachtlicher Beißkraft
Ein weiterer Fund aus Äthiopien untermauerte die These, dass die ostafrikanischen Australopithecinen aus Lucys Art hervorgegangen waren. Im Jahr 1990 kam im mittleren Awash-Tal ein Schädel zum Vorschein, ungefähr genauso alt wie der »Black Skull«. Die Entdecker bestimmten das Fossil als neue Art und tauften es Australopithecus garhi. Datierung und Fundort ließen den Ausgräbern zufolge keinen Zweifel daran, dass es sich um einen Vorfahren der Homo-Linie handelte. Wie die robusten Australopithecinen konnte auch dieses Exemplar offenbar kräftig zubeißen. Es besaß einen großen Kiefer und einen Knochenkamm auf der Schädeloberseite. An dem Knochenfortsatz waren einst die starken Kaumuskeln verankert. Sein Gesicht war zudem ähnlich aufgebaut wie bei A. afarensis. Einige Paläoanthropologen sind überzeugt, dass A. garhi von A. afarensis abstammte und seine beeindruckende Kauanatomie parallel zu den robusten Australopithecinen ausbildete. Von diesem Vormenschen stammten aber keinen weiteren Homininen ab.
Dass A. afarensis den Weg zu unserer Gattung Homo ebnete, legten noch weitere Funde nahe. Bis in die 1990er Jahre war kein Fossil eines Homo bekannt, das weiter zurückreichte als zwei Millionen Jahre. Das ergab eine sehr große Datenlücke von mehr als einer Million Jahre zwischen dem jüngsten Exemplar von A. afarensis und dem ältesten Homo. Dies änderte sich 1994. Damals fanden Forscher in Hadar einen 2,33 Millionen Jahre alten Knochen, der einst den Gaumen eines Vormenschen bildete. Der Form nach stand das Fossil dem Homo habilis nahe, der den Anbeginn unserer Gattung markiert. Damit verringerte sich die zeitliche Distanz zwischen den beiden Gattungen um einige hunderttausend Jahre.
Dann stieß 2013 ein Team an der Fundstelle Ledi-Geraru nordöstlich von Hadar auf das 2,8 Millionen Jahre alte Fragment eines Unterkiefers. Anatomisch gesehen vereint das Knochenstück primitive Merkmale von A. afarensis sowie Eigenheiten eines frühen Homo. Der Ledi-Geraru-Kiefer schloss somit nicht nur die zeitliche Lücke zwischen den beiden Homininen, sondern bezeugte auch eine morphologische Verwandtschaft. Damit erhärtete sich die Anfangsvermutung: A. afarensis war der wahrscheinlichste Kandidat für den Vorfahren unserer eigenen Gattung.
Sicher ist: Australopithecus afarensis war nicht allein
Menschliche Fossilien sind grundsätzlich rar gesät. Deshalb kann jeder neue Fund den anerkannten Forschungsstand drastisch verändern. Als A. afarensis 1978 als neue Art benannt wurde, galt sie mit einem Alter von 3 bis 3,8 Millionen Jahren als frühester menschlicher Vorfahre. Fossilien, die Fachleute Mitte der 1990er Jahre geborgen haben, reichten sogar noch weiter zurück. Im Jahr 1994 legten Paläoanthropologen im Gebiet Mittlerer Awash in Äthiopien hominine Überreste frei, die sie auf ein Alter von 4,4 Millionen Jahren datierten. Sie ordneten die Knochen einer neuen Art zu, Ardipithecus ramidus. Bereits im Jahr darauf fanden sich Skelettteile einer weiteren neue Art in Kanapoi und Allia Bay unweit des Turkana-Sees in Kenia: Australopithecus anamensis, der vor 4,3 bis 3,8 Millionen Jahren lebte. Damit konnte A. afarensis nicht mehr als der älteste bekannte Hominine herhalten, aber sein eigener Stammbaum ließ sich erweitern. Denn vermutlich war A. anamensis der direkte Vorfahre von A. afarensis. Jüngst tauchten nun Funde im Tschad, in Kenia und Äthiopien auf, die den Ursprung der Menschheit noch weiter in die Vergangenheit rücken, in eine Zeit von vor sieben Millionen Jahren.
Wer ist der wahre Urahn?
Sicher ist: A. afarensis war nicht allein. Die vielen neuen Fossilien haben gezeigt, dass es einst weitere Homininenarten gab. Damit stellt sich die Frage, ob wirklich Lucys Artgenossen oder nicht eher eine der anderen Spezies irgendwann in die Gattungen Homo und Paranthropus mündeten. Diese Fundstücke schmälern keineswegs die Bedeutung von Lucys Art, vielmehr bereichern sie die Geschichte ihrer Entstehung. Damit können wir nun sehr viel mehr Etappen in jener Stammeslinie abstecken, die letztlich zu uns modernen Menschen führte. Außerdem schälen sich die Faktoren, die auf diese Entwicklung einwirkten, deutlicher heraus. Und letztlich zeigt sich, dass die Evolution von uns Menschen weitaus komplexer verlief, als es Paläoanthropologen lange Zeit vermutet haben.
In der Zeit vor 1960 herrschte in der Humanevolution die Lehrmeinung vor, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit stets nur eine Homininenart existierte. Die Annahme resultierte aus einer biologischen Theorie: dem Konkurrenzausschlussprinzip. Demzufolge können zwei ähnlich an ihre Umgebung angepasste, verwandte Arten nicht dieselbe Nische besetzen, weil sie so zu Konkurrenten würden und irgendwann eine der beiden Spezies die andere verdrängen würde. Die bis dahin entdeckten menschenähnlichen Überreste schienen das Prinzip zu bestätigen – bis man Fossilien von zwei verschiedenen Arten in Kenia und Tansania frei legte, die jeweils in derselben geologischen Schicht lagen. Im Fall von A. afarensis fehlten allerdings Zeugnisse einer Koexistenz mit anderen Homininen. Daher erklärten Fachleute Lucy weiterhin zur Urmutter aller späteren Australopithecinen und Menschenformen.

Doch diese These hielt nicht lange stand. An verschiedenen Orten in Ost- und Zentralafrika tauchten weitere Fossilien auf. 1995 entdeckte ein Team um den französischen Paläontologen Michel Brunet ein 3,5 Millionen Jahre altes Kieferfragment an der Fundstelle Koro Toro im Norden des Tschad in Zentralafrika. Brunet ordnete es einer neuen Art zu, Australopithecus bahrelghazali. Das Fossil war von großer Bedeutung, nicht nur, weil Paläoanthropologen es weit entfernt vom Ostafrikanischen Graben entdeckt hatten, wo sich bis dahin fast alle frühen Homininen fanden, sondern weil es ungefähr in dieselbe Zeit datierte wie A. afarensis. Zwar waren nicht alle Fachkollegen überzeugt von Brunets Vorschlag – der Kiefer würde nicht genügend spezifische Merkmale aufweisen, um ihn einer neuen Spezies zuzuschreiben. Dennoch lieferte das Knochenstück ein erstes Indiz, dass Lucy und ihre Artgenossen womöglich nicht die einzigen Homininen waren, die vor etwa 3,5 Millionen Jahren in Afrika umherstreiften.
Ein zweiter Hinweis ergab sich 2001, als die Paläoanthropologin Meave Leakey und ihr Team die Entdeckung eines 3,5 Millionen Jahre alten Schädels aus Lomekwi am Turkana-See in Kenia bekannt gaben. Sie bestimmten das Fossil als neue Art einer bislang unbekannten Gattung namens Kenyanthropus platyops. Ausschlaggebend für ihre Deutung war unter anderem das ausgeprägt flache Gesicht von Kenyanthropus. Allerdings wurde auch diese Zuschreibung in Frage gestellt. Der Schädel sei zu stark zertrümmert, um seine einstige Gestalt korrekt rekonstruieren zu können. Wie solle man aus einem zerquetschten Fossil eine neue Spezies ableiten? Doch durch den Fund regte sich erneut der Verdacht, dass A. afarensis möglicherweise nicht allein war – selbst in Ostafrika.
Ein neuer Fundplatz mit neuen Spezies
Die Beweislage erhärtete sich, als Haile-Selassie entscheidende Knochenstücke vorlegte. Vor gut zwei Jahrzehnten hatte er sich aufgemacht, in der Region Afar neue Fundstellen von Homininenfossilien aufzuspüren. Seine Mühen zahlten sich aus, als er Woranso-Mille entdeckte, einen spektakulären Fundplatz nur 40 Kilometer nördlich von Hadar gelegen. Die dortigen Knochenüberreste stammten aus einer Phase von vor 3,8 bis vor 3 Millionen Jahren. Mittlerweile zählt Woranso-Mille zu den bedeutendsten Fundorten von Homininen in Afrika.
Was den Ort so besonders macht, sind die vielen verschiedenen homininen Fossilien, die dort zum Vorschein kamen. So gibt es Überreste von A. anamensis, darunter einen fast vollständigen Schädel, der uns erstmals die Gesichtsform dieses Vorfahren erahnen lässt. Dann fanden sich Skelettteile von Lucys Art, die im Stammbaum auf A. anamensis folgte, sowie Überreste von weiteren Homininen. Als Nächstes, 2012, veröffentlichten Haile-Selassie und seine Kollegen den rätselhaften Fußknochen einer bislang noch unbestimmten Art. Der so genannte Burtele-Fuß weist einen abspreizbaren großen Zeh auf, wie er eher für Affen oder Baumkletterer typisch ist. Die Knochen lagen in einer 3,4 Millionen Jahre alten Sedimentschicht. Damit war klar: Dieser Hominine lebte zur selben Zeit wie A. afarensis. Dennoch gehörte er ganz sicher nicht zu jener Spezies, denn deren großer Zeh lag parallel zu den anderen Zehen, wie es auch bei uns, Homo sapiens, der Fall ist. Ohne weitere Fossilien von einem Schädel oder von Zähnen wollten die Forscher die Fußknochen jedoch keiner Art zuschreiben. Trotzdem bezeugt der Fund, dass Lucys Spezies und ein völlig anderer Hominine zur selben Zeit in derselben Region lebten.
Waren Lucy und Co tatsächlich die Vorläufer unserer Gattung Homo?
Und nicht nur das – sie waren vielleicht sogar zu dritt. Haile-Selassie und seine Kollegen gaben 2015 bekannt, fossile Ober- und Unterkiefer in Woranso-Mille entdeckt zu haben. Diese Knochen würden nicht nur von einer bis dahin unbekannten Art stammen, Australopithecus deyiremeda, sondern sie seien auch genauso alt wie A. afarensis und der Eigentümer des mysteriösen Burtele-Fußes – zwischen 3,3 und 3,5 Millionen Jahren. Möglicherweise gehörten die Fußknochen ebenfalls zu einem A. deyiremeda, weil die jeweiligen Fossilien unweit voneinander zum Vorschein kamen. Ob das zutrifft oder ob es sich um eine eigene Spezies handelt, bleibt abzuwarten.
Baumkletterer und Bodenbewohner
Die Fundstätte Woranso-Mille hat gezeigt, dass A. afarensis nicht nur auf demselben Kontinent oder sogar auf derselben Seite des afrikanischen Kontinents lebte wie andere Homininenarten, sondern dass all diese Vormenschen im selben Habitat unterwegs waren. Das war vermutlich möglich, weil sie an unterschiedliche Nischen angepasst waren. Die Spezies des Burtele-Fußes konnte wahrscheinlich besser als A. afarensis auf Bäume klettern und im Blätterdach auf Nahrungssuche gehen, während Lucy und ihre Artgenossen vermehrt am Boden umherzogen.
Eine Frage bleibt: Sowohl in Hadar als auch in Woranso-Mille hatte A. afarensis neben zahlreichen Säugetierarten existiert. Doch nur in Woranso-Mille gab es laut aktuellem Wissensstand mehr als eine Homininenart. Warum nur dort, aber nicht im nahe gelegenen Hadar? Vergleicht man die einstigen Umweltbedingungen an beiden Orten, drängt sich eine Vermutung auf. In Woranso-Mille bot die Gegend vermutlich mehr unterschiedliche Habitate. Somit hätten dort mehrere Hominine ohne allzu großen Konkurrenzdruck nebeneinander leben können.
Wenn A. afarensis nicht allein war, sondern weitere Homininenarten gleichzeitig mit ihm existierten, stellt sich die Frage, ob Lucy und Co tatsächlich die Vorläufer der Gattung Homo waren. Folglich müssen wir überlegen, ob eine der anderen Spezies einen besseren Kandidaten für den Urahnen abgibt als A. afarensis. Die Sache gestaltet sich jedoch schwierig. Wir haben schlicht zu wenig Fossilien von den Alternativen, um sie sinnvoll vergleichen zu können.
Manche Forscher haben sich beispielsweise dafür ausgesprochen, dass K. platyops ein Vorfahre der Gattung Homo war, weil er ebenso wie die frühen Vertreter jener Gruppe ein flaches Gesicht besaß. Aber bisher kennen wir nur einen Schädel von K. platyops, der noch dazu stark zertrümmert ist. War das Gesicht dieses Vormenschen tatsächlich flach oder sind die wahren Merkmale einfach zu schlecht erhalten? Was wir brauchen, sind besser erhaltene Schädel jener Spezies. Hinzu kommt, dass zwischen K. platyops und seinem mutmaßlichen Abkömmling, Homo rudolfensis, eine Lücke von etwa einer Million Jahren klafft. Die beiden Homininen lassen sich also kaum miteinander in Verbindung bringen. Hätten wir mehr Fossilien von K. platyops, die noch dazu aus verschiedenen Zeiten stammten, wüssten wir, wie lange die Art existiert hat. Das könnte die Lücke schließen. Aber wir haben solche Daten nicht.
Wir wissen noch zu wenig über K. platyops und die anderen Zeitgenossen von A. afarensis, um diese Homininen genauer zu beschreiben und ihren Platz in der Menschenfamilie exakter zu verorten. Damit bleibt als bester Kandidat für den Vorfahren von Homo und Paranthropus immer noch A. afarensis, von dem aus einem Zeitraum von etwa 800 000 Jahren hunderte Fossilien erhalten sind – von jugendlichen Exemplaren wie von Erwachsenen. Sollten weitere Überreste der anderen Homininen ans Licht kommen, könnte einer von ihnen zum neuen Favoriten aufsteigen. Bis dahin behält A. afarensis seine Stellung nicht nur als eine der wichtigsten Arten in der Entwicklungsgeschichte des Menschen, sondern auch als unser wahrscheinlichster Urahn.

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