Vertikale Fotovoltaik: Die Senkrechtstarter

Auf den ersten Blick erscheint es widersinnig, Solarzellen senkrecht auf ein Feld zu stellen. Als dunkle, schmale Mauer, und dann auch noch in Ost-West-Ausrichtung. Wo doch jedes Kind lernt, dass die heiße, energiepralle Mittagssonne hier zu Lande aus dem Süden scheint, und jeder Fotovoltaikingenieur einem sagt, dass erst der goldene Neigungswinkel von 30 bis 40 Grad die höchsten Stromerträge bringt.
Doch in der Schweiz, die unter derselben Sonne liegt wie Deutschland, werden senkrecht aufgestellte Solarmodule gerade intensiv gefördert. Die Schweizer haben dafür 2023 sogar ihr Energiegesetz geändert. Und auch in Deutschland findet man immer mehr Projekte, die neue Solaranlagen nach Westen und Osten weisen lassen.
Wenn es jemanden gibt, der die Gründe dafür benennen kann, dann Peter Bendix, der bei Next2Sun die Forschung und den Einkauf leitet. Das Unternehmen gilt deutschlandweit als Marktführer bei vertikalen Fotovoltaikanlagen. »Es bringt der Energiewende nichts, in Spitzenzeiten noch mehr Strom zu produzieren«, sagt Bendix und plädiert dafür, neue Solaranlagen bevorzugt so aufzustellen, dass sie vor allem dann Strom produzieren, wenn die üblichen Anlagen den geringsten Output haben. Frühmorgens etwa, wenn die ersten Sonnenstrahlen über das Feld huschen. Oder am späten Nachmittag, wenn die letzten Strahlen flach übers Land fallen. Oder sogar: im Winter.
Bislang aber spielen die Senkrechtstarter europaweit eine Außenseiterrolle. Meist sind es Landwirte und Genossenschaften, die auf ihren eigenen Flächen klein dimensionierte Solarparks von zwei bis fünf Megawatt-Peak (MWp) errichten – in dieser Einheit messen Fachleute die Ausbeute, die eine Solaranlage maximal zu liefern im Stande ist. Das größte Projekt von Next2Sun ist zugleich das weltweit größte: Auf 30 Hektar Grünflächen des Frankfurter Flughafens entlang der Startbahn West baut das Unternehmen gerade eine 17,4 MWp-Anlage. Der Solarstrom soll die Klimabilanz des Flughafens verbessern.
Um den Ertrag zu maximieren, werden meist so genannte bifaziale Module verwendet, die die Sonnenenergie beidseitig, also auch mit ihrer Rückseite nutzen. Auf der Rückseite schrumpft zwar der Wirkungsgrad auf rund 90 Prozent des Werts der Vorderseite, dafür können die Betreiber zweimal am Tag Energie ernten, und das zu genau jenen Zeiten, zu denen der Strom am teuersten ist.

Fotovoltaik in der Früh- und Spätschicht
Das ist nämlich die Zeit, in der aktuell die Netze immer öfter an ihre Belastungsgrenzen stoßen, was dem rasanten Ausbau der Erneuerbaren zu verdanken ist. Ein Anteil von 30 Prozent Vertikalen an der Gesamtfotovoltaik wäre darum eine perfekte Ergänzung, um während des weiteren Ausbaus den Druck von den Netzen zu nehmen, sagt Andreas Schneider, der an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen zur Optimierung der bifazialen Solarmodule forscht. Zudem wären dann weniger Stromspeicher und Stromtrassen nötig.
Wie sich ein gewisser Anteil an Senkrechten in Deutschland für die Stromversorgung auswirkt, haben Sophia Reker und Jens Schneider von der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig und ihr Kollege Christoph Gerhards bereits im Jahr 2022 im Fachmagazin »Smart Energy« berechnet. Sie zeigen, wie viel gleichmäßiger die Stromproduktion über den Tag verteilt wäre, wenn es einen optimalen Mix aus vertikalen und geneigten Solarmodulen gäbe.
»Wir gestalten die Erzeugung flexibler«, erklärt Jens Schneider. »Wenn wir Solaranlagen weiter wie gehabt ausbauen, produzieren wir wie verrückt Überschüsse in den Zeiten, zu denen der Strompreis gering ist.« Mit Vertikalen im Verbund ist nicht nur der Tagesertrag ausgeglichener, er verteilt sich auch saisonal besser, was dazu führt, dass weniger fossile Kraftwerke die Lücken stopfen müssen. Das wiederum reduziert den Kohlendioxidausstoß des Gesamtsystems.
In ihrer Studie berücksichtigten sie sogar nach Nord-Süd orientierte Vertikalanlagen. Das sind die Spezialisten für die Wintersonne: Bei tiefem Sonnenstand und weniger Sonnenstunden produzieren sie in den Wintermonaten annähernd doppelt so viel Strom wie die nach Süden Geneigten und sogar mehr als doppelt so viel wie die Vertikalen in Ost-West-Ausrichtung.
Eine Anlage gezielt für Sonnenstrom im Winter zu optimieren, ist jedoch aktuell ein reines Nischenvorhaben. Auch die Schweizer Solarbranche hielt es lange mit den Murmeltieren und verschlief die kalte Jahreszeit. Doch das könnte sich bald ändern. Forschende der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) haben ebenfalls Berechnungen durchgeführt und kamen mit den Werten einer Fünfjahresstudie zu dem Ergebnis, dass der Ertrag im Frühjahr und den Wintermonaten verdoppelt, wenn nicht gar vervierfacht werden könnte. Seit 2022 liefert eine Anlage in den Schweizer Hochalpen an der Mauer eines Stausees mit einer Spitzenleistung von 2,2 Megawatt elektrischen Strom. Die dort in alpiner Höhe von 2500 Metern angebrachten Solarmodule nutzen nicht nur die tiefer stehende Wintersonne besser, sondern liegen zudem häufiger oberhalb der Wolkendecke. Wenn es schneit, rutscht der Schnee einfach von ihnen herunter und trägt dann noch als natürlicher Reflektor zu höheren Ausbeuten bei. Schnee sei gut für den Ertrag, schwärmt Peter Bendix von Next2Sun. Eine geschlossene Schneedecke, die das Licht reflektiert und so als Bonus auf die Paneele lenkt, könne den Ertrag um bis zu 30 Prozent steigern.
Kosten-Nutzen-Rechnung
Doch die hochwertigen bifazialen Module sind rund zehn Prozent teuer, hinzu kommt die geringere Jahresausbeute speziell in den Wintermonaten. Dem entgegen steht der finanzielle Mehrertrag von aktuell rund 15 Prozent durch den in den Randzeiten produzierten Strom, sagt Bendix. Wie rentabel die Module letztlich sind, hängt aber vom geografischen Aufstellungsort ab. Je nördlicher der Breitengrad, desto eher setzen sich die senkrechten gegen die geneigten Module durch. Immer spielen auch lokale Faktoren wie Wetter und Bodenbeschaffenheit in die Bilanz hinein. Und manch ein Anlagenbetreiber mag gar keine gute Südlage haben und trotzdem in Sonnenenergie investieren wollen, für ihn stellt sich die Frage gar nicht, ob es vielleicht besser wäre, geneigte Südanlagen aufzubauen.

Günstiger werden die senkrechten Anlagen auch dann, wenn auf bereits vorhandene Strukturen – wie zum Beispiel Zäune – zurückgegriffen werden kann. Das ist vor allem für Privatleute interessant. Und nicht zuletzt, haben senkrechte PV-Module weniger mit Überhitzung zu kämpfen, weil sie nicht so extrem der prallen Sonne ausgesetzt sind. Das erhöht ihren Wirkungsgrad – ganz ähnlich wie bei Solarzellen, die man auf dem Wasser platziert.
Einen offensichtlichen Nachteil aber haben die vertikalen Anlagen: Wer Reihen senkrechter Module aufstellt, muss Zwischenräume von zehn bis zwölf Metern einhalten. Andernfalls werfen die Module einen Schatten auf ihre hintere Nachbarreihe. Deshalb passen auf einen Hektar Land nur rund Anlagen mit einer Spitzenleistung von 0,3 bis 0,7 Megawatt. Setzt man stattdessen auf die klassischen, geneigten Module, sind je nach Lage zwischen 0,9 und 1,4 Megawatt möglich.
Landwirtschaft unter Strom
Doch dieser Nachteil wandelt sich bei näherer Betrachtung in eine Tugend, dann nämlich, wenn man die Fläche gleichzeitig anderweitig nutzt. Auf bis zu 90 Prozent des Bodens können beispielsweise weiterhin Nutzpflanzen angebaut werden. Von Agri-PV sprechen die Fachleute: Traktoren, Schlepper oder Mähdrescher fahren zwischen den Reihen problemlos hindurch.
Erste Erprobungen laufen bereits. Auf einem Feld in Donaueschingen steht seit 2020 eine vier MWp-Anlage, auf der nicht nur Solarstrom geerntet wird, sondern auch Heu und Silage. Zu hoch sollten die Pflanzen allerdings nicht wachsen, Mais und Sonnenblumen etwa könnten die Solarzellen verschatten, Weizen oder Erbsen passen dagegen gut. Eine »solare« Himbeerplantage auf sieben Hektar mit einem halben MWp Solarleistung hat ein Bauer in der Schweiz 2024 angelegt. Hier testet er selbst drei verschiedene Neigungswinkel.
Selbst Tierhaltung ist möglich. Zwischen den Modulen können nicht nur Schafe grasen, wie unter den üblichen geneigten Freiflächenanlagen auch, bei den vertikalen Anlagen klappt es ebenso mit größeren Tieren wie Rindern. »Die schubbern sich zwar mal an den Pfosten wie an einem Baum, aber die Module reißen die nicht um«, sagt Bendix. Die Pfosten sind allein schon wegen der höheren Windlast stabil aufgestellt. Den Beweis liefert eine Anlage im saarländischen Ottweiler. Seit Ende 2023 weiden dort Rinder neben Modulreihen mit 3,8 MWp.

Die landwirtschaftliche Nutzung profitiert noch in weiterer Hinsicht, davon ist Klaus Müller vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) überzeugt: Die aufrechten Module lassen den Wind nicht so stark über das Feld wehen, dadurch bleibt der Boden feuchter, besonders während der Frühjahrsdürre. Der Einfluss ist allerdings regional unterschiedlich. Im trockenen Brandenburg beispielsweise wäre Hilfe hochwillkommen gegen die Frühjahrstrockenheit und die andauernde Winderosion, die die kostbarsten Teile des Bodens fortweht. Am Bodensee hingegen drohen sogar Pilzinfektionen, wenn die Pflanzen nicht vom Wind getrocknet werden.
Noch lassen sich all diese Effekte nicht genau beziffern oder mit einem Preisetikett versehen. Ist der Wert vielleicht sogar eher im Artenschutz zu suchen? Wo Flächen wegen Fotovoltaik aus der intensiven Nutzung genommen werden, ist Platz für Ökosystemtypen, die selten geworden sind in Deutschland. Andererseits verprellt der Anblick schwarzblau-grün gestreifter Äcker womöglich Touristen.
Ein hoher Senkrechtenanteil verringert den Speicherbedarf
Einige dieser Fragen wollen Fraunhofer-Forschende am ISE in Freiburg beantworten. Lisa-Marie Bieber, Wissenschaftlerin in der Gruppe Agri-PV am ISE, leitet zwei Projekte, bei denen auf mehreren Hektar großen Ackerflächen im Saarland und in Baden-Württemberg auch vertikal ausgerichtete Solaranlagen für Agri-PV aufgestellt wurden. Verschiedene Ackerkulturen stehen in Gefäßen auf dem Solartestfeld vor den Modulen, um das Wachstum und den Ertrag kontrolliert zu untersuchen. Ob die Senkrechten weiter in ihrer Nische verharren, hänge laut Bieber von der Politik und den Rahmenbedingungen ab, die sie schafft. Gibt man der Agri-PV den Vorzug vor dem Biodiesel? Oder sollen stattdessen reine Landwirtschaftsflächen erhalten bleiben? Solche Abwägungen entscheiden über die Zukunft der Solarbauern.
In Modellrechnungen hat die Gruppe um Jens Schneider ermittelt, dass die Vertikalen sogar anteilsmäßig am meisten zu einer Versorgung Deutschlands mit Solarstrom beitragen sollten, wenn man auf teure Speichertechnologien verzichten möchte. Im hypothetischen Fall, dass keinerlei Batterien das Auf und Ab des Sonnenstroms abpuffern, wäre ein Anteil von 60 bis 80 Prozent aufrecht stehenden Modulen optimal, rechnen sie in der bereits erwähnten Studie in »Smart Energy« vor. Dann würden zehn Megatonnen Kohlendioxid pro Jahr mehr eingespart, als wenn ausschließlich geneigte Solaranlagen am (batterielosen) Netz hingen. Die senkrechten Anlagen würden dann in den Morgen- und Abendstunden die Strommenge produzieren, die andernfalls über Gaskraftwerke ausgeglichen werden müsste.
Rechnet man das Szenario inklusive Batteriespeichern durch, verringert sich der Klimavorteil der Senkrechtstarter. Trotzdem spart auch in diesem Fall ein Energiesystem mit hohem Vertikalenanteil noch so viel CO2, wie der deutsche Inlandsluftverkehr emittiert, nämlich gut zwei Megatonnen pro Jahr.
Die Sorge, dass dafür die Flächen fehlen, hat Jens Schneider nicht. Derzeit würden auf fast zwei Millionen Hektar in Deutschland Energiepflanzen wachsen. Die Energieausbeute der Solarmodule sei aber selbst bei der geringen Flächenbelegung der Vertikalen immer noch 20-mal höher.
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