Gewaltbereitschaft junger Männer: Männlichkeit in Gefahr
Brennende Barrikaden, Feuerwehrfahrzeuge, die mit Bierkisten und Feuerlöschern beworfen werden, Raketen, die auf Einsatzkräfte zielen: Die Szenen aus der Silvesternacht 2022/23 müssen mancherorts an Straßenschlachten erinnert haben. Mehr als 280 Angriffe auf Polizisten und Feuerwehrleute zählten die Behörden bis Mitte Januar, zahlreiche Personen wurden festgenommen.
Auf die Krawalle folgten bald schon populistische Poltereien: Zügig meldeten sich rechte Politiker mit rassistischen Zuschreibungen zu Wort, es ging um Vornamen und Vorfahren. »Mich wundert das nicht. Das ist ein ganz altes Diskursmuster, das in solchen Fällen immer wieder hervorgekramt wird«, sagt Susanne Spindler, Professorin für Soziale Arbeit und Migration an der Hochschule Düsseldorf. Weniger Gehör fanden jene Stimmen, denen es um die tatsächlichen Gründe für die Angriffe auf Einsatzkräfte der Polizei und Feuerwehr ging. »Was wir wirklich diskutieren müssen, ist die Frage von Gewalt im öffentlichen Raum und gerade auch Jugendgewalt«, findet Spindler. »Bei den Ereignissen sehen wir eine Gemeinsamkeit, und das ist die Männlichkeit der Beteiligten oder zumindest das, was wir als Männlichkeit zuschreiben.«
Ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt, dass Männer nicht nur an Silvester gewaltbereiter sind als Frauen. Im Jahr 2021 waren die Tatverdächtigen bei rund 75 Prozent aller dort erfassten Straftaten männlich, bei Gewaltdelikten waren es sogar 83 Prozent. Wie kommt das?
Männlichkeit ist schwer zu verdienen und leicht zu verlieren
Ein Erklärungsansatz für die hohe Gewaltbereitschaft vor allem junger Männer stammt aus der psychologischen Geschlechterforschung: Laut der Idee einer prekären oder fragilen Männlichkeit reagieren diese häufig mit Aggression, wenn sie ihren Status eines »richtigen Mannes« in Gefahr sehen. Gewalt sei demnach eine Methode, das bedrohte Geschlechterbild wiederherzustellen.
Die Theorie fußt auf der Annahme, dass Männlichkeit einem sozialen Status gleichkommt, den man sich erst erarbeiten muss. Männer sind bis heute in den meisten Kulturen mit mehr Macht ausgestattet als Frauen. Das hat allerdings einen Preis: Für Männer gelten strengere Regeln als für Frauen; sie stehen zwar über ihnen, können dafür aber auch tiefer fallen. Deshalb sei Männlichkeit »schwierig zu verdienen und leicht zu verlieren«, erklärt Jennifer Bosson von der University of South Florida, die den Fachbegriff der »prekären Männlichkeit« gemeinsam mit ihrem Kollegen Joseph Vandello geprägt hat.
Schon 1990 beschrieb der US-amerikanische Anthropologe David Gilmore in seinem Buch »Manhood in the Making« (in Deutschland 1991 unter dem Titel »Mythos Mann« erschienen), dass heranwachsende Jungen in vielen Kulturkreisen gewisse Rituale durchlaufen müssen, um zum Mann zu werden. Bei Frauen entscheide hingegen meistens die Biologie über ihre Weiblichkeit: Sie würden mit dem Beginn der Menstruation »automatisch« zur Frau.
Doch auch in Gesellschaften ohne formale Initiationsriten scheint Männlichkeit prekär. 2008 fragten Vandello und Bosson Studierende in den USA nach Gründen, wie Männer ihre Männlichkeit und Frauen ihre Weiblichkeit verlieren könnten. Den Befragten fiel es leichter, Erklärungen für Ersteres anzugeben: Arbeitslosigkeit etwa oder die Unfähigkeit, die Familie zu versorgen. Bei Frauen kamen sie stärker ins Grübeln und griffen eher auf Antworten zurück, die etwas mit Körperlichkeit zu tun hatten: eine Gebärmutterentfernung oder eine geschlechtsverändernde Operation.
Gewalt hilft, das bedrohte Selbstbild wieder geradezurücken
Gemeinsam mit Vandello und anderen Kollegen stellte Bosson die Theorie einer prekären Männlichkeit deshalb im Jahr 2009 auf die Probe: In einem von drei Experimenten sollten 45 junge Männer zunächst entweder die Haare eines weiblichen Puppenkopfes oder ein Seil flechten. Die Forscher filmten die Versuchspersonen dabei, angeblich um zu erforschen, wie sie die neuen Aufgaben lernen. Tatsächlich sollte das öffentliche Ausführen einer als weiblich angesehenen Tätigkeit den Probanden aber das Gefühl geben, sie würden an Männlichkeit einbüßen. Dass sich das beschriebene Versuchsprozedere dazu eignet, hatten zuvor bereits Befragungen und andere Studien ergeben.
Aber führt das – entsprechend der Theorie – auch zu aggressiverem Verhalten? Nach der Flechtaufgabe konnten sich die Studienteilnehmer entscheiden, ob sie lieber auf einen Boxsack schlagen oder ein Puzzle lösen wollten. Während sich nur jeder fünfte Mann aus der Seil-Gruppe für das Zuschlagen entschied, tat das jeder zweite Teilnehmer, der zuvor einer Puppe die Haare gemacht hatte. Zumindest in diesem Experiment mündete die Bedrohung des männlichen Selbstbilds demnach tatsächlich häufiger in Gewalt.
»Die Gesellschaft bietet Männern nur begrenzte Möglichkeiten zu beweisen, dass sie echte Männer sind«Jennifer Bosson, Psychologin
In einem ähnlich gelagerten Folgeversuch ging das Team um Bosson der Frage nach, ob man mit Gewalt auch seine Männlichkeit zurückerlangen kann. Diesmal sollten alle 40 Männer zuerst einen Zopf flechten und danach auf einen Sack einschlagen. Bei der Hälfte der Teilnehmer gaben die Versuchsleiter aber vor, der Boxsack sei wegen eines technischen Defekts nicht bedienbar. Diese Probanden hatten also keine Gelegenheit, ihre Maskulinitätseinbuße wieder auszugleichen. Bei der anschließenden Wort-Vervollständigungs-Aufgabe entschieden sich jene Männer, denen der Boxsack verwehrt wurde, häufiger für mit Angst assoziierte Wörter als die anderen Versuchspersonen. Sie ergänzten etwa eine Buchstabenreihe wie »Str_ _ _« eher zu »Stress« als zu »Straße«. »Diese Ergebnisse zeigen, dass Männer körperlich aggressive Zurschaustellungen als Mittel zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung ihres Männlichkeitsstatus verstehen, nutzen und davon profitieren, insbesondere wenn dieser Status in Frage gestellt wurde«, schlussfolgern die Studienautorinnen und -autoren in ihrem Fachartikel.
Die Experimente offenbarten aber auch, dass viele Teilnehmer sich selbst in statusgefährdenden Situationen gegen Gewalt entschieden. »Die Gesellschaft bietet Männern nur begrenzte Möglichkeiten zu beweisen, dass sie echte Männer sind«, sagt Bosson. »Trotzdem gibt es eine gewisse Flexibilität.« Männer können auch andere Mittel nutzen, um ihr Selbstbild wieder geradezurücken, indem sie etwa ihre Überlegenheit auf intellektuellem Weg zur Schau stellen oder andere ungefragt belehren. Gewalttätig werden laut der Soziologin Susanne Spindler in erster Linie diejenigen, die keinen anderen Ausweg sehen, zum Beispiel weil sie gesellschaftlich schlechter gestellt sind. »Wenn man überhaupt keine Möglichkeit hat, beruflich aufzusteigen, und gesellschaftliche Anerkennung fehlt, dann kann Männlichkeit als Ressource herangezogen werden«, erklärt sie. Manche Männer griffen demnach in Ermangelung von Alternativen auf physische Gewalt zurück.
Junge Männer lassen sich leichter verunsichern
Adam Stanaland und Sarah Gaither von der US-amerikanischen Duke University entdeckten 2021 noch einen weiteren Faktor, der erklären könnte, warum manche Männer auf Bedrohungen ihrer Geschlechterrolle mit Aggression reagieren und andere nicht. Sie luden 195 Studentinnen und Studenten für eine Studie ein, vorgeblich um das Verhältnis zwischen Gender und Gedächtnis zu untersuchen. Unter anderem sollten die Versuchspersonen ein Quiz zu Geschlechterfragen beantworten, das Fragen zu femininen und maskulinen Stereotypen beinhaltete. Die anschließende Auswertung war jedoch manipuliert: Eine Hälfte der Teilnehmenden bekam die Rückmeldung, sie hätten ähnlich wie andere Versuchspersonen desselben Geschlechts abgeschnitten. Die zweite Hälfte bekam das Feedback, ihr Antwortverhalten passe eher zu dem des anderen Geschlechts. Das sollte Männer in ihrer Männlichkeit und Frauen in ihrer Weiblichkeit verunsichern.
Anschließend sollten die Teilnehmenden (ähnlich wie in der Studie von Bosson und Vandello) mehrdeutige Buchstabenketten vervollständigen. So wollten Stanaland und Gaither möglichst unauffällig die Neigung zu gewaltgeladenen Gedanken erheben. Nur bei Männern führte die Bedrohung der Geschlechtsidentität auch zu einer gesteigerten »aggressiven Kognition«, so das Ergebnis. Allerdings hauptsächlich dann, wenn sie sich von gesellschaftlichen Erwartungen besonders stark unter Druck gesetzt sahen: Je mehr die männlichen Versuchsteilnehmer angaben, ihr Verhalten an gesellschaftlichen Normen auszurichten, desto stärker tendierten sie zu aggressiven Gedanken, wenn ihre Männlichkeit in Zweifel gezogen wurde.
Dieser Effekt ist auch vom Alter abhängig. In einem Folgeexperiment mit knapp 400 Männern zwischen 18 und 56 Jahren gaben die älteren Probanden an, weniger Druck zu verspüren, sich an Geschlechterbilder anpassen zu müssen, und neigten weniger zu aggressiven Gedanken. Stanaland und Gaither gehen davon aus, dass ältere Männer ein stabileres Selbstbild haben, das weniger »fragil« ist, und sie deshalb seltener gewalttätig werden.
Das deckt sich mit den Erkenntnissen über die Silvester-Randalierer. Die Berliner Polizei gibt etwa an, dass die allermeisten Täter jünger als 25 Jahre waren. Die Theorie einer prekären Männlichkeit könnte zudem erklären, warum solche Krawalle häufig im öffentlichen Raum stattfinden. »Männer können ihre Männlichkeit unter Beweis stellen, indem sie Dinge tun, die öffentlich sichtbar sind und auch riskant, so dass es die Möglichkeit des Scheiterns gibt«, sagt Bosson. Denn nur wenn andere bezeugen können, dass man sich besonders männlich verhalten hat, steigt das eigene Ansehen und damit die eigene Männlichkeit. Dank Smartphone-Kameras ist das heute einfacher denn je.
Die Theorie der fragilen Männlichkeit ist nicht unumstritten
Seit den ersten Experimenten 2009 haben zahlreiche Forschungsteams die Idee einer prekären Männlichkeit übernommen. So zeigen Studien bei Männern Veränderungen im Spiegel des Stresshormons Kortisol, wenn sie ihr Bild als echter Mann in Gefahr sehen. Eine Gruppe aus den USA stellte einen Zusammenhang fest zwischen einem bedrohten männlichen Selbstbild und der Neigung, Politiker zu unterstützen, die Stärke und Härte symbolisieren.
Trotzdem ist die Theorie nicht unumstritten. Joan Chrisler, bis 2019 am Connecticut College, monierte, dass Bosson und Vandello ein zu vereinfachtes Bild von Weiblichkeit zeichnen. Frauen könnten ebenso an Weiblichkeit einbüßen, etwa wenn sie ihre Rolle als Mutter nicht den Normen entsprechend erfüllen oder indem sie sich wider den gesellschaftlichen Erwartungen kleiden, argumentierte die Psychologin in einem Kommentar im Jahr 2013. Bosson und Vandello fühlten sich dabei missverstanden. In einer Replik schrieben sie: »Unser Argument ist eines der relativen und nicht der absoluten Prekarität. Dass Männer ihren Geschlechterstatus leichter verlieren können als Frauen, bedeutet nicht, dass Frauen niemals den Geschlechterstatus verlieren können.«
»Es gibt viele Variablen, die eine Rolle dabei spielen, wann und warum Männer sich aggressiv verhalten, und prekäre Männlichkeit ist nur eine dieser Variablen«Jennifer Bosson
Andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kritisierten, dass die Theorie der prekären Männlichkeit Gender mit sozialem Status verwechsle. Bedrohungen der Männlichkeit seien demzufolge nichts anderes als Einbußen an gesellschaftlichem Ansehen. Mehrere Studien scheinen diesen Eindruck jedoch zu widerlegen. Ein Team um Ekaterina Netchaeva von der Università Commerciale Luigi Bocconi in Mailand ließ Versuchspersonen Lohnverhandlungen nachspielen. Die Forschenden gaben vor, dass das Abschneiden in einem Test darüber entschied, ob die Probanden dabei in die Rolle des Vorgesetzten oder des Untergebenen schlüpfen mussten. Das sollten die Freiwilligen als Angriff auf ihren sozialen Status werten. Männer fühlten sich allerdings nur dann bedroht, wenn eine Frau die übergeordnete Rolle einnahm, wenn also sowohl der soziale Status als auch die Geschlechterrolle adressiert wurde.
Gesellschaftliche Normen müssen sich ändern
So oder so ist eine fragile Männlichkeit sicher nicht die einzige Ursache von Krawallen und Ausschreitungen. »Es gibt viele Variablen, die eine Rolle dabei spielen, wann und warum Männer sich aggressiv verhalten, und prekäre Männlichkeit ist nur eine dieser Variablen«, sagt Bosson. Um geschlechtsbezogene Gewalt zu vermindern, müsse man die gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit ganz allgemein verändern, schreibt eine Forschungsgruppe um den Gesundheitsforscher Paul Fleming von der University of Michigan. In dem Aufsatz aus dem Jahr 2015 schlägt sie dafür so genannte gender-transformative Programme vor. Diese würden Männern einen sicheren Raum bieten, um über Genderrollen nachzudenken und diese zu hinterfragen.
In den USA evaluieren Forschende der University Pittsburgh gerade die Effekte einer solchen Initiative, des Programms »Manhood 2.0« (Männlichkeit 2.0). Es ist an junge Männer aus vornehmlich ärmeren Communitys gerichtet und soll dabei helfen, die Gewalt in Paarbeziehungen sowie queerfeindliche Gewalt zu reduzieren. Die Teilnehmer kommen regelmäßig zusammen, um problematische Elemente traditioneller Männlichkeitsbilder zu verstehen und diese zu überwinden. Das passiert mit Hilfe von kunsttherapeutischen Ansätzen, Rollenspielen oder Diskussionsrunden. Erste Zwischenergebnisse sind allerdings ernüchternd.
»Wie zeigt man, dass man nicht schwach ist? Man verhält sich aggressiv!«Jennifer Bosson
Und noch ein weiteres Problem stellt sich: Wie erreicht man junge, gewaltbereite Männer überhaupt mit solchen Programmen? »Wir sollten über das Problem mehr im Kontext von Community-Arbeit nachdenken«, sagt Susanne Spindler. Das bestätigt auch eine Übersichtsstudie von 2020 zur Frage, was gender-transformative Programme erfolgreich macht. Die Forschungsgruppe um Jessica Levy von der Washington University in St. Louis kommt darin unter anderem zu dem Schluss, dass Interventionen, die das soziale Umfeld der Teilnehmenden miteinbeziehen, häufiger einen Wandel der Rollenbilder nach sich ziehen.
Auch Geschlechterungerechtigkeit in der Gesellschaft abzubauen hilft, wie ein internationales Forschungsteam um Bosson 2021 berichtete. 33 000 Studierende in 62 Ländern sollten angeben, ob sie finden, dass man sich Männlichkeit hart erarbeiten müsse und einfach verlieren könne. In Ländern mit höherer Geschlechtergerechtigkeit waren die Antworten zurückhaltender. Teilnehmende aus Deutschland stimmten der Aussage im Schnitt weder zu noch lehnten sie sie ab, in den USA ergab sich eine zaghafte Zustimmung und in Albanien bejahten die Probanden die Aussage recht deutlich.
Trotzdem herrschen auch in fortschrittlichen Ländern zum Teil noch strenge Anforderungen an Männer, wie 2022 eine weitere Studie von Bosson ergab. Den befragten Studierenden war es fast universell wichtiger, dass Männer keine Schwäche zeigen, als dass Frauen sich nicht dominant verhalten sollen – unabhängig von der Geschlechtergerechtigkeit in ihrem Herkunftsland. Auch das sei eine mögliche Ursache für Gewalt, glaubt Bosson. »Ich bin mir sicher, dass die Botschaft, Schwäche sei für Männer nicht in Ordnung, einen Teil der geschlechtsspezifischen Unterschiede erklären könnte«, sagt die Psychologin. »Denn wie zeigt man, dass man nicht schwach ist? Man verhält sich aggressiv!«
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