Schifffahrt: Freie Fahrt durchs ewige Eis
Es war einmal mehr ein Rekordsommer in der Arktis: Zum fünften Mal in Folge registrierten Polarforscher im vergangenen Jahr einen überdurchschnittlichen Rückgang des arktischen Meereises. Auf gerade einmal noch 4,2 Millionen Quadratkilometer erstreckte sich der Eisteppich Anfang September 2011 – ein absoluter Negativrekord seit Beginn der Aufzeichnungen. Verglichen mit dem Jahr 1972 betrug der sommerliche Eisrückgang 50 Prozent.
"Wir haben inzwischen sehr wenig Eis in der Arktis", so damals der Meereisexperte Rüdiger Gerdes vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. "Hinzu kommt, das nicht nur die Ausdehnung des Eises abnimmt, sondern auch die Eisdicke." Doch wo das Eis zurückgeht, öffnen sich neue Wege für den Menschen. Wie schon 2008 waren auch im vergangenen Sommer beide Nordmeerpassagen gleichzeitig eisfrei: Gerade einmal acht Tage benötigte die STI Heritage, ein unter Flagge der Marshallinseln fahrender Tanker, im Juli für eine Fahrt durch die Nordostpassage entlang der russischen Nordküste von Europa nach Asien. Und selbst die legendäre Nordwestpassage durch den kanadisch-arktischen Archipel – erst 1906 durch Norwegens Polarlegende Roald Amundsen überhaupt erstmals bezwungen – war im Sommer 2011 ohne schwimmende Eisbarriere.
Zwei Seewege, die Begehrlichkeiten wecken. Während Klimaforscher sorgenvoll den wachsenden Schwund der polaren Eiskappe verfolgen, wird in den Büros der Reedereien eifrig gerechnet, welches wirtschaftliche Potenzial in den möglichen neuen Schifffahrtsrouten steckt. So würde sich etwa der Weg von Hamburg ins japanische Yokohama beim Weg durch den hohen Norden um fast 40 Prozent verkürzen gegenüber der klassischen Route durch den Suez-Kanal. Bis zu 600 000 Dollar, so eine Modellrechnung der Beluga-Reederei aus dem Jahr 2009, ließen sich pro Fahrt einsparen, schickte man ein 20 000-Tonnen-Schiff durch eine eisfreie Nordpassage statt durch das ägyptische Wasserstraßen-Nadelöhr.
Begehrlichkeiten allerorten
Doch nicht nur der Frachtverkehr würde von dem prognostizierten Schwinden der polaren Eiskappe profitieren. "Es bieten sich ganz neue Möglichkeiten, die Arktis kommerziell zu nutzen", so AWI-Forscher Gerdes und denkt dabei etwa an die Tourismusbranche oder die Hochseefischerei. Vor allem dürften aber die Rohstoffschätze der Arktis locken. Schwindende Eismassen ermöglichen nicht nur den Zugriff auf Ressourcen im Meeresboden, auch die Erschließung von Rohstoffquellen an Land würde sich vereinfachen – etwa durch neue Schifffahrtswege zum Abtransport. Schon heute steuern im arktischen Sommer robuste Transportschiffe, für die Eisberge wie der Titanic-Versenker kaum mehr eine Gefahr bedeuten, Rohstoffzentren wie die weltgrößte Nickelmine im sibirischen Norilsk oder die riesige Zinkmine "Red Dog" an der Nordwestküste Alaskas an. Künftig dürfte sich dieser Schiffsverkehr im arktischen Sommer verstärken.
Eine Entwicklung, die Wissenschaftler wie Lawson Brigham mit Sorge beobachten. Der Professor der University of Alaska hat 1994 den arktischen Ozean an Bord des Eisbrechers Polar Sea durchquert. In einem Beitrag für das Magazin "Nature" berichtete er im vergangenen Oktober von seinen Erfahrungen – und warnte zugleich vor den Umweltrisiken durch die Zunahme des Schiffsverkehrs und den wachsenden Arktistourismus: "Niedrige Temperaturen und schlechtes Wetter stellen Schiffsrumpf und die Bordsysteme vor besondere Herausforderungen, es fehlt an genauen Karten und anderen Navigations- und Kommunikationssystemen. Zudem liegen diese Gewässer abseits aller marinen Infrastruktur wie Such- und Rettungsdiensten, die wir aus anderen Breiten kennen."
Welche Dimensionen eine Katastrophe in arktischen Gewässern annehmen kann, ist spätestens seit dem Unfall der "Exxon Valdez" im Jahr 1989 weltweit bekannt. Mehr als 30 000 Tonnen Öl traten nach der Havarie des Tankers im Prinz-William-Sund vor Alaskas aus, 2000 Kilometer Küste wurden verseucht, hunderttausende Tiere verendeten. Bis heute haben sich die Ökosysteme der Region von der Katastrophe nicht erholt.
Neben solch verheerenden Einzelfällen sind es aber auch die eher alltäglichen Umweltsünden, die Wissenschaftlern Kopfzerbrechen bereiten. Etwa der stark schwefelhaltige Schiffstreibstoff, dessen Abgase sich als dunkle Ablagerungen auf vorhandene Eisflächen legen und damit indirekt für eine Verstärkung der globalen Erwärmung sorgen könnten. Oder die mit zunehmender Befahrbarkeit wachsende Zahl von Touristen, deren Hinterlassenschaft den fragilen arktischen Ökosystemen zusetzen würde.
Bindende Vorschriften fehlen
Um künftige Szenarien möglichst realitätsnah entwickeln zu können, haben sich im vergangenen Jahr mehr als 20 Forschungseinrichtungen aus neun europäischen Ländern – darunter das AWI, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt sowie die Hamburgische Schiffbau-Versuchsanstalt – zu einem neuen Projekt zusammengefunden: ACCESS (Arctic Climate Change, Economy and Society) soll Antworten liefern auf Fragen wie: Welche Veränderungen bringen die aktuell beobachteten Klimaänderungen für Transport, Tourismus, Fischerei und Ressourcenausbeutung in der Arktis? Welche Risiken für Natur und Mensch bergen diese Entwicklungen? Und wie lassen sich diese Risiken begrenzen?
"Unsere Arbeit ist sehr gefragt", so AWI-Forscher Gerdes bei der Vorstellung des Projekts. "Es fällt auf, dass Interesse an Meereisvorhersagen inzwischen auch aus Sektoren kommt, von denen wir dies gar nicht gewohnt sind." Vorhersagen zur Meereisdicke, die die Forscher anhand von Satellitendaten und durch Dickenmessungen bei ihren regelmäßigen Arktisexpeditionen machen, werden nun auch von Wirtschaftswissenschaftlern oder Fischereiökonomen nachgefragt.
Neben der Wissenschaft ist aber ebenso die Politik gefordert, wenn es um die Sicherung der neu entstehenden Wasserwege geht. Noch immer sind die schon 2009 von der International Maritime Organization (IMO) der Vereinten Nationen verabschiedeten Vorschriften für Schiffe in polaren Gewässern nur Empfehlungen auf freiwilliger Basis. Nach derzeitigem Planungsstand sollen die Richtlinien, die unter anderem spezielle Baustandards für Schiffsrümpfe, eine besondere Ausbildung für Navigatoren sowie das Mitführen adäquater Sicherheitsausrüstung vorsehen, frühestens im kommenden Jahr bindende Vorschrift werden.
Doch selbst damit bliebe die Seefahrt in arktischen Gewässern ein hochriskantes Geschäft, wie Lawson Brigham ausführt: "Der Mangel an Infrastruktur wird auch weiterhin Sicherheit und Effizienz der arktischen Seefahrt beeinträchtigen." Zudem bliebe laut gängiger Klimamodelle der Arktische Ozean für den größten Teil des Jahres eisbedeckt, eine einfach zu befahrende Passage wird das Nordmeer also auch in absehbarer Zukunft nicht bieten "Internationale Kooperation, tiefere wissenschaftliche Erkenntnisse und große Investitionen sind nötig, wenn wir die maritime Arktis sicher entwickeln wollen."
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben