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Gedächtnis: Bereits Einjährige speichern Erlebtes ab

Schon viel früher als gedacht formen Kleinkinder Erinnerungen an Erlebtes, wie eine Hirnscanstudie anhand der Aktivität des Hippocampus zeigt. Das Gehirn kann sie später nur nicht mehr abrufen.
Ein Baby liegt auf dem Bauch auf einem weißen Bettlaken und betrachtet ein aufgeschlagenes Buch mit kontrastreichen schwarz-weißen geometrischen Mustern. Das Buch zeigt Kreise und Quadrate, die für die visuelle Stimulation von Babys geeignet sind.
Können Babys sich merken, welche Bilder man ihnen zeigt? Eine fMRT-Studie deutet darauf hin, dass das episodische Gedächtnis mit einem Alter von etwa einem Jahr damit beginnt, Erinnerungen zu speichern.

Zum Zeitpunkt der Geburt ist das Gehirn von Babys noch nicht voll entwickelt – und es ist unklar, ab wann Kinder dazu fähig sind, sich Erlebtes zu merken. Die meisten Menschen können sich an keine Ereignisse aus ihren ersten drei Lebensjahren erinnern. Dass ihre Neurone in dieser Zeit trotzdem vielleicht schon solche Gedächtnisinhalte abspeichern, zeigt eine Studie von Fachleuten um Nicholas Turk-Browne von der Yale University. Mit Hilfe von Hirnscans wiesen sie bereits bei Einjährigen charakteristische Aktivitäten im Hippocampus nach, der eine zentrale Rolle für das Gedächtnis spielt.

Die Arbeitsgruppe interessierte, wie die so genannte frühkindliche Amnesie zu Stande kommt. Kann das heranreifende Gehirn in den ersten Lebensjahren tatsächlich keine Erinnerungen abspeichern oder können wir in jener Zeit angelegte Gedächtnisinhalte später nur nicht mehr abrufen? Um diese Frage zu beantworten, untersuchte das Team 26 Probandinnen und Probanden im Alter von 4 bis 25 Monaten mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT). Die wachen Kleinkinder bekamen in einem fMRT-Scanner eine Minute lang hintereinander mehrere Bilder gezeigt. Im Anschluss gab es Bilderpaare zu sehen, die jeweils aus einem bereits gezeigten und einem neuen Motiv bestanden. Falls die Kinder dem bekannten Bild mehr Aufmerksamkeit schenkten, werteten die Forschenden das als Anzeichen dafür, dass sie sich an den Inhalt erinnerten.

Gedächtnisinhalte trotz späterer Amnesie

Bei den mindestens zwölf Monate alten Teilnehmern fanden sich in den dabei angefertigten Aufnahmen der Hirnaktivität Muster, die auf ein Abspeichern von Erinnerungen hindeuteten: Wenn die Kleinen in der ersten Runde ein Bild sahen, das sie später bei den Bildpaaren bevorzugt anschauten, leuchtete ein Teil des Hippocampus im Scan hell auf. Diese anfängliche Aktivität fehlte, wenn sie im Anschluss beiden Bildern gleich viel Aufmerksamkeit schenkten. Daraus schlossen Turk-Browne & Co, im ersteren Fall sei das Gesehene ins Gedächtnis eingeschrieben worden. Dass sich Erwachsene nicht mehr an ihre frühkindlichen Erlebnisse erinnern, liege also nicht an einer Unfähigkeit des Gehirns, diese abzuspeichern, postulieren sie. Vielmehr seien eher nachfolgende Prozesse dafür verantwortlich, etwa die Konsolidierung oder der Abruf der Erinnerungen.

In einem begleitenden Kommentar schreiben die nicht an der Studie beteiligten Neurowissenschaftler Adam Ramsaran und Paul Frankland, besonders beeindruckend sei, wie es dem Team gelang, Hirnscans wacher Kleinkinder anzufertigen. Das ist nämlich äußerst schwierig, da man im Scanner recht lange stillhalten muss. Frühere Experimente betrachteten deshalb oftmals schlafende Kinder, was die Aussagekraft einschränkt.

Jan Born, Direktor des Tübinger Instituts für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie, nennt als ebenfalls nicht beteiligter Forscher die Methodik sogar »eine Meisterleistung wissenschaftlichen Arbeitens«. Außerdem betont er gegenüber dem Science Media Center, dass sich die Daten mit denen aus Tierexperimenten decken. »Die aktuelle Studie zeigt auf beeindruckende Weise, dass Kleinkinder wahrscheinlich bereits ab dem ersten Lebensjahr den Hippocampus für die Enkodierung erlebter Episoden nutzen«, fasst er die Ergebnisse zusammen, und fügt hinzu: »Sie lösen aber nicht das Rätsel, warum diese frühkindlichen Ereignisse wieder aus dem episodischen Gedächtnis verschwinden.«

Obgleich es weitere Studien an Tieren und Menschen braucht, um dem genauen Mechanismen der frühkindlichen Amnesie auf die Schliche zu kommen, gibt es nun klare Hinweise darauf, dass wir wohl schon viel früher als angenommen Erinnerungen formen. Dies unterstreicht für Born die Wichtigkeit, auch kleinste Kinder vor traumatischen Erfahrungen zu schützen. »Denn das kindliche Gehirn nimmt solche Erfahrungen sehr wohl auf, und diese Erfahrungen wirken dann ein Leben lang«, gibt der Neurowissenschaftler zu bedenken.

  • Quellen
www.science.org/doi/10.1126/science.adt7570

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