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Epidemiologie: Frustrierende Ursachenforschung

Immer wieder alarmieren Meldungen über ungewöhnliche Häufungen seltener Krankheiten die Bevölkerung. Die möchte - zu Recht - die Ursache dieser Cluster ergründen. Diese lässt sich jedoch nur in Ausnahmefällen finden.
Kernkraftwerk
Es ist eine unendliche Geschichte, die vor inzwischen 15 Jahren um das Kernkraftwerk Krümmel begann. In den umliegenden Orten, der Samtgemeinde Elbmarsch, beunruhigte eine auffällige Häufung von kindlicher Leukämie die örtliche Bevölkerung. Ein möglicher Verursacher war schnell ausgemacht: Der Verdacht fiel auf die nahe gelegenen Geesthachter Atomanlagen mit dem Kernkraftwerk Krümmel und dem GKSS-Forschungszentrum.

Gleich zwei Expertenkommissionen – eine aus Niedersachsen, die zweite aus Schleswig-Holstein – widmeten sich dann 14 Jahre lang dem Problem. Das Ergebnis: Die Experten der schleswig-holsteinischen Gruppe zerstritten sich schließlich dermaßen, dass ein Teil der Kommission im Herbst 2004 unter Protest zurücktrat und es nicht einmal einen gemeinsam verfassten Abschlussbericht gab. Die eine Seite bescheinigt den Atomanlagen eine weiße Weste und führt die Leukämie-Häufung auf puren Zufall zurück, die andere macht einen vertuschten Atomunfall in den 1980er Jahren dafür verantwortlich.

Ursache im Dunkeln

Längst nicht jeder Cluster sorgt für einen solchen Wirbel, doch problematisch sind sie alle. Zwar weiß man, dass bestimmte Krankheiten, vor allem seltene wie Kinderkrebs, immer wieder in ungewöhnlichen Häufungen in einem engen örtlichen und zeitlichen Rahmen auftreten. Warum das so ist, liegt aber im Dunkeln. Einerseits könnten lokale Anlagen wie Kernkraftwerke, Sondermülldeponien oder Hochspannungsleitungen möglicherweise die Ursache der Erkrankungen sein, andererseits könnten diese auch rein zufällig bedingt sein. Denn die Statistik besagt lediglich, dass in einem bestimmten Zeitraum mit einer gewissen Anzahl von Fällen zu rechnen ist – diese müssen aber nicht zwangsläufig gleichmäßig im Raum verteilt sein, sondern können sich eben auch zufälligerweise an einem bestimmten Ort häufen.

So beginnen die Probleme bei der Suche nach der Ursachen eines Clusters schon bei der Definition desselben: Üblicherweise wird in einem bestimmten Raum, etwa einer Gemeinde, eine Häufung einer bestimmten Krankheit festgestellt. "Sobald man die Grenzen anders setzt, kann der Cluster verschwunden sein", sagt Hajo Zeeb von der Arbeitsgruppe Epidemiologie und International Public Health der Universität Bielefeld, "das muss einem klar sein."

Der texanische Scharfschütze

Dieses Problem ist auch bekannt als das "Texas-sharp-shooter-Phänomen". Einem amerikanischen Witz zufolge ballert ein texanischer Scharfschütze auf eine Wand, geht anschließend hin und zeichnet um die größte Ansammlung von Einschusslöchern eine Zielscheibe. Mit diesem Werk rühmt er sich bei seinen Freunden als hervorragender Scharfschütze. Ähnlich vorsichtig wie die Behauptung des Texaners über seine Schussleistungen müssen auch Meldungen von Clustern beurteilt werden, denn auch hier wäre es möglich, dass als erstes eine Ansammlung von Krankheitsfällen ins Auge springt, die erst anschließend eingekreist wird, weil zufälligerweise zum Beispiel ein Kernkraftwerk daneben liegt.

Natürlich bereitet eine ungewöhnliche Häufung von Krankheitsfällen der lokalen Bevölkerung Sorgen – deswegen müssen gemeldete Cluster grundsätzlich ernst genommen werden. Peter Kaatsch, Leiter des Deutschen Kinderkrebsregisters in Mainz, warnt jedoch vor blindem Aktionismus: "Wir sagen immer: Wenn man einen Cluster hat, bloß nicht in Panik verfallen, sondern sachlich überlegen!" Denn die meisten gemeldeten Cluster halten einer ersten Überprüfung nicht stand. Oftmals werden mehrere verschiedene Krankheitsbilder zusammengefasst, oder es zeigt sich im Vergleich mit Kontrollgemeinden oder durch eine genaue Analyse des zeitlichen Verlaufs, dass zwar eine Häufung vorliegt, sie aber innerhalb der normalen statistischen Schwankungsbreite bleibt.

Lässt sich jedoch – wie es beispielsweise in Krümmel der Fall ist – eine reale Häufung bestätigen, dann muss nach möglichen Ursachen gefahndet werden. Ein schwieriges Unterfangen! Denn manchmal lässt sich überhaupt kein möglicher Auslöser finden, in anderen Fällen kommen gleich etliche in Betracht: So kann eine Sondermülldeponie hunderte verschiedener giftiger Substanzen enthalten, von denen eine Vielzahl mit der beobachteten Krankheit in Zusammenhang stehen könnte. Oder die Suche wird – wie beim Kinderkrebs – dadurch erschwert, dass gar nicht klar ist, welche auslösenden Faktoren in Betracht kommen. "Die Ursache von Krebs im Kindesalter kennt man nicht", sagt Kaatsch. "Beim Krebsgeschehen spielen viele Faktoren eine Rolle, von denen einige nicht die Krankheit auslösen, sondern lediglich ihre Entstehung vorantreiben."

Nur wenige Fälle

Bei einem sorgfältigen Vorgehen in der Cluster-Analyse setzen sich deswegen zunächst Experten zusammen und sammeln in einem großen Brainstorming alle in Frage kommenden Ursachen, die dann der Reihe nach auf einen Zusammenhang zum beobachteten Cluster untersucht werden.

Dabei müssen sich die Epidemiologen mit dem nächsten großen Problem herumschlagen: Ein Cluster besteht immer nur aus sehr wenigen Fällen. Im Fall Krümmel handelt es sich um nunmehr 15 Fälle in 15 Jahren – damit zwar deutlich mehr als statistisch zu erwarten wäre, für eine saubere statistische Bearbeitung aber eben doch viel zu wenig. "Das ist eine der Hauptschwierigkeiten, einen Cluster sinnvoll zu untersuchen", sagt Zeeb.

Meist gelingt das auch nicht. Die amerikanischen Centers for Disease Control (CDC) haben 108 Krebs-Cluster, die in einem Zeitraum von zwanzig Jahren auftraten, auf mögliche Ursachen hin untersucht: Das Ergebnis: Für keinen Cluster ließ sich eindeutig ein Grund finden. "Im Großen Ganzen ist Cluster-Forschung ernüchternd", meint Zeeb. "Wir Epidemiologen schlagen uns nicht um Cluster-Forschung, weil wir wissen, dass diese Untersuchungen häufig nicht zum Erfolg führen."

Cluster als Frühwarnung

Dennoch ist sie wichtig – nicht zuletzt wegen des starken öffentlichen Interesses, das Cluster-Meldungen immer wieder hervorrufen. Deswegen gab die CDC im Jahr 1990 umfangreiche Richtlinien heraus, nach denen Cluster bearbeitet werden sollen. Auch in Europa misst man Clustern große Bedeutung bei: Die EU startete 1999 ein Aktionsprogramm zur Verbesserung der Situation seltener Krankheiten, dessen einer Teilbereich zum Ziel hat, die Frühwarnung und rasche Reaktion auf Cluster-Meldungen zu optimieren.

Zwar kann ein beobachteter Cluster für sich genommen aus statistischen Gründen nur sehr schwer untersucht werden, doch es dient oftmals als Auslöser, eine groß angelegte epidemiologische Studie durchzuführen. So erhält man größere Fallzahlen, die zudem mit Kontrollen verglichen werden können, und auch Störfaktoren können in einer solchen Untersuchung besser ausgeschlossen werden. Auf diese Art und Weise kann dann auch recht zuverlässig ein Zusammenhang zwischen einer Krankheit und einem ursächlichen Faktor gefunden beziehungsweise widerlegt werden.

Druck der Öffentlichkeit

Unabhängig von den statistischen Schwierigkeiten stehen die Epidemiologen bei der Untersuchung von Clustern stets auch vor dem Problem, den Fall und seine Bearbeitung der Öffentlichkeit transparent und nachvollziehbar darzulegen. Der Bevölkerung sollte von vorneherein klar gemacht werden, dass einer statistischen Untersuchung eines Clusters deutliche Grenzen gesetzt sind. Außerdem ist es gut möglich, dass überhaupt keine Ursache gefunden wird.

So ist die Kommunikation keine leichte Aufgabe. Denn wegen der starken emotionalen Beteiligung der betroffenen Bevölkerung wünscht sich diese klare Aussagen über den Auslöser, den sie gerne beseitigt wissen möchte. Doch wird die Bevölkerung gut in den Prozess eingebunden, ist sie zwar letztendlich vielleicht auch nicht glücklich, wenn keine Ursache gefunden wird, immerhin hat sie aber das Gefühl, dass das Bestmögliche getan wurde.

Eine optimale Vorgehensweise, die auch den Zweifeln der Bevölkerung ausreichend Rechnung trägt, kann vielleicht verhindern, dass der Fall – wie es in Krümmel passiert ist – übermäßig ausufert, selbst dann, wenn die Untersuchung – wie es die Regel ist – entweder gar nicht bestätigen kann, dass überhaupt ein Cluster vorliegt oder zu dem unbefriedigenden Ergebnis kommt: Es ist eben keine eindeutige Ursache für die Erkrankungshäufung festzustellen.

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