Kernkraft: Wie sieht es 5 Jahre nach dem GAU in Fukushima aus?
Am 11. März 2011 erschütterte eines der stärksten je aufgezeichneten Erdbeben den Nordosten Japans und löste einen Tsunami mit verheerenden Folgen aus. Diese doppelte Naturkatastrophe verwüstete ganze Landstriche entlang der Nordostküste Japans und kostete knapp 20 000 Menschen das Leben. Die Flutwelle des Tsunamis erreichte eine Höhe von mehr als zehn Metern. Sie drang stellenweise bis zu zehn Kilometer tief ins Landesinnere ein und überspülte nicht nur zahlreiche Ortschaften, sondern auch die Maschinenhäuser des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi.
Die Reaktorblöcke 4 bis 6 waren zu diesem Zeitpunkt nicht in Betrieb. Die ersten drei Blöcke jedoch liefen im Regelbetrieb und befanden sich gerade im Status der Notabschaltung, die bei schweren Erdbeben automatisch ausgelöst wird. Trotz der heftigen Erdstöße hatten die sechs Reaktorblöcke von Fukushima Daiichi das Beben dank ihrer erdbebensicheren Bauweise gut überstanden. Japans Maßstäbe sind hier weltweit führend – unter anderem deshalb, weil das Land in einer tektonisch sehr aktiven Region liegt und leichtere Erdbeben ständig auftreten.
Beim Schutz vor Tsunamis haben der Kraftwerkbetreiber Tepco und die staatlichen Aufsichtsbehörden jedoch sträflich versagt. Trotz wiederholter Kritik von Wissenschaftlern und Energieexperten war die Anlage ursprünglich lediglich gegen 3,1 Meter hohen Wellen gesichert. Erst 2007 wurde dann eine 5,7 Meter hohe Schutzmauer fertig gestellt, die sich letztlich aber als völlig unzureichend erwies. In Fukushima erreichte der Tsunami eine Höhe von 14 Metern. Das ist zwar außerordentlich hoch, aber historisch nicht völlig ungewöhnlich: In den letzten 500 Jahren sind in Japan 16 Tsunamis mit einer Höhe von über zehn Metern dokumentiert. Das Tsunamirisiko haben außer den Kraftwerksbetreibern aber auch fast alle Küstenorte unterschätzt – mit Ausnahme der Kleinstadt Fudai, die den Tsunami dank ihres großen Stauwehrs unbeschadet überstanden hat.
Monatelange aktive Kühlung notwendig
Nach einer Notabschaltung entwickeln die stark radioaktiven Abfallstoffe der Kernspaltung in den Brennelementen weiterhin große Hitze und benötigen deshalb über Monate eine aktive Kühlung. Da nach dem Erdbeben und dem Tsunami die Verbindung zum Stromnetz abgebrochen war und die Reaktoren selbst keinen Strom mehr erzeugten, sind große Diesel-Notstromaggregate für die Stromversorgung vorgesehen, um die Wasserpumpen für die Kühlung in Betrieb zu halten. Diese befanden sich jedoch tief gelegen in den Maschinenhäusern und wurden durch den Tsunami zerstört. Hätte man die Aggregate weiter oben im Gelände oder sicher verbunkert untergebracht, wäre die Nuklearkatastrophe zu verhindern gewesen. So aber kam es zum gefürchteten "station blackout", dem Totalausfall der Stromversorgung.
In den Blöcken 1 bis 3 fiel die Kühlung aus, was zu einer Kernschmelze führte. Block 4 war in Revision; dafür war sein Abklingbecken bis an den Rand des Zulässigen mit abgebrannten Brennelementen gefüllt. Knallgas, das sich bei der Kernschmelze in Block 3 gebildet hatte, sammelte sich in Block 4 und führte zu einer Explosion, die das Dach wegsprengte und das Abklingbecken beschädigte. Ähnliche Explosionen gab es auch in den Blöcken 1 bis 3. Moderne Schutzsysteme, die verhindern, dass der Wasserstoff sich innerhalb der Gebäude mit Luftsauerstoff vermischt, hätten diese Explosionen verhindern können. Block 5 und 6 überstanden die Naturkatastrophe ohne größere Schäden.
Zwar hatten alle Blöcke eine Schutzhülle, ein so genanntes Containment, um radioaktive Substanzen bei einem Unfall einzuschließen. Durch die mehrfache Kernschmelze stieg der Druck im Inneren der Reaktoren jedoch gefährlich an, weshalb die Techniker wiederholt Druckventile öffnen mussten, um die Anlage zu entlüften. Dank günstiger Windverhältnisse gelang es ihnen, dies meist bei ablandigem Wind zu tun, so dass rund 80 Prozent der freigesetzten Radioaktivität im Pazifik landete, wo sie enorm verdünnt wurde. Ein 40 Kilometer langer Streifen Richtung Nordwesten erhielt jedoch ebenfalls höhere Dosen. Die 20-Kilometer-Zone rund um Fukushima ist dauerhaftes Sperrgebiet. Durch Erdbeben und Knallgasexplosionen wurden die Gebäude mitsamt Sicherheitsbehältern so beschädigt, dass radioaktive Substanzen in Luft und Wasser gelangen konnten. Schutzhüllen sollen die weitere Kontamination verhindern, können aber nur die oberirdischen Teile abdecken. Nach Tschernobyl ist Fukushima die zweitschwerste zivile Nuklearkatastrophe: ein "Super-GAU", eingestuft in der höchsten von sieben Kategorien als "katastrophaler Unfall".
Neue technische Lösungen zur Bergung erforderlich
Experten schätzen die freigesetzte Radioaktivität auf gut zehn Prozent des Werts von Tschernobyl. Dort hatte der havarierte Reaktorkern tagelang unter freiem Himmel gebrannt, nachdem das Reaktordach bei einer unkontrollierten Leistungsexplosion weggesprengt wurde. Dabei verteilte sich ein großer Teil des radioaktiven Inventars über eine große Fläche – mit dem Wind sogar bis nach Westeuropa. In Fukushima hingegen sind vor allem leichtflüchtige Substanzen wie radioaktives Jod und Zäsium freigesetzt worden. Schwerere radioaktive Substanzen wie Strontium und Plutonium sind nur in geringen Mengen ausgetreten. Der allergrößte Teil des stark strahlenden radioaktiven Abfalls befindet sich noch in den Reaktorkernen, die allerdings geschmolzen sind. Ihre Bergung wird die zuständigen Ingenieure und Techniker noch vor große Probleme stellen: Denn die Strahlung in der Nähe der geschmolzenen Reaktorkerne ist so stark, dass die Elektronik der eingesetzten Roboter nach kurzer Zeit ihren Dienst versagt. Hier werden neue technische Lösungen gefragt sein, denn selbst die robuste Weltraumelektronik ist nicht für eine solche Strahlenbelastung ausgelegt. Der Rückbau der havarierten Reaktoren wird noch Jahrzehnte dauern.
Das Abklingbecken von Block 4 ist bereits geräumt; die Brennelemente befinden sich in einem ebenerdigen Kühlbecken. Messungen zufolge haben die meisten Brennstäbe die Explosionen und herabfallende Trümmer überstanden und sind noch intakt. 2017 sollen die Brennelemente aus dem Abklingbecken von Block 3 geborgen werden, das Jahr darauf die aus den anderen beiden Blöcken. Die Bergung der geschmolzenen Reaktorkerne ist ab dem Jahr 2020 geplant.
Infolge der Reaktorkatastrophe mussten rund 160 000 Menschen ihre Wohnungen verlassen. Zehntausende von ihnen leben immer noch in Behelfsunterkünften. Zwar sind einige Gebiete am Rand der Sperrzone wieder freigegeben, doch trauen sich viele nicht, in ihre Häuser zurückzukehren, da die Angst vor der Strahlung und das Misstrauen gegenüber den Regierungsbehörden groß sind. Einige Experten fordern auch eine wesentlich kleinteiligere Untersuchung der Kontamination als bislang – insbesondere zum Schutz von Kindern, die besonders empfindlich auf radioaktive Strahlung reagieren. Mitunter haben kleine Flächen eine Kontamination deutlich oberhalb der Grenzwerte, während das Umland keine starke Belastung aufweist.
Die beiden radioaktiven Elemente mit dem größten Gefährdungspotenzial, die bei dem Unglück frei wurden, sind Jod-131 und Zäsium-137. Jod-131 hat nur eine Halbwertszeit von acht Tagen und verschwindet deshalb nach einigen Monaten praktisch vollständig. Es sammelt sich in dieser Zeit jedoch stark in der Schilddrüse an und kann vor allem bei Kindern das Risiko für Schilddrüsenkrebs erhöhen. Zäsium-137 hat eine Halbwertszeit von 30 Jahren und verbleibt deshalb über Generationen im Boden, von wo es seinen Weg in die Nahrungskette findet und zu erhöhter Strahlenbelastung führt.
Bei den Notfallmaßnahmen in und um Fukushima gab es Licht und Schatten. Die schnelle Evakuierung der Zivilbevölkerung – insbesondere angesichts der verheerenden Naturkatastrophe – und den großen Einsatz der Arbeiter am Kraftwerk haben Experten weltweit als vorbildlich beurteilt. Auf der anderen Seite stehen eine äußerst unzureichende Informationspolitik, anfänglich unerklärliche Mängel bei der Schutzkleidung sowie zahlreiche technische Pannen, vor allem beim Umgang mit den großen Mengen an Wasser, die durch Risse in den Reaktorgebäuden dringen, dabei kontaminiert werden und durch das Erdreich in den Pazifik fließen. Tepco versucht, mit Hilfe eines riesigen Gefriersystems eine unterirdische Barriere aus Eis mit über einem Kilometer Länge einzurichten, um den Zustrom an Grundwasser deutlich zu reduzieren. Doch gab es hierbei schon zahlreiche technische Probleme.
Psychische Schäden als gravierende Folge
Die Bewertung der Strahlenbelastung infolge der Reaktorkatastrophe ist umstritten und Gegenstand einer wissenschaftlichen Kontroverse. Verschiedene Forscher gehen mit unterschiedlichen Fragestellungen an diese Themen heran, verschiedene Institute besitzen ihre je eigene Informationspolitik, und verschiedene Behörden folgen unterschiedlichen Aufträgen. Dennoch herrscht über einige wichtige Punkte unter Experten Einigkeit.
Aus Tschernobyl hat man gelernt, dass psychische Schäden mit zu den schwerwiegendsten Folgen von Nuklearunglücken gehören. Angst vor Strahlung, Verlust von Heimat, Arbeit und sozialem Gefüge, damit einhergehende Depressionen, Posttraumatische Belastungsstörung, Alkoholismus und Drogenkonsum sowie Suizide zählen zu den Begleitern solcher Katastrophen und betreffen Zigtausende. Staatliche und auch wissenschaftliche Stellen verschließen vor diesen Konsequenzen häufig die Augen. Hinzu kommen wirtschaftliche Probleme der gesamten Region, weil sich landwirtschaftliche Güter nur noch schlecht vermarkten lassen oder der Tourismus ausbleibt.
Starke akute Strahlenschäden, an denen in Tschernobyl sogar Arbeiter gestorben sind, traten in Fukushima nicht auf – auch wenn einige Arbeiter Dosen oberhalb der Notfallgrenzwerte ausgesetzt waren. Rund 180 Kraftwerksangestellte und Mitarbeiter anderer Firmen erhielten eine Strahlendosis über 100 Millisievert, was mit einer leichten, aber messbaren Erhöhung des Krebsrisikos einhergeht. Sechs Arbeiter erhielten eine Dosis oberhalb der 250 Millisievert, die laut japanischen Gesetzen der Grenzwert für Einsatzkräfte im Notfall sind. Einer Studie zufolge ist unter all diesen Betroffenen mit zwei bis zwölf Todesfällen durch strahleninduzierten Krebs zu rechnen.
Für die Zivilbevölkerung hingegen gestalten sich exakte Aussagen schwierig. Denn bei sehr kleinen Dosen lässt sich das minimale zusätzliche Krebsrisiko durch radioaktive Strahlung statistisch nur sehr schwer nachweisen. Man sieht einem Krebs seine Ursache auch nicht ohne Weiteres an. Anders gesagt: Wenn in einer Bevölkerung von zehn Millionen Menschen über viele Jahre rund drei Millionen ohnehin an Krebs sterben, liegt eine Zunahme um 5000 Menschen im Rahmen der statistischen Schwankungen und lässt sich deshalb nicht als strahleninduziert erkennen. Aktuell bemühen sich Forscher, Strahlenmarker zu identifizieren, um teilweise doch Ursachen von Krebs ausfindig zu machen.
Die einzige Krebsart, bei der ein eindeutig statistisch messbarer Anstieg zu erwarten ist, ist der Schilddrüsenkrebs. Radioaktives Jod-131 sammelt sich dort bevorzugt an und sorgt für eine starke lokale Dosis, die vor allem für Kinder gefährlich ist. Warum gerade Kinder so stark betroffen sind, ist bislang nicht klar verstanden. Vermutlich sind bei Kindern noch bestimmte Zelltypen aktiv, die besonders strahlenempfindlich sind.
Woher kommt der Krebs?
In der Präfektur Fukushima haben staatliche Stellen deshalb ein großes Screening aufgesetzt, wobei man bereits mehr als 100 Fälle von Schilddrüsenkrebs gefunden hat. Das heißt allerdings nicht, dass all diese Fälle durch radioaktive Strahlung hervorgerufen wurden. Die meisten von ihnen sind langsam wachsende Tumoren, die schon länger vorliegen und erst durch das Screening zu Tage getreten sind.
"Glücklicherweise lässt sich Schilddrüsenkrebs gut therapieren, so dass nur mit wenigen Todesfällen zu rechnen ist"Christian Kaiser
"Glücklicherweise lässt sich Schilddrüsenkrebs gut therapieren, so dass nur mit wenigen Todesfällen zu rechnen ist", sagt Christian Kaiser vom Institut für Strahlenschutz am Helmholtz-Zentrum München, der mit seiner Arbeitsgruppe zu diesen Themen forscht. "Auch dank der schnellen Evakuierung rechnen wir mit sehr viel weniger Fällen als in Tschernobyl, wo einige tausend Fälle von Schilddrüsenkrebs aufgetreten sind." In der Präfektur Fukushima erwartet Kaiser über die kommenden Jahrzehnte einen Anstieg von fünf bis zehn Prozent dieser seltenen Krebsart. Die Betroffenen müssen aber nach der Therapie für den Rest ihres Lebens Medikamente einnehmen, um den Funktionsverlust der Schilddrüse auszugleichen.
Bei Brustkrebs und Leukämie erwarten Experten der Weltgesundheitsorganisation WHO ebenfalls ein um nur wenige Prozentpunkte erhöhtes Erkrankungsrisiko für Bewohner, die als Kinder in den betroffenen Gebieten gelebt haben. Die große Unbekannte beim Strahlenrisiko ist jedoch die Wirkung kleiner Strahlendosen. Allgemein geht man davon aus, dass Strahlenbelastungen in der Größenordnung der natürlichen Hintergrundstrahlung von etwa zwei Millisievert pro Jahr nur sehr geringe Risiken mit sich bringen. Im Bevölkerungsdurchschnitt kommen jährlich noch einmal zwei Millisievert durch medizinische Anwendungen wie Röntgen hinzu. Es ist aber auf Grund der schwierigen statistischen Lage nicht klar, ob es eine untere Grenze gibt, ab der Strahlung ungefährlich ist. Neuere Studien weisen darauf hin, dass auch geringe Strahlendosen nicht ganz ungefährlich sind. Strahlenforscher gehen deshalb von dem so genannten "Linear no-threshold"-Modell aus, dem zufolge das Krebsrisiko linear mit der Strahlenbelastung ansteigt und keine untere Grenze hat.
Multipliziert man nun diesen Risikofaktor einer sehr geringen Strahlendosis mit einer sehr großen Bevölkerung, ergibt dies eine nicht geringe Anzahl von strahleninduzierten Krebsfällen, die allerdings in der Statistik der Gesamtbevölkerung praktisch nicht auffällt. UNSCEAR, der von Kernkraftwerke betreibenden Staaten dominierte wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation), erklärt in seinem Fukushima-Report, für die Gesamtbevölkerung wären keine "erkennbaren gesundheitlichen Folgen" zu erwarten.
Alex Rosen von der Organisation "Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges" (IPPNW) kritisiert diese Aussagen jedoch als Verschleierung der tatsächlichen Gefährdung. Rechnet man die von UNSCEAR ermittelte Kollektivdosis für die japanische Bevölkerung mit dem international anerkannten Risikofaktor aus dem BEIR-VII-Bericht hoch, so wären über die nächsten Jahrzehnte rund 4000 bis 17 000 zusätzliche strahlenverursachte Erkrankungsfälle zu erwarten (IIPNW-Report: PDF). Ungefähr die Hälfte dieser Krebsfälle verläuft erfahrungsgemäß tödlich. Den Risikofaktor hat eine Arbeitsgruppe der amerikanischen Akademie der Wissenschaften in jahrelangen Studien ermittelt.
Legt man der Rechnung die Dosisangaben der WHO zu Grunde, die all ihre Veröffentlichungen betreffend Radioaktivität mit der Internationalen Atomenergie-Organisation abstimmen muss, so liegen die Zahlen noch höher. "Je nach Risikofaktor und Faktor für die Lebenszeitdosis sind dann grob gerundet zwischen 20 000 und 60 000 Erkrankungsfälle zu erwarten", sagt Henrik Paulitz von der IPPNW. Dabei könnte das reale Risiko sogar noch ein gutes Stück größer sein. "Die Gesamtmenge an freigesetzten radioaktiven Partikeln liegt vermutlich deutlich über den von UNSCEAR und WHO verwendeten Daten", so Rosen. Die zusätzliche Strahlenbelastung außerhalb der direkt betroffenen Gebiete liegt jedoch unterhalb der natürlichen Strahlendosis und stellt für jeden Einzelnen nur ein sehr geringes Risiko dar. Wie man diese Erkenntnisse nun ethisch und politisch einordnet, ist allerdings keine Sache der Wissenschaft, sondern der Zivilgesellschaft.
Zukunft der japanischen Nuklearwirtschaft
Im Rahmen neuer Sicherheitsrichtlinien hat die japanische Regierung nach dem Unglück sämtliche Kernreaktoren stillgelegt – allerdings nur vorübergehend. In der traditionell auf Ausgleich bedachten japanischen Zivilgesellschaft ist seit der Reaktorkatastrophe wachsender Widerstand gegenüber der als obrigkeitsstaatlich empfundenen Anordnung zur Fortsetzung der bisherigen Atompolitik zu spüren. Die jahrzehntelangen Verquickungen zwischen Energiewirtschaft und Politik haben sich nicht zuletzt in einer Informationspolitik niedergeschlagen, die Konzerne und Minister in der Bevölkerung viel Ansehen und Vertrauen gekostet hat. In Japan gibt es ein treffliches Wort für den Wechsel aus einer politischen Position in einen lukrativen Posten der Privatwirtschaft, wie er auch in unseren Breiten unter Amtsträgern immer populärer wird: "Amakudari" heißt wörtlich "vom Himmel herabsteigen".
Auch wegen ungewöhnlich massiver Bürgerproteste hat ein Richter der zuständigen Präfektur Fukui die Wiederinbetriebnahme des Kernkraftwerks in Ooi verweigert – und das, obwohl die japanische Atomaufsichtsbehörde grünes Licht gegeben hatte. Die Blöcke 3 und 4 in Ooi waren als letzte nach dem Unglück von Fukushima noch bis 2013 am Netz. Für die Wiederinbetriebnahme des Kernkraftwerks Takahama hatte derselbe Richter zunächst einer Unterlassungsklage der örtlichen Bevölkerung stattgegeben. Fukui ist die Präfektur mit der höchsten Anzahl an Kernkraftwerken in Japan. Der Richter Hideaki Higuchi, bis dahin wenig bekannt, schuf damit einen juristischen Präzedenzfall in Japan und galt plötzlich als Hoffnungsträger der Anti-Atom-Bewegung. Kraftwerksbetreiber Kansai Electric warf Higuchi mangelnden technischen Sachverstand vor und kritisierte seine Entscheidungen als "völlig inakzeptabel". Higuchi entgegnete, es gäbe "keine rationale Basis, zu sagen, ein Erdbeben jenseits der Sicherheitsstandards werde nicht eintreten." Dies wäre eine optimistische Sicht der Dinge. Higuchi wurde während des Verfahrens an das Familiengericht Nagoya versetzt, von wo aus er das Verfahren allerdings zu Ende führte. Ein späteres Urteil wies die Unterlassungsklage zurück. Block 3 in Takahama hat bereits den Betrieb aufgenommen, Block 4 läuft gerade wieder an.
Sonst sind zurzeit lediglich zwei Blöcke des Kernkraftwerks Sendai im Süden der japanischen Insel in Betrieb. Weitere 25 Reaktoren sind bei den Behörden zur Wiederinbetriebnahme angemeldet, müssen aber noch den Weg durch die behördlichen und juristischen Instanzen gehen. Von ehemals 54 Kernreaktoren in Japan, die vor dem Unglück von Fukushima ein Drittel der Stromproduktion ausmachten, sind einschließlich der vier havarierten Blöcke elf endgültig außer Betrieb. Insgesamt könnten also 43 Reaktoren weiter Strom erzeugen. Ein neuer Block ist derzeit in Bau, verzögert sich aber auf Grund gestiegener Sicherheitsregulierungen.
Japan hat bislang die Lücke bei der Stromversorgung, die die Abschaltung der Kernkraftwerke hinterlassen hat, vor allem durch den erhöhten Import von Kohle und Gas ausgeglichen. Politik und Industrie sehen diese starke Abhängigkeit von teuren Energieimporten skeptisch und favorisieren deshalb eine Wiederaufnahme der nuklearen Stromerzeugung. Experten erwarten mittelfristig auch eine Zunahme des Anteils an regenerativen Energien. Diese spielen in Japan derzeit noch eine völlig unbedeutende Rolle, obwohl das Land geografisch gesehen eigentlich keine schlechten Voraussetzungen bietet.
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