News: Für Wale und Robben ist das Meer nicht blau
Bei der Untersuchung der Augen verschiedener Meeressäuger stießen Leo Peichl vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Günther Behrmann vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremen und Ronald Kröger vom Department of Zoology der Lund University in Schweden auf ein überraschendes Defizit: Allen 14 untersuchten Arten aus den Gruppen der Zahnwale (Delphine), der Seehunde und der Seelöwen fehlen die blauempfindlichen Zapfen; in ihrer Netzhaut finden sich nur die Grünzapfen und die für das Dämmerungssehen wichtigen Stäbchen-Photorezeptoren. Der Defekt wurde immuncytochemisch mit Antikörpern gegen die Sehfarbstoffe (Opsine) der Zapfen nachgewiesen. Diese Methode erlaubt die Untersuchung konservierter Augen von gestrandeten oder in Zoos gestorbenen Meeressäugern.
Peichl, Behrmann und Kröger vermuten aufgrund ihrer taxonomisch breiten Stichproben, dass alle Wale und Robben den Blauzapfen-Defekt haben. Wale und Robben sind stammesgeschichtlich nicht miteinander verwandt. Die Wale stammen von landlebenden Paarhufern ab, ihr nächster terrestrischer Verwandter ist das Flusspferd. Die Robben haben sich aus landlebenden Raubtieren (Carnivoren) entwickelt, zu ihren nahen Verwandten zählen zum Beispiel Wolf, Frettchen und Flussotter. Bei all diesen terrestrischen Verwandten fand die Forschergruppe Blauzapfen. Der Verlust der Blauzapfen bei den marinen Vertretern dieser beiden so unterschiedlichen Säugergruppen spricht für eine evolutionäre Anpassung (konvergente Evolution) an den marinen Lebensraum und damit für einen adaptiven Vorteil des Defekts. Rätselhaft wird die Sache allerdings durch das Phänomen, dass bei der Ausbreitung von Licht in klarem Wasser, zum Beispiel im offenen Meer, die langwelligen Anteile bevorzugt gestreut werden und deshalb mit zunehmender Wassertiefe die kurzwelligen, blauen Anteile immer mehr dominieren – ein Effekt, den jeder Taucher kennt. Unter diesen Bedingungen erscheint der Verlust der Blauzapfen als denkbar schlechte Anpassung. Selbst wenn Farbensehen (auf der Basis von mindestens zwei Zapfentypen) in einer monochrom blauen Unterwasserwelt nicht besonders nützlich ist, so sollte doch zur Kontrast- und Helligkeitswahrnehmung der Zapfentyp erhalten bleiben, der das vorhandene Licht am besten nutzen kann. So besitzen viele Fische, die in vergleichbaren Lichtverhältnissen leben, Blauzapfen.
Die Forscher nehmen an, dass der Verlust der Blauzapfen in einer frühen Phase der Evolution aufgetreten ist, als die ersten Vertreter der Wale und Robben auf dem Weg zurück ins Meer zunächst nur küstennahe Gewässer bewohnten. Dort ist das Licht unter Wasser wegen des höheren Gehaltes an organischen und anorganischen Trübstoffen langwelliger und enthält nur geringe Blauanteile, und der Verlust "untätiger" Blauzapfen wäre eine vorteilhafte oder zumindest unschädliche Entwicklung. Der Wegfall des Farbensehens könnte die visuelle Informationsverarbeitung im Gehirn vereinfacht haben, wodurch Kapazitäten für andere sensorische Leistungen frei wurden. So haben viele Wale ein Echoortungssystem entwickelt, und Robben können die von Beutefischen erzeugten Wasserbewegungen mit ihren Schnurrhaaren wahrnehmen. Für die Arten, die auch heute noch küstennah leben, wäre der Blauzapfenverlust weiterhin vorteilhaft. Die Arten hingegen, die im Verlauf der Evolution das offene Meer erobert haben, würden nun wahrscheinlich von Blauzapfen profitieren, doch der in der Evolution eingetretene genetische Defekt ist wohl so gravierend, dass er sich nicht rückgängig machen lässt. Peichl meint zusammenfassend: "Vielleicht ist ja die Farbenblindheit der Wale und Robben der Preis, den diese Säugetiere für den Zugang zu der Fülle an Nahrungsmitteln in den Meeren zahlen mussten."
Die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) ist eine vorwiegend von Bund und Ländern finanzierte Einrichtung der Grundlagenforschung. Sie betreibt rund achtzig Max-Planck-Institute.
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